Zeitenwende?

von Dr. Jos Schnurer
10.05.2022

Immer dann, wenn tatsächliche oder scheinbare Selbstverständlichkeiten sich verändern, evolutionär oder revolutionär, faktisch oder als Fake News propagiert, sprechen wir von Ambivalenzen, von doppeldeutigen, doppelsinnigen, zwiespältigen und widersprüchlichen Entwicklungen.

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Im philosophischen, anthropologischen und gesellschaftspolitischen Diskurs kommen dabei vielfach Perspektiven als „Verheißung und Ernüchterung“ ins Spieli; etwa, wenn Jan Philipp Reemtsma vom „blinden Fleck“ spricht, wenn er über „Gewalt in der Moderne“ nachdenkt und (illegitime, physische) Gewalt einteilt in lozierende, auf den Raum und die Bewegung des Menschen bezogene, in raptive, auf den Körper einwirkende, und in autotelische, vernichtende Gewaltausübungii; wenn die Zürcher Historikerin Svenja Goltermann über Formen der „Gewaltwahrnehmung“ reflektiert und eine andere Geschichte der Gewalt im 20. Jahrhundert erzähltiii; wenn der Soziologe von der Leuphana Universität in Lüneburg, Wolfgang Knöbl die „Moderne“ gewaltgesellschaftlich reflektiertiv; und wenn der Historiker von der Universität in Chicago, Michael Geyer, die Aktualität in der Welt als (chronopolitisches) „Ereignis“ beschreibt und zum individuellen und lokal- und globalgesellschaftlichen Perspektivenwechsel auffordertv.

Ambivalenz

Der anthrôpos, das menschliche Lebewesen, ist existentiell darauf angewiesen, sein Dasein, sein Sosein und seine Identität erdbezogen zu erkennen und zu ordnen. „Wer bin ich?“ – „Wie bin ich geworden, wie ich bin?“ – „Was bin ich im Anderen und in der Welt?“, das sind notwendige Fragen im Hier und Heute. Sie müssen vergangengenheitsbewusst und zukunftsorientiert ausgerichtet und bewusst sein. Es sind intellektuelle Herausforderungen, die aktiv und zielgerichtet gemeistert werden müssen. Weil Leben ein schwierig Ding ist; weil dem Menschen bewusst sein muss, dass er als Individuum und soziales Lebewesen unvollständig und verletzlich istvi; dass er darauf angewiesen ist, die Realitäten des Lebens richtig zu erkennen, zu deuten und zu verändernvii. Bedeutsam ist hierbei, das eigene Denken und Handeln sozioprudent einzuübenviii, und Mut und Lebenskraft zu entwickeln, Visionen und Ziele für ein gutes, gelingendes Lebenix für sich und die Menschheit zu denkenx. Im wissenschaftlichen, anthropologischen Diskurs, wie auch im alltäglichen Leben merken und erfahren wir, dass ambivalentes Denken in unseren Fühlen, Empfinden, Hoffen und Bangen „hin und her pendelt, schwankt, oszilliert“, dass „Leben in der Ambivalenz ( ) auf Leben in der Freiheit und umgekehrt (verweist): Leben mit Ambialenzen ist eine notwendige Bedingung von Freiheit!“xi.

Ethnozentrismus oder Universalismus

Der Philosoph Ludwig Wittgenstein (1889 – 1951) hat sich immer wieder – wie wir heute auch – mit der Frage auseinandergesetzt: „Wie können wir gut mit unserer eigenen Blindheit umgehen“xii. Wie kann es gelingen, dass wir Menschen das Jetzt mit dem Gestern und Morgen verbinden?xiii. Und: wie lassen sich Visionen verwirklichen, eine gerechte, friedliche, Eine Welt für alle Menschen zu schaffen?xiv. Wie kann man Machtmissbrauch, Diktatur und illegitime Herrschaft verhindern?xv. Nur demokratische Denk- und Handlungsstrukturen können Höherwertigkeitsvorstellungen und Unmenschlichkeit verhindernxvi. Es gilt, das eigene, intellektuelle Denken zu stärken und den freien Willen zu entdeckenxvii.

