Praxisraum
Nightingale Home nurse / Unsplash

Medizinische Versorgungszentren: Kostendruck schlägt auf Arbeitsbedingungen durch

Bei Medizinischen Versorgungszentren steht häufig das Geldverdienen im Vordergrund: Kosten müssen gesenkt, Erlöse gesteigert werden. Das ist zum Teil in der bisherigen Gesundheitspolitik angelegt, zugleich ist die wachsende Branche geprägt durch starke Konzentrationstendenzen, bei denen auch der Einstieg von Finanzinvestoren eine Rolle spielt. Das erhöht den Druck auch auf die Beschäftigten, von denen viele nicht nach Tarif bezahlt werden und eine Arbeitsverdichtung mit vielen Überstunden erleben, zeigt eine neue, von der Hans-Böckler-Stiftung geförderte Studie.* Eine Folge: Nichtärztliche Beschäftigte wandern ab, insbesondere im medizinisch-technischen Dienst herrscht Fachkräftemangel.

Private Investoren breiten sich im Gesundheitswesen aus. Besonders gerne übernehmen sie Medizinische Versorgungszentren (MVZ), trimmen sie auf maximalen Gewinn und verkaufen sie nach kurzer Zeit weiter. Aber auch anderen Betreibern von MVZ wie etwa Kliniken geht es um möglichst niedrige Kosten. Das hat nicht nur Folgen für die Patientinnen und Patienten, sondern auch für die Beschäftigten. „Der Kostendruck wirkt sich negativ auf die Arbeitsbedingungen sowie die Vergütung der Beschäftigten in MVZ aus“, erklären Katharina Schöneberg und Dr. Katrin Vitols vom Beratungsunternehmen wmp consult. Die Forscherinnen haben zum einen die Struktur und die wirtschaftliche Entwicklung der Branche untersucht, zum anderen, wie es den Beschäftigten in MVZ im Hinblick auf Arbeitsbedingungen, Qualifizierung, Digitalisierung, Mitbestimmung und Zukunftsaussichten ergeht. Sie haben aktuelle Statistiken und Literatur ausgewertet, Interviews mit Experten und Expertinnen geführt und Beschäftigte sowie ihre Interessenvertretungen befragt, insgesamt knapp 100 Personen.

In einem MVZ sind Ärztinnen und Ärzte unterschiedlicher Fachrichtungen unter einem Dach ambulant tätig. Ein Ziel ist es, die fachliche Zusammenarbeit zu verbessern und Synergieeffekte zu nutzen. Unabhängig von der Trägerschaft spielen bei der Gründung wirtschaftliche Faktoren eine entscheidende Rolle. MVZ gehören – anders als Arztpraxen oder Praxisgemeinschaften – nicht zwangsläufig Ärztinnen und Ärzten. Sie werden unter anderem von Krankenhäusern, Praxisnetzwerken, gemeinnützigen Trägern oder Kommunen gegründet.

Die Politik hat die Einrichtung von MVZ ermöglicht, um die ambulante Versorgung in Deutschland auszubauen und Ausgaben im Gesundheitswesen zu senken. Schließlich gilt in der Gesundheitspolitik der Grundsatz „ambulant vor stationär“. Nur wenn eine Therapie nicht ambulant durchgeführt werden kann, soll eine Behandlung im Krankenhaus oder einer anderen stationären Einrichtung erfolgen, was in der Regel höher vergütet wird.

Seit ihrer Einführung im Jahr 2004 ist die Zahl der MVZ kontinuierlich gestiegen. Waren es im ersten Jahr 70, so gab es Ende 2020 bereits über 3800. Wie groß ihre Bedeutung für die ambulante Versorgung geworden ist, zeigt sich auch an der Zahl der dort tätigen Ärztinnen und Ärzte: Ende 2020 waren es knapp 24000. Zum Vergleich: In Einzelpraxen waren mehr als 50000 und in Gemeinschaftspraxen über 90000 Ärztinnen und Ärzte beziehungsweise Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten tätig.

Finanzinvestoren verkaufen oft nach vier bis fünf Jahren wieder

In den vergangenen Jahren ist ein zunehmender Konzentrationsprozess zu beobachten: Einzelne MVZ werden aufgekauft und zu Ketten zusammengeschlossen. Wesentliche Treiber dieser Entwicklung sind internationale Finanzinvestoren wie Private-Equity-Gesellschaften, aber auch private Kliniken und börsennotierte Gesundheitskonzerne tragen dazu bei.

Speziell die Finanzinvestoren zielen darauf ab, mehrere MVZ aufzukaufen, zu verschmelzen und nach einer relativ kurzen Haltedauer von vier bis fünf Jahren wieder zu veräußern oder an die Börse zu bringen. Um den Gewinn bis zum Zeitpunkt des Verkaufs zu steigern, orientieren sie sich vor allem an betriebswirtschaftlichen Kennzahlen: Kosten müssen gesenkt, Erlöse gesteigert werden. Kritiker und Kritikerinnen warnen davor, dass medizinische Entscheidungen übermäßig von Kapitalinteressen beeinflusst werden. Zwar dürfen heute nur noch zugelassene Ärztinnen und Ärzte, Krankenhäuser und andere anerkannte Träger ein MVZ gründen. Finanzinvestoren umgingen dies jedoch, so die Studie von Schöneberg und Vitols, indem sie – zum Teil über verschachtelte Tochtergesellschaften – kleinere Krankenhäuser aufkaufen, um Eigentümer von MVZ zu werden.

