„Ein Blick nach vorne, ein Blick zurück“ - Biografiearbeit von und mit älteren Menschen
Altwerden: Biografiearbeit
Was bleibt von einem Leben, wenn wir erzählen, schreiben oder erinnern? Biografiearbeit mit älteren Menschen öffnet Räume für Selbstbewusstsein, Reflexion und neue Perspektiven. Sonja Maibach vermittelt, wie wertvoll und heilsam es ist, Erinnerungen lebendig zu halten – und zeigt praktische Wege auf, Biografiearbeit professionell und einfühlsam zu gestalten.
„Da macht einem keiner mehr etwas vor.“ Die pensionierte Lehrerin Ilse gibt Nachhilfe im Bürgerzentrum. Sie kommt – ihr Ehrenamt mitgezählt – auf 52 Jahre Berufserfahrung. Sie hat drei Kinder, sieben Enkelkinder, eine Urenkelin. Die große Lebenserfahrung erfüllt Ilse mit Stolz und Selbstbewusstsein.
„Wer soll das alles essen.“ Hans hat einen runden Geburtstag, das Festessen ist reichlich. Er erzählt, wie es ihm erging, als er in den fünfziger Jahren seine Lehre als Tischler begann und jeden Tag zur Arbeit hin und zurück gelaufen ist. Eine weite Strecke, oft mit großem Hunger im Bauch. Diese Erfahrung hat er schon viele Male geschildert.
Diese beiden Beispiele sind Szenen von Biografiearbeit. Lebenserfahrungen gehören nicht nur mir, sie möchten geteilt werden. Meine Biografie bedeutet nicht nur RÜCKSCHAU, sondern genauso einen Blick in das JETZT und in die ZUKUNFT. Wir begeben uns in diesem Beitrag auf die Suche, wie ältere Menschen Biografiearbeit anwenden können und welche professionellen Voraussetzungen und Methoden hierbei zur Anwendung kommen.
Biografiearbeit – Was es ist
„Was es ist“ – so beginnt ein Gedicht von Erich Fried, die Strophen enden immer mit dem Satz: „Es ist, was es ist, sagt die Liebe“. Aber was ist es, das „Biografische“? Unsere Lebenserfahrungen – selbst unser Schicksal – können uns in der Rückschau plausibel und kohärent erscheinen (wie die Liebe). Sie können genauso (wie es die Liebe kann) schwer erklärbar und nicht fassbar für uns sein.
Der Prozess des Älterwerden, kann uns mit Stolz und Selbstbewusstsein erfüllen, wenn unser Gefühl zu uns überwiegend positiv ist. Dies umso mehr, wie wir uns als selbstwirksam erleben. Fühlen wir uns aber im Grundgefühl eher passiv, so fällt es uns schwer, das eigene Leben in seiner Eigenartigkeit und Fülle zu vergegenwärtigen. Die gute Nachricht ist: egal von welcher Perspektive man startet - Biografiearbeit wird immer ein Gewinn sein. Sie kann eine lebensaktivierende Kraft befördern und insbesondere auch dementiell veränderten Menschen wohltuende Emotionen vermitteln.
Schon in der Antike kennen wir Biografiearbeit und soziologische Fragestellungen die unser Erleben bestimmen. Plutarch wandte die Parallelbiografien an: er stellte Lebensbeschreibungen von Römern und Griechen einander gegenüber, versuchte deren Lebensgeschichten und Erlebnisse zu analysieren. Die moderne Biografiearbeit entwickelte sich in Deutschland in den 1980er Jahren aus der Gesundheitsforschung und der Psychologie heraus. Sie fand bald Anwendung in der Sozialen Arbeit. Was bisher zur Resilienz erforscht ist, hat Wurzeln in den Erkenntnissen zur Kohärenz und in welchem Maße der Mensch Herausforderungen als handhabbar erlebt.
Fallstudien rückten mehr und mehr in den Vordergrund der Biografieforschung. Der Gegenwartsperspektive, dem „erzählten Leben“ stand das „erlebte Leben“ gegenüber, was mehr der Vergangenheit zugeordnet war (Gestalttheorie Gabriele Rosenthal). Diese Trennung ist mittlerweile dynamisiert. Wenn wir uns in der professionellen Sozialen Arbeit mit betagten Menschen unterhalten oder narrative Interviews führen, werden wir immer feststellen, dass Erinnerungen nicht rekonstruiert werden können. Interpretationen finden statt, Auslassungen und Idealisierungen. Der eigentliche Lebenslauf oder Zeitstrahl, dem wir Lebensereignisse und Daten zuordnen (wie Einschulung, Heirat oder Tod der Eltern) ist hier weniger im Fokus.