Ordnung, Anerkennung und Kritik

Das menschliche Dasein ist bestimmt von den Anforderungen und Fakten des Lebens. Anpassung und Widerstand, individuelles und kollektives, soziales Denken und Handeln sind die Grundpfeiler der Conditio Humana. Kein Mensch ist nur Mittel, sondern grundlegend Selbst und Gemeinsamxviii. Ein gelingendes, menschenwürdiges, verantwortungsbewusstes Leben ist angewiesen auf Werte. Es sind die Tugenden: Gelassenheit, Bedenklichkeit, Für- und Vorsorge, Nachhaltigkeit, Aufmerksamkeit, Empathie und Realismus, die für faktische Selbst- und Welterkenntnis Gerüstzeug und Halteseile bieten. Der Philosoph von der Friedrich-Schiller-Universität und Direktor des Max-Weber-Kollegs der Universität in Erfurt, Hartmut Rosa, weist auf die Diskrepanzen des Verfügbaren und Unverfügbaren hin, mit der Vermutung, „dass es keine festen Verbindungen zwischen Ursachen und Wirkungen gibt“. Der Zwiespalt zeigt sich einerseits in Hoffnungen und forcierten Erwartungshaltungen, dass die Menschen den rettenden Resonanzboden von Rationalität, Emotionalität und Humanität finden, andererseits die Gefahr, dass die Menschheit sich selbst abschafftxix.

Utopien

„Utopie“ wird im antiken griechischen Denken als „Nichtort, Nirgendwo“ bezeichnet, im europäischen Mittelalter vom englischen Staatsmann Thomas Morus (1478 – 1535) als „Utopie – Wunschdenken“ charakterisiert, von Karl Marx als revolutionäre Aufforderung zur Sozial- und Gesellschaftsveränderung propagiert, und im Globalen Heute als existenz- und fortschrittssicherndes Denken und Handeln, als Utopie für eine lokale und globale, gerechte, friedliche Weltordnung entworfen wird, mit der Konkretisierung: „Die Utopie sprengt die Fesseln des Gewohnten, aber sie verlässt nicht die Grenzen der Vernunft“ (Jost Hermand). Der zôon politikon, als politisch denkender und handelnder Mensch, empfindet sich„ grundsätzlich selbstgestalterisch… gleichzeitig aber auch in seiner freien Entfaltung stets mit strukturellen Hemmnissen und Ungerechtigkeiten konfrontiert“. Es sind Anregungen für das alltägliche, individuelle und gesellschaftliche Dasein: Gemeinsam tätig sein statt Egoismus und soziale Isolation - Solidarität statt Anonymität - gegenseitige Unterstützung statt Egoismus und Ethnozentrismus - Demokratie statt Hierarchie und Ungleichheit - individuelle Freiräume statt Regulation und Bürokratie - Toleranz statt Fundamentalismus - Dialog statt Diktat. Es bedarf eines gesellschaftlichen Bewusstseins, dass „Utopie“ kein realitätsfernes Zaubermittel, sondern eine intellektuelle, notwendige Herausforderung für ein bene vivere und ein euzôia, ein gutes Leben istxx.