Die Investoren bevorzugen Fachrichtungen, die als besonders lukrativ gelten. Das trifft zum Beispiel auf die Zahnmedizin zu – wegen der regelmäßigen Patientenbesuche und der Kombination von medizinisch Notwendigem mit zahlungspflichtigen Zusatzangeboten. Beliebt sind auch Radiologie, Kardiologie, Orthopädie und inzwischen die Allgemeinmedizin. Die gesamte Anzahl der MVZ in Private-Equity-Besitz kann aufgrund fehlender Daten zu den Eigentümerstrukturen nur näherungsweise bestimmt werden. Schätzungen gehen für das Jahr 2020 von knapp 1000 Standorten aus, davon etwa 200 für Zahnmedizin.

Beschäftigte stark belastet, insbesondere nichtärztliche

Offizielle Angaben darüber, wie viele Beschäftigte insgesamt in MVZ tätig sind, liegen nicht vor. Es gibt jedoch Erhebungen, die zeigen, dass in einem MVZ im Mittel etwa 8 Medizinerinnen und Mediziner sowie 14 Beschäftigte des nichtärztlichen medizinischen Bereichs arbeiten.

Die Situation der Beschäftigten ist laut Schöneberg und Vitols vielfach angespannt. Bei den Arbeitsbedingungen und der empfundenen Belastung gibt es aber große Unterschiede: Angestellte Ärztinnen und Ärzte profitieren zum Teil davon, dass sie im Vergleich zur Freiberuflichkeit weniger mit Bürokratie zu tun haben, kein unternehmerisches Risiko tragen und ihre Arbeitszeiten flexibler gestalten können. Demgegenüber klagen Befragte aus dem nichtärztlichen Bereich häufiger über eine schlechte Bezahlung, fassen die Forscherinnen das Stimmungsbild von mehreren Dutzend befragten Beschäftigten zusammen. Oft verdienten die Beschäftigten weniger als bei einer vergleichbaren Tätigkeit im Krankenhaus. Nur selten werde nach Tarif bezahlt – selbst wenn das MVZ einem Krankenhaus gehört und dort ein Tarifvertrag gilt.

Zudem berichten Beschäftigte über hohe emotionale und körperliche Belastungen, wachsenden Zeitdruck, Arbeitsverdichtung und eine Zunahme der Arbeit insgesamt. Hinzu kommt, dass sie häufig Überstunden leisten müssen und der Wunsch nach Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben trotz Teilzeitarbeit nicht immer erfüllt wird.

Die Tätigkeiten im Beruf und die Anforderungen an die Qualifikation haben sich aus Sicht der Befragten in den vergangenen Jahren verändert und vielfach erweitert. So würden Beschäftigte aufgrund von Personalmangel teilweise in verschiedenen Fachbereichen eingesetzt, die unterschiedliche Kenntnisse erfordern, ohne dass sie eine Fort- oder Weiterbildung erhalten hätten. Vielfach sei eine verstärkte Abwanderung von Fachkräften aus den MVZ zu beobachten, schreiben die Forscherinnen. Insbesondere im medizinisch-technischen Dienst herrsche Fachkräftemangel. „Die hohe Fluktuation ist einerseits Resultat der geringen Vergütung, andererseits wird sie auch durch fehlende Entwicklungsmöglichkeiten und Karrierechancen in MVZ verstärkt.“

Die zunehmende Digitalisierung im Gesundheitswesen wird von den Beschäftigten häufig nicht als Erleichterung empfunden. Vielmehr zeigt die Befragung, dass sie eher negative Folgen wie die Zunahme der Komplexität der Arbeit, die Entwertung von Erfahrungswissen und den Verlust von Autonomie wahrnehmen.

Arbeitnehmervertretungen gibt es in den MVZ bislang nur selten. Für die im Rahmen der Studie befragten Vertreter und Vertreterinnen spielen die Themen Arbeitszeit und Dienstplanung, Entgelt, betriebliches Eingliederungsmanagement und Gefährdungsbeurteilungen eine wichtige Rolle. Die Einhaltung der Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrechte wird überwiegend als „mittelmäßig“ beschrieben. Die Interessenvertretungen geben an, häufig keine ausreichenden oder rechtzeitigen Informationen von der Unternehmensleitung zu erhalten. Die betriebliche und überbetriebliche Mitbestimmung wird aus ihrer Sicht dadurch erschwert, dass MVZ zunehmend in größere Konzerne eingebunden sind. Auch wenn die Kommunikation mit der lokalen Geschäftsführung positiv bewertet wird, fehlt es häufig an Einflussmöglichkeiten auf höhere Unternehmensebenen.

„In Anbetracht einer angestrebten Ambulantisierung der medizinischen Versorgung in Deutschland werden MVZ als Teil der ambulanten Versorgung von wachsender Bedeutung sein“, schreiben Schöneberg und Vitols. Die Entwicklung hänge stark von rechtlichen Rahmenbedingungen und gesundheitspolitischen Entscheidungen ab. Insgesamt sei aber mit einem weiteren Wachstum der MVZ und auch der Zahl der Beschäftigten zu rechnen. Angesichts der zunehmenden Belastungen komme der Verbesserung der Arbeitsbedingungen und der Vergütung eine besondere Bedeutung zu, um neues Personal zu gewinnen und der Abwanderung von Fachkräften entgegenzuwirken.


Quelle: Pressemitteilung der Hans-Böckler-Stiftung vom 11.05.2023