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"Es darf keine Lücken geben!" – Wie rechte Akteur*innen Einfluss auf die Soziale Arbeit nehmen

Die Sozialarbeitsforscher*innen Christoph Gille, Christine Krüger und Júlia Wéber haben sich intensiv mit rechten Strömungen in der Sozialen Arbeit befasst. Im Interview berichten sie über Ergebnisse ihrer Forschungen. Sie zeigen auf: Rechte Akteur*innen versuchen vermehrt Einfluss zu nehmen - ob als Mitarbeiter*innen oder Außenstehende. In besonderer Weise scheint dies dort zu gelingen, wo es an sozialer Infrastruktur und Demokratieförderung mangelt.

Sozial.de: Christoph Gille, Christine Krüger und Júlia Wéber, Sie forschen gemeinsam zur sogenannten ‚extremen Rechten‘ und ihrem Einfluss auf die Soziale Arbeit. Ganz grundsätzlich: Was müssen wir uns unter der extremen Rechten vorstellen?

Christoph Gille: Es gibt eine ganze Reihe von Begriffen, die in diesem Zusammenhang eine Rolle spielen und genutzt werden, z. B. Rechtsextremismus, völkischer Autoritarismus oder auch Rechtspopulismus. Alle diese Begriffe bezeichnen jeweils spezifische Positionen, die auch in unserer Forschung eine Rolle spielen. Die ‚extreme Rechte‘ nutzen wir als einen Sammelbegriff für verschiedene ideologische Strömungen. Wir verstehen darunter mit Fabian Virchow alle Positionen, die davon ausgehen, dass soziale Hierarchien unausweichlich, natürlich oder erstrebenswert sind. Das beinhaltet kulturrassistische Positionen, also solche die davon ausgehen, dass Kulturen gefestigte Container darstellen, die auch mit unterschiedlichem Wert versehen werden. Solche Denkweisen findet man häufig im Rechtspopulismus oder bei der so genannten Neuen Rechten. Aber natürlich fallen auch Positionen darunter, die explizit auf völkische Ideologien oder den Nationalsozialismus Bezug nehmen. Alle diese Positionen beinhalten autoritäre und menschenfeindliche Vorstellungen, die einer demokratischen und menschenrechtlichen Ausrichtung Sozialer Arbeit entgegenstehen.

Wenn die extreme Rechte autoritäre und menschenfeindliche Positionen vertritt, wie kann es dann überhaupt zu Einflussnahmen in der Sozialen Arbeit kommen? Eigentlich sollte doch Ziel sein, dass Soziale Arbeit sich vehement gegen genau solche Positionen stellt. 

Christine Krüger: Zum einen gehen wir davon aus, dass sich gesellschaftliche Entwicklungen immer auch in der Sozialen Arbeit niederschlagen. Soziale Arbeit ist ja nichts Statisches, sondern nimmt die gesellschaftlichen Ideen auf und bringt sie mit hervor. Wenn also zurzeit extrem rechte Positionen gesellschaftlich wieder an Sichtbarkeit und Einfluss gewinnen, dann kann das an der Sozialen Arbeit nicht spurlos vorbeigehen. Das zeigen auch die vielen exemplarischen Berichte, die den Fachkräften in der Sozialen Arbeit zum Thema einfallen. Solche Erfahrungen versuchen wir in der empirischen Forschung systematisch zu erfassen.

Zum anderen kann die extreme Rechte die Soziale Arbeit aber auch gezielt für das nutzen, was sie als Kampf um den vorpolitischen Raum bezeichnet: Wenn man ein vermeintlich unpolitisches Kinderfest veranstaltet, ein unliebsames Jugendzentrum diskreditiert, die Sozialarbeiterin einer interkulturellen Beratungsstelle bedroht oder Gehsteigberatungen vor einer Schwangerschaftsberatungsstelle durchführt, dann versuchen Akteur*innen der extreme Rechten, gesellschaftliche Meinungen und Haltungen, kurz die gesellschaftliche Stimmung insgesamt zu beeinflussen. Wer hier an Popularität gewinnt, so die Überzeugung, wird eines Tages auch die politische Macht in Händen halten. Für diesen so genannten Kampf um die Straße und die Köpfe bietet die Soziale Arbeit ausgezeichnete Anschlussmöglichkeiten, bzw. dafür wird sie von den extremen Rechten genutzt – auch wenn sie in ihrer internationalen Definition auf die Prinzipien soziale Gerechtigkeit, die Menschenrechte, die gemeinsame Verantwortung und die Achtung der Vielfalt beruft.