Mythos – Nyn – Mellonta

Der anthrôpos, das menschliche Lebewesen, bedarf, um human existieren zu können, ein Vergangenheits-, Gegenwarts- und Zukunftsbewusstseins. Im philosophischen, aristotelischen Sinn ist „mythos“ überlieferte Geschichte, „nyn“ das Jetzt und „mellonta“ das Zukünftigexxi. Wir brauchen eine neue Erinnerungskultur, angesichts des aktuellen, gewordenen, lähmenden und lärmenden, globalisierten Momentanismus. Die Erkenntnis, dass Kultur Erinnerung braucht, wie auch Erinnerung Kultur benötigt, hat sowohl die zivilgesellschaftliche Kritik an den traditionellen und traditionalistischen Entwicklungen entfacht, als auch den Ruf nach einem zeitgemäßem Gedächtnis- und Erinnerungsbewusstsein verstärkt. Es ist der Mix aus Euphorie, Optimismus und Pessimismus, der unser privates und öffentliches Bewusstsein kennzeichnet und sich in Stimmungen ausdrückt, die von der „Leichtigkeit des Seins“ bis hin zur „Bürde der Alltagslast“ reichen. Es ist die Last und die Lust, die uns Menschen hin- und her reißt, die uns, wie Aristoteles in seiner Nikomachischen Ethik zum Ausdruck gebracht hat, „sich freut, woran man soll, und hasst, was man soll“. Philosophen, Anthropologen und Zukunftsforscher haben sich immer wieder an diesem Popanz gerieben und haben dafür oder dagegen ihre eigenen Fragen nach dem Sinn des Lebens der Menschen gestellt. Die vielfältigen und kontroversen Antworten jedoch bündeln eine Gewissheit, die in der Alltagsbewältigung oft genug zu kurz kommt, um pessimistische oder gar fatalistische Gedanken zu überdecken: Der Mensch ist ein wandelbares Wesen! Er ist in der Lage und fähig, sich zu (ver)ändern, körperlich, geistig und sozial. Um das ganzheitliche, umfassende und vollständige Denken und Handeln zu ermöglichen, bedarf es ein „Erdächtnis“. Mit dieser Begriffsschöpfung gehen der Volkskundler von der Universität Münster, Andreas Hartmann, und die wissenschaftliche Mitarbeiterin Oliwia Murawska der Frage nach, wie es gelingen kann, die Bedeutungen des Gestern, Heute und Morgen in den kulturellen und anthropologischen Diskurs zu bringen und „Ordnungslosigkeit in Ordnung, Nicht-Struktur in Struktur, Kontinuität in Diskontinuität, Amorphes in Form, Chaos in Kosmos (zu) transformieren“. In einem Sammelbandxxii bringen sie dazu Autorinnen und Autoren zusammen und thematisieren interdisziplinär die Zusammenhänge. Die Frage, wie die Menschheit (in der Gegenwart und Zukunft) leben will, lässt sich nicht mit Illusionen und Spekulationen beantworten, sondern mit Visionen denkenxxiii.

Freiheit ist Alles, ist menschlich, ist normal

Die (aktuellen) Gefährdungen und Infragestellungen der „globalen Ethik“, wie sie in der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ (1948) zum Ausdruck kommt, dass „die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt bildet“xxiv, machen notwendig, den Freiheitsbegriff und das Freiheitsverlangen der Menschen aktiv zu formulieren. Freiheit, als das kostbarste Gut der Menschheit, fällt nicht vom Himmel. Es ist kein Automatismus des menschlichen Daseins. Eigenschaft und Zustand ergeben sich durch Sozialisierung, Zivilisierung und Aufklärung. Der Wille der Menschen nach Autonomie, Liberalität, Unabhängigkeit und Selbstbestimmung muss immer wieder neu geweckt und gefördert werden – durch Bildung! Weil nämlich Freiheit gefährdet ist, durch Unfreiheit, durch Autokratie und Diktatur, durch Tyrannei und Despotie. Der Ruf nach Freiheit wird besonders dann lauter und eindringlicher, wenn die Freiheit gefährdet ist, durch Herrschsucht. Mit der Frage: „Darf der Mensch alles machen und tun, was er kann oder zu können glaubt?“, wird darauf aufmerksam gemacht, dass der Freiheitsanspruch immer verbunden sein muss mit Verantwortung. Es ist deshalb logisch und notwendig, dass Gesellschaft und Staat Regeln und Gesetze erlassen, die Freiheiten garantieren, ja sogar einschränken, um frei leben zu können! In vielfältiger Weise werden Appelle, Aufrufe und Konzepte formuliert, wie in „Zeiten von Unfreiheit“ Freiheit ermöglicht und garantiert werden kann. Die wissenschaftliche Diskurs-Initiative „CONVOCO!“ ruft auf zum selbständigen Denken und zum verantwortungsbewussten, individuellen und kollektiven Tun, und zum Bewusstsein, dass Freiheit Auf- und Anforderung und Verpflichtung istxxv.

Fazit

Der Zwischenruf zur ängstlich wie auffordernd sich darstellenden, gefährlichen Weltlage, die die Hoffnungen ad absurdum zu führen scheinen, das Frieden ohne Waffen in der Welt möglich sein könne, möchte nicht als vergebliches Rufen in den Wald verstanden werden; vielmehr geht es darum, sich und andere zu überzeugen, dass die „Zeitenwende“, in der Krieg als Mittel zur Durchsetzung von Macht und Diktatur eingesetzt wird, nicht hingenommen werden darf! Es bedarf des pazifistischen Bewusstseins, weil, wie es in der Verfassung der UNESCO vom 16. November 1945 heißt, „Kriege im Geist der Menschen entstehen, muss auch der Frieden im Geist der Menschen verankert werden“.

Die pazifistischen, diplomatischen und ökonomischen Reaktionen auf den Krieg des russischen Diktators und seiner Gefolgsleute in der Ukraine, die im politisch-öffentlichen Diskurs als „Zeitenwende“ bezeichnet wird, darf nicht als „Achsenzeit“ verstanden und damit den historischen Zeitläuften zugeordnet werdenxxvi; vielmehr ist Krieg immer Menschheitsverbrechen! Dagegen anzugehen ist möglich durch Aufklärung und Demokratie!xxvii


i siehe dazu das Schwerpunktthema „Verheißung und Ernüchterung. Ambivalenzen der Moderne“, in der Zeitschrift „Mittelweg 36“, 2/April-Mai 2020, des Hamburger Instituts für Sozialforschung, 103 S.

ii a.a.o., S. 5 - 21

iii a.a.o., S. 23 - 46

iv a.a.o., S. 47 - 79

v a.a.o., S. 81 - 103

vi Angela Janssen, Verletzbare Subjekte. Grundlagentheoretische Überlegungen zur conditio humana, 2018, www.socialnet.de/rezensionen/25043.php

vii Lawrence LeShan, Das Rätsel der Erkenntnis. Wie Realität entsteht, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/13512.php

viii Clemens Albrecht, Sozioprudenz. Sozial klug handeln, 2020, www.socialnet.de/rezensionen/27512.php

ix Max Fuchs, Das gute Leben in einer wohlgeordneten Gesellschaft, 2019, www.socialnet.de/rezensionen/26614.php

x Harald Welzer, Alles könnte anders sein. Eine Gesellschaftsutopie für freie Menschen, 2019, www.socialnet.de/rezensionen/25575.php

xi Dieter Korczak, Hrsg., Ambivalenzerfahrungen, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/14562.php

xii Wolfgang Eilenberger, Zeit der Zauberer. Das große Jahrzehnt der Philosophie 1919 – 1929, www.socialnet.de/rezensionen/24111.php; sowie: Werner Vogd, Selbst- und Weltverhältnisse, 2018, www.socialnet.de/rezensionen/24084.php

xiii Heiner Hastedt, Hg., Deutungsmacht von Zeitdiagnosen, 2019, www.socialnet.de/rezensionen/25798.php

xiv Martha Nussbaum, Kosmopolitismus, 2020, www.socialnet.de/rezensionen/26694.php; und: Veronika Wittmann, Weltgesellschaft, 2014, www.socialnet.de/rezensionen/17930.php

xv Frank Dikötter, Diktator werden. Populismus, Personenkult und die Wege zur Macht, 2020, www.socialnet.de/rezensionen/27082.php;: sowie: Noam Chomsky, Kampf oder Untergang? Warum wir gegen die Herren der Menschheit aufstehen müssen, 2018, www.socialnet.de/rezensionen/25009.php

xvi Gudrun Hentges, Hrsg., Krise der Demokratie – Demokratie in der Krise?, 2020, www.socialnet.de/rezensionen/27245.php

xvii Joachim Bauer, Selbststeuerung. Die Wiederentdeckung des freien Willens, 2015, www.socialnet.de/rezensionen/18891.php; ders., Wie wir werden, wer wir sind. Die Entstehung des menschlichen Selbst durch Resonanz, 2022, www.socialnet.de/rezensionen/29229.php

xviii Christine Kanz / Ulrike Stamm, Hrsg., Anerkennung und Diversität, 2018, www.socialnet.de/rezensionen/25033.php; Stefan Groth / Linda Mülli, Hrsg., Ordnungen in Alltag & