Johannes-Wilhelm Rörig © Christine Storck

Sexueller Missbrauch: Bekämpfung muss nationale Aufgabe werden

Der Unabhängige Beauftragte der Bundesregierung für sexuellen Kindesmissbrauch, Johannes-Wilhelm Rörig, zieht zehn Jahre nach dem Missbrauchsskandal am Berliner Canisius-Kolleg eine ernüchternde Bilanz. Angesichts unverändert hoher Fallzahlen fordert er Politik, Gesellschaft und Schulen, aber auch alle Bürger*innen, dazu auf, den Kampf gegen den systematischen sexuellen Missbrauch von Kindern endlich als eine nationale Aufgabe zu verstehen.

Die dramatischen Missbrauchsfälle in Lügde und Bergisch Gladbach, die im vergangenen Jahr ans Licht der Öffentlichkeit gelangten, haben wieder einmal auf erschütternde Weise deutlich gemacht, dass der sexuelle Missbrauch von Kindern und Jugendlichen offenbar täglich und in unserer Nachbarschaft stattfindet. Dass Täter ihre schrecklichen Taten jahrelang unbehelligt auf einem frei zugänglichen Campingplatz ausüben konnten, wie dies in Lügde der Fall war, kann hierbei nicht allein als ein Versagen von Politik oder Jugendämtern gesehen werden, wie dies vor allem in der Berichterstattung über den Fall in Lügde immer wieder betont wird.

Rörig fordert Pakt gegen Missbrauch

Auch aus diesem Grund erinnerte Johannes-Wilhelm Rörig zehn Jahre nach der Aufdeckung des Missbrauchsskandals am Berliner Canisius-Kolleg daran, dass die Bekämpfung von sexuellem Kindesmissbrauch eine Angelegenheit ist, die eben nicht allein den Behörden überlassen werden kann: „Sexuelle Gewalt kann nur dann wirkungsvoll bekämpft werden, wenn sich alle gesellschaftlichen Kräfte verbünden. Wir brauchen für Deutschland einen Pakt gegen Missbrauch. Einen Pakt für ein gemeinsames großes Ziel: Die maximale Reduzierung der Zahl der Fälle von sexueller Gewalt an Kindern und Jugendlichen.“ Dieser Pakt müsse von allen relevanten Akteur*innen unterstützt werden. Hierbei schließt Rörig alle ein, die direkt oder indirekt mit Kindern zu tun haben, also Schulen, Sport- und Wohlfahrtsverbände und Kirchen. Explizit nennt Rörig allerdings auch die Internetwirtschaft, die bei der Bekämpfung der Verbreitung kinderpornographischen Materials eine führende Rolle einnehmen müsse. 

Deutliche Worte richtet Rörig aber auch in Richtung der politisch Verantwortlichen: „Ich erwarte eine deutlichere Haltung der Politik. Für mich gehören klare Forderungen, Vorgaben und finanzielle Untermauerung in jedes Parteiprogramm und in jeden Koalitionsvertrag, auf Bundes- und auf Länderebene“, so Rörig. Jugendämter, Fachberatungsstellen und Ermittlungsbehörden müssten personell und finanziell gestärkt werden, damit Verdachtsfällen angemessen nachgegangen werden könne. 

Alle mit Kindern befasste Insitiutionen müssen vorbereitet sein

Um eine flächendeckende und systematische Bekämpfung sexuellen Missbrauchs überhaupt zu ermöglichen, fordert Rörig für alle mit Kindern und Jugendlichen befassten Institutionen und Einrichtungen die Entwicklung von Schutzkonzepten - und zwar verpflichtend: „Wir brauchen eine 100-Prozent-Lösung! Es darf in den kommenden Jahren keine Kitas, Schulen, Gemeinden oder Sportvereine mehr geben, die sich nicht als Schutzorte für Kinder verstehen und entsprechende Präventionskonzepte umsetzen.“ Hierzu müssten die Bundesländer, falls erforderlich, auch ihre Schulgesetze ändern. Schulen seien schließlich der einzige Ort, an dem alle Kinder flächendeckend erreichbar seien. Wer dauerhaft verantworte, dass nichts oder viel zu wenig für Schutz und Hilfe getan werde, laufe in letzter Konsequenz Gefahr, sich dem Vorwurf der Duldung auszusetzen, so Rörig.

Gewaltform ist noch lange nicht überwunden

Auch Matthias Katsch von der sog. Betroffeneninitiative Eckiger Tisch e.V. fordert ein entschiedeneres Vorgehen der politisch Verantwortlichen. Er bemängelt vor allen Dingen, dass die Bekämpfung von sexuellem Missbrauch bis heute nicht als eine Aufgabe von höchster Priorität angesehen werde. Insbesondere die Kirchen kritisiert er hierbei scharf: „Beide Kirchen haben in den vergangenen Jahren Aufklärung und Aufarbeitung über den Umgang ihrer Institutionen mit Verbrechen ihrer Mitarbeitenden vielfach verschleppt. Erst jetzt beginnen sie, sich ihrer Verantwortung zu stellen und machen sich an unabhängige und umfassende Aufarbeitungsprozesse. Immer noch werden die Opfer eher stigmatisiert, als dass ihnen notwendige Hilfe und Unterstützung angeboten wird.“ Aus Katschs Sicht ist die Gesellschaft „noch weit davon entfernt, diese Gewaltform in der kommenden Generation zu überwinden.“

Anrufen hilft!

Um Menschen, die sich um ein Kind sorgen, in ihrem Vorgehen zu untersützen, gibt es schon seit längerem das „Hilfetelefon Sexueller Missbrauch“ (0800 22 55 530). Ein neuer Spot soll gezielt hierauf hinweisen. Silke Noack, Leiterin des Hilfetelefons, weist auf die Wichtigkeit etablierter Beratungsstrukturen wie der des Hilfetelefons hin. „Viele Menschen aus dem Umfeld von Kindern haben ein komisches Gefühl, wissen aber nicht, was sie machen sollen. Wir bieten Menschen Rat und Unterstützung, die einem Kind helfen wollen oder selbst von sexuellem Missbrauch betroffen sind.“

Ohne das Engagement und die Initiative eines/einer jeden Einzelnen wird der sexuelle Missbrauch von Kindern auch weiterhin stattfinden. Denn eines ist klar: Wer wegsieht, unterstützt die Täter*innen und macht sich somit mitschuldig.

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