Wie genau sind Sie bei Ihrer Forschung vorgegangen?

Christoph Gille: Im Jahr 2019 habe ich gemeinsam mit Birgit Jagusch von der Technischen Hochschule Köln die Einflussnahmen in Nordrhein-Westfalen untersucht. Zur Zeit führen wir die Studie in ähnlicher Anlage an der Hochschule Neubrandenburg in Mecklenburg-Vorpommern durch. In beiden Bundesländern haben wir zunächst Fachkräfte aus den verschiedenen Regionen der Bundesländer und aus verschiedenen Arbeitsfeldern mit einem Fragebogen befragt. In NRW konnten wir rund 380, in Mecklenburg-Vorpommern ca. 250 Fragebögen in die Auswertung einbeziehen. In einem zweiten Schritt haben wir dann in 24 bzw. 21 vertiefende Expert*inneninterviews mit Fachkräften aus unterschiedlichen Feldern und Regionen geführt. Die Ergebnisse dieser Befragungen wurden durch weitergehende Recherchen zu den geschilderten Ereignissen und einer Dokumentenanalyse über die rechten Einflussnahmen auf den politischen Raum ergänzt.

Sie unterscheiden drei Varianten rechter Einflussnahme in der Sozialen Arbeit: Die Organisation eigener Angebote, externe Einflussnahmen und interne Praktiken. Verstörend wirken auf den ersten Blick vor allem die internen Praktiken, da hier Kolleg*innen am Werk sind, die im System Sozialer Arbeit integriert zu sein scheinen – sie sind gewissermaßen unter uns. Gibt es Beispiele, über die Sie berichten können?

Júlia Wéber: Es gibt tatsächlich viele Beispiele, die verstörend wirken und insbesondere eine Gefährdung für die Adressat*innen von Sozialer Arbeit darstellen können. Vereinzelt berichten Fachkräfte von Personen, die sich gefestigten rechtsextremen Szenen zuordnen lassen, und in der Sozialen Arbeit tätig sind, z. B. in Kindertagesstätten, im Bereich Betreutes Wohnen oder auch in der Migrationssozialarbeit. Selbst dann, wenn von solchen Personen keine direkten Diskriminierungen ausgehen, verunsichert ihre Anwesenheit die Kolleg*innen und Adressat*innen enorm.

Viel häufiger kommen aber andere Phänomene vor – vor allem die offenen oder verdeckten Diskriminierungen von Adressat*innen, ohne dass die entsprechenden Personen einer organisierten rechten Szene zugehörig sind. Fachkräfte berichten z. B. darüber, wie Ressourcen der Arbeitsförderung mit rassistischen Begründungen vorenthalten werden, Jugendliche mit einer bestimmten Nationalität aus Angeboten der Jugendarbeit ausgeschlossen werden oder ein rechtsextremes Symbol im öffentlichen Bereich einer Wohneinrichtung toleriert wird. Eine besondere Rolle spielen aber auch diskriminierende Sprache und diskriminierende Äußerungen im institutionellen Alltag. Sehr viele Fachkräfte berichten darüber, dass es hier in den letzten Jahren zu Verschiebungen gekommen ist. Heute würden von Kolleg*innen viel häufiger rassistische Vorurteile geäußert oder Abwertungen von z. B. arbeits- oder wohnungslosen Personen vorgenommen als noch vor einigen Jahren. Es ist die Alltäglichkeit diskriminierender Sprache und die Normierung von sprachlicher Ab- und Ausgrenzung, in denen die Haltung dieser Fachkräfte zum Ausdruck kommt. Insbesondere für die oftmals vulnerablen Adressat*innengruppen der Sozialen Arbeit ist das schwer zu fassen oder gar nachzuweisen.

Mit Nordrhein-Westfalen und Mecklenburg-Vorpommern haben Sie für Ihre Forschung zwei sehr unterschiedliche Bundesländern ausgewählt. Inwieweit sehen Sie Unterschiede und Gemeinsamkeiten hinsichtlich der Vorgehensweise der rechten Akteur*innen im Vergleich der beiden Länder?

Christoph Gille: Die Strategien gleichen sich in den beiden Bundesländern. Es sind vor allem bestimmte Themen, die extrem rechte Akteur*innen über die Soziale Arbeit immer wieder setzen wollen. Das sind zum einen rassistische Argumentationen, die alle Arbeitsfelder betreffen und insbesondere auch aus dem politischen Raum erfolgen. Immer wieder werden hier soziale Konflikte rassifiziert – es sind die vermeintlich anderen, die Schuld an einem Problem haben. Gemeinsam ist solchen Angriffen auch eine populistische Argumentation: Die da oben kümmert eben nicht, was hier los ist, auch die Bosse der Wohlfahrtsverbände denken alleine an ihr Geld und nicht mehr an die Sorgen der Leute. Beliebt ist auch der Vorwurf des Linksextremismus oder das Anführen einer politischen Neutralität: Wenn sich Einrichtungen für die Gleichwertigkeit von Menschen einsetzen, seien es geflüchtete oder queere Personen, wenn sie besonders für die Rechte von Kindern oder Frauen einstehen, werden sie mit solchen Scheinargumenten zum Teil massiv diffamiert.

Besonders alarmierend sind in beiden Bundesländern die zum Teil erheblichen Bedrohungen und die gewaltsamen Übergriffe, denen Einzelpersonen und Einrichtungen der Sozialen Arbeit ausgesetzt sind. Auch hier sind es vor allem solche Personen und Organisationen, die sich ganz besonders für Demokratie oder die Menschenrechte einsetzen, die im Fokus stehen. Es erfolgen Angriffe mit Buttersäure auf Jugendzentren, Einbrüche in Migrationsberatungsstellen, es werden Autoscheiben von Leitungspersonen eingeschlagen, Drohbriefe mit privaten Angaben versendet oder es versammeln sich rechtextreme Personen vor Einrichtungen und bauen so ein Bedrohungsszenario auf. Solche Angriffe sind sowohl für Fachkräfte wie für die Adressat*innen Sozialer Arbeit bedrohlich und sorgen dafür, dass die Schutzräume, die Soziale Arbeit eigentlich bieten soll, verloren gehen. Klar, solche Vorfälle geschehen nicht überall und ständig, sie sind aber eben auch nicht selten. Wir sehen an den immer wieder ähnlichen Ereignissen, dass die Soziale Arbeit ein Ziel systematischer Angriffe ist.

Welche Antworten kann die Soziale Arbeit auf rechte Einflussnahmen geben? Welche Strategien gibt es bereits in der Praxis? 

Christine Krüger: Für Mecklenburg-Vorpommern konnten wir feststellen, dass Fachkräfte in allen Landkreisen des Bundeslandes rechte Aktivitäten als wachsendes Problem deuten, ebenso gibt es ein hohes Bewusstsein der Fachkräfte für diese Aktivitäten. Aber obwohl wir hier Einflussnahmen in einer noch höheren Dichte und Qualität feststellen als in Nordrhein-Westfalen, werden institutionalisierte Antworten doch noch seltener gegeben als in NRW. Dabei kommt es aus unserer Sicht gerade darauf an, solche Angriffe institutionell und strukturell zu beantworten.

Die befragten Fachkräfte benennen sehr deutlich, welche individuellen und strukturellen Gegenstrategien die Soziale Arbeit entwickeln muss oder zum Teil auch heute schon mit hohem Einsatz verfolgt, um rechten Einflüssen zu begegnen. Das umfasst zunächst einmal das Wissen um Strukturen, Symbole, Akteur*innen und Strategien der extremen Rechten. Hier muss noch mehr Aufklärung stattfinden. Fortbildungen und Unterstützung der Mobilen Beratungen gegen Rechts können hier ebenso helfen, wie gute Broschüren, Websites, und das Sammeln und Dokumentieren von Vorfällen in zentralen Stellen, zum Beispiel bei den Wohlfahrtsverbänden.

Zweitens gilt es, sich klar und institutionell gegen menschenfeindliche und autoritäre Ereignisse zu positionieren. Das geschieht im besten Fall schon vor einem möglichen Ereignis, also in Leitbildern, öffentlichen Stellungnahmen, sichtbaren Zeichen an den Einrichtungen oder auch in den Arbeitsverträgen.

Christoph Gille: Drittens gilt es mögliche Angriffe zu entindividualisieren: Angriffe auf ein einzelnes Jugendzentrum, eine einzelne Beratungsstelle oder eine einzelne Fachkraft sind eben keine Angriffe auf dieses eine Zentrum, diese eine Beratungsstelle oder diese eine Fachkraft. Sie sind Angriffe auf alle Jugendzentren, alle Beratungsstellen oder alle Fachkräfte der Sozialen Arbeit, die sich für die Demokratie und die Gleichwertigkeit der Menschen einsetzen. Deswegen gilt es Bündnisse zu bilden und sich an Bündnissen zu beteiligen, die das deutlich machen und Angriffe gemeinsam abwehren.

Viertens sehen wir auch Beispiele, wie von rechten besetzte Raum wieder zurückgewonnen werden können: Ganz buchstäblich, wenn ein rechtes Zentrum von der Gemeinde gekauft und wieder in die Hände demokratisch legitimierter Jugendarbeit gegeben wird, wenn eine Selbsthilfegruppe von extrem rechten Personen aufgelöst und ein Alternativangebot entwickelt wird, wenn ein Gemeindetreff von engagierten Sozialarbeiter*innen in einem Viertel installiert wird, in dem vorher eine rechte Gruppierung für Unterhaltung und Gemeinschaft sorgt.

Júlia Wéber: Schließlich, und das sehen wir sehr gut in Mecklenburg-Vorpommern: Es darf keine Lücken geben! Sei es in der Jugendarbeit, der Unterstützung von Erwerbslosen oder in der Kinderbetreuung. Denn in diesen Lücken können sich extrem rechte Akteur*innen recht einfach ausbreiten. Die beste Strategie ist also: Für eine soziale Infrastruktur zu sorgen, die finanziell abgesichert ist, die Demokratieförderung betreibt und sich an den Menschenrechten ausrichtet. Es sind Kooperationen und lokale Partnerschaften in den einzelnen Regionen und Landkreisen von Sozialer Arbeit mit Akteur*innen der organisierten Zivilgesellschaft sichtbar, die von einer wehrhaften Demokratie zeugen. Diese Bündnispartnerschaften müssen durch verlässliche und kontinuierliche Ressourcen gestärkt werden. Dafür braucht die Soziale Arbeit Unterstützung seitens der Politik und unterstützende wohlfahrtsstaatliche Strukturen.

Aus den Befunden leiten wir auch Konsequenzen für das Studium der Sozialen Arbeit ab. Auf die künftigen professionellen Herausforderungen im Umgang mit Rechtsextremismus muss bereits im Studium theoretisch und auch handlungsorientiert besser eingegangen werden. Die Forschungsergebnisse machen Potenziale von Professionalisierung auf verschiedenen Ebenen deutlich: künftige Sozialarbeiter*innen müssen in der Lage sein, rechte Einflüsse zu erkennen und zu benennen, eine klare professionsethische Haltung zu vertreten und im Arbeitsalltag in der Lage sein, Gegenstrategien zu entwickeln. Letztlich ist also eine weitere Professionalisierung Sozialer Arbeit, sowohl in der Praxis als auch in der akademischen Ausbildung gefordert.

Das Interview führte Sebastian Hempel.


Die Studie mit den Ergebnissen aus Nordrhein-Westfalen kann hier heruntergeladen werden. Die Ergebnisse aus Mecklenburg-Vorpommern (hier geht es zur Projektseite) werden auf einem Online-Fachtag am 17.6. vorgestellt und danach im Verlag Beltz Juventa publiziert. Dort geben die Autor*innen der Studien dieses Jahr auch einen Sammelband zur extremen Rechten in der Sozialen Arbeit heraus, in dem sowohl Grundlagen als auch verschiedene Handlungsfelder beleuchtet werden.

Zu den Personen:

Dr. Christoph Gille ist Vertretungsprofessor an der Hochschule Koblenz. Er arbeitet und lehrt schwerpunktmäßig zu Theorien, Sozialpolitik, trans- und internationaler Sozialer Arbeit sowie zu Fragen von Armut und Arbeitslosigkeit.

Prof.‘in Dr. Christine Krüger ist Professorin für Sozialwissenschaften/Qualitative Forschung an der Hochschule Neubrandenburg. Sie arbeitet zu Fragen der Professionsentwicklung, zu Diversität und Intersektionalität sowie Konzepten des Theorie-Praxis-Transfers innerhalb der Sozialen Arbeit.

Prof.‘in Dr. Júlia Wéber ist Professorin für Migrationsgesellschaft und Demokratiepädagogik an der Hochschule Neubrandenburg. Ihre Lehr- und Forschungsschwerpunkte sind: Soziale Arbeit in der Migrationsgesellschaft, Soziale Arbeit und Demokratie(pädagogik), Internationale Soziale Arbeit und biografische Übergänge junger Menschen von der Schule in die Arbeitswelt.

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