Eine 84-jährige Bewohnerin eines Seniorenheims mit Demenz schreibt diesen Monolog zu dem Auftrag „Welche Menschen mir nahestehen“ und verarbeitet Erinnerungen über ihren verschwundenen Vater. Bild: Sonja Maibach
Es ist mehr die wahrgenommene und erinnerte Biografie, die Deutungen und Konstruktionen ermöglicht und mein Lebenswerk in Zusammenhänge setzen kann. Wie stimmig ist das, was ich fühle, betrachte und ausdrücke mit meinem Bild von mir selbst. Was weiß ich über mich, wie rede ich über mich. Was erzähle ich gern aus meinem Leben, was weniger gern. Wie gelingt es, Vertrauen in das Leben zu entwickeln und meine bisherigen Schritte im Leben zu betrachten: „Wie ist mir gelungen, dass ich das geschafft habe, obwohl alles dagegen sprach?“ Es ist vielen älteren Menschen nicht bewusst, wie heilsam biografische Tätigkeiten für sie selbst sein können: das immer wieder kehrende Erzählen von Anekdoten, das Sortieren und Lesen von alten Briefen, das Schreiben von Memoiren. Das Bewusstsein wächst indes in der Gesellschaft und wird auch in Volkshochschulen, Schreibkursen und im Veröffentlichen von Autobiografien beliebter.
Auch die Betrachtung des Wandels gesellschaftlicher Normen ist Biografiearbeit. Nehmen wir mal eine gesellschaftliche Norm: „Meine Pflicht erfüllen.“ Würde man hierzu heute 70-100 Jährige befragen, welche Beispiele und Haltungen sie zu dieser Norm aufführen, so wäre der Anteil von extrinsisch motivieren Aspekten hoch: „Als Arbeitnehmer:in habe ich die Pflicht, pünktlich am Arbeitsplatz zu sein, als Kind muss ich helfen im Haushalt, ich habe mich gut zu benehmen.“ Erst die Arbeit, dann das Vergnügen. Biografisch und zeitgeschichtlich gesehen, eine Haltung, die für den Aufbau nach dem 2. Weltkrieg wichtig war und die auch in der Forschung zu Kriegskindern und Kriegsenkeln eine Rolle spielt.
Stellen wir uns vor, wir befragen zu dieser Norm „Meine Pflicht erfüllen“ eine jüngere Generation, Menschen in der Anfangsphase ihrer beruflichen Tätigkeit, etwa im Alter von 20-30 Jahren. Diese Gruppe würde wohl mehr den intrinsischen Anteil von „Pflicht“ in den Blick nehmen: „Ich habe auch die Pflicht, mir selbst gegenüber gut und wertschätzend zu sein, „Selfcare“ zu betreiben."
Mit hoher Wahrscheinlichkeit würden voneinander weit entfernt liegende Altersgruppen gesellschaftliche Pflichten nennen, die von gleichen Werten geprägt sind und sich ähneln. Wie zum Beispiel den Frieden zu bewahren und die Umwelt zu schützen. Und dann dürfte es junge Menschen weniger überraschen, wie wichtig den jetzigen „Omas gegen Rechts“ in ihren jungen Jahren der Klimaschutz war.
Voraussetzungen und praktische Anwendungen
Die Grundvorraussetzungen, um Biografiearbeit und den Prozess professionell anzuleiten sind: Zeit und die Fähigkeit, Zuhören zu können. Wir kennen aus dem Bereich der Pflege die Begriffe: Erinnerungspflege und personenzentrierte Pflege.
2006 hat das Gesundheitsministerium eine Expert:innengruppe eingesetzt, um Rahmenempfehlungen für die Biografiearbeit zu fixieren. Der Fokus richtete sich auf dementiell veränderte Menschen oder Klient:innen mit herausfordernden Verhalten. Im Vordergrund stand, wie das strukturierte Aufnehmen von Informationen gelingen kann. Aber zu welchem Zweck? Dies war nicht von Beginn an klar. Es ist natürlich gut, mehr zu wissen über die Lebensgeschichte der zu Pflegenden. Aber, es wurde damals schon bald deutlich, dass wir uns über Ziele, Zweck und Struktur von Biografiearbeit auseinandersetzen müssen. Wozu hilft diese Arbeit?
Sie ist lebensorientiert und hilft grundlegend allen Menschen, zu erkennen:
- Was macht mich aus?
- Was ist mir wichtig?
- Was gibt mir Halt?
- Was macht mir Freude, was nicht?
Der Wahrheitsanspruch ist nicht relevant, wenn wir Biografiearbeit aktiv betreiben. Erinnerungen werden revidiert, sprachliche und andere Ausdrucksfähigkeiten können eingeschränkt sein, die „Tagesform“ ist zu beachten. Die Vorlieben von älteren Menschen können sich grundlegend ändern.
So lernte ich in meiner Arbeit in einer Senioreneinrichtung eine Dame kennen, die bis vor Kurzem noch viele Festreden und karnevalistische Beiträge geschrieben und vorgetragen hatte. Sie war früher in vielen Vereinen, wurde von der Tochter als gesellig, belesen und redegewandt beschrieben. Als sie wegen dementieller Erkrankung in die Einrichtung kam, verwehrte sie vehement, eine ihrer früheren Reden auf einer Karnevalsveranstaltung des Heimes zu halten. Sie wollte nichts mehr von diesen Fähigkeiten wissen oder darauf angesprochen werde. Auch für die Teilnahme an Gruppenaktivitäten war sie kaum zu motivieren.
Es geht grundsätzlich um die Unterstützung von kommunikativen und sozialen Fähigkeiten, dem Erhalt von Identität und dem Erleben von positiven Emotionen. Es ist wichtig zu wissen, dass mittlerweile die reine Betrachtung Langzeitgedächtnis-Kurzzeitgedächtnis überholt ist, zunehmend wird von einem expliziten und einem impliziten Gedächtnissystem gesprochen. Perzeptuelle und kognitive Fähigkeiten (mehrstrophiges Gedicht rezitieren) gehören zum impliziten Gedächtnis, „Allgemeinwissen“- wie zum Beispiel Gebirge oder Flüsse zu kennen, zum expliziten System.
In diesem System kann man nochmals unterscheiden in das reine Faktenwissen „Der Rhein mündet in die Nordsee“ und den episodischen Teil: „In meiner Jugend bin ich mit dem Schiff den Rhein entlang gefahren.“
Es gibt vielfältige Anwendungsmöglichkeiten in der Biografiearbeit:
- Gespräch: narratives Interview, Biografieerfassung, Pflegedokumentation, gemeinsames Erzählen während der Pflege, Angehörigengespräche
- Schreiben: Genogramm, Stammbaum, Ahnentafel, Memoiren, Autobiografie, Tagesnotizen, Tagebuch
- Künstlerische Methoden: Malen, Zeichnen, Collage, Musiktherapie
- Digitale Technologien: Visuelle und akustische Methoden
- Memory Cues: Bilder, Alltagsgegenstände, Düfte, Raumgestaltung
- Aktivitätsorientierte Angebote: Ausflüge, Bewegung, Entspannungsmethoden, Feste
Eine Studie von 2015 untersuchte, wie Erinnerungen von Senior:innen abgerufen werden im Alltag. Dabei waren Gegenstände als physische Objekte stärker in der Wirkung als digitale Objekte.
Gruppenarbeit im Kreativen Schreiben
In meiner Tätigkeit in einer Senioreneinrichtung unternahm ich eine kreative Schreibanregung mit einer Gruppe von sechs Seniorinnen. Nach einer Einstimmung und anfangs skeptischen Gesichtern gingen wir in die Einzelarbeit zu der Übung: „Was ich mit mir trage“. Es handelte sich um drei Arbeitsblätter, auf denen leere Stofftaschen abgebildet waren. Diese Taschen, die es zu befüllen (zu beschriften) galt, trugen die Überschriften:
- Was mir wichtig ist
- Menschen, die mir nahestehen
- Was ich mir wünsche
Das Bild der „Tasche“ wirkte anschaulich und die Teilnehmerinnen der Gruppe begannen mit der Einzelarbeit. Begleitet von nachdenklich gestimmten Anmerkungen, füllten sich die Arbeitsblätter. Eine Dame, 84 Jahre, dementiell verändert, schrieb nicht. Sie beobachtete die Gruppenarbeit und aß Kekse. Bald wurde sie von Einigen aus der Gruppe aufgefordert, sich zu beteiligen. Aber die Dame wurde nicht aktiv und ich signalisierte, dass dies in Ordnung ist. Erst am Schluss nahm sie den Stift und schrieb einige Zeilen, dies blieb weitgehend unbemerkt von den Anderen der Gruppe.
Einige lasen ihre Texte vor und es entstand eine Erzählrunde. Ganz am Ende, als alle den Raum verließen, schob mir die anfangs passiv wirkende Seniorin ihr Blatt zu. Ich las es mit ihr zusammen. Sie ging mit ihrer „Tasche“ auf ihr Zimmer zurück und wirkte zufrieden.
Schlussbemerkung
Autobiografisches Erinnern folgt einer langen Phase von Lernprozessen und ist dynamisch mit dem Fortschreiten des Alters. Positiv erlebte Interaktion, Gemeinschaft, wertschätzende Gespräche und adäquate nonverbale Kommunikation können ältere Menschen und ihre Selbstwirksamkeit bis in das hohe Alter stärken.
Die meisten Menschen zeigen über ihr Verhalten sehr viel über die eigenen Biografie und sollten gleichzeitig nicht von dieser begrenzt werden. Denn lebenslanges Erinnern ist auch lebenslanges Lernen und birgt die Chance, bisher Unbekanntes zu entdecken.
Das Erleben im „Hier und Jetzt“ stellt eine wichtige Weiche, damit ältere Menschen nicht vereinsamen oder gar innerlich zu verarmen. Es ist wichtig, dass alle Teile des Gemeinwesens sich darum bemühen, den Kontakt zwischen den Generationen in Gang zu halten und zu verbessern.
Für ein Bewusstsein von Zeitgeschichte und Lebensgeschichte(n) - sei es im Erzählcafé, in der Stadtbibliothek, der Kindertagesstätte oder einer Senioreneinrichtung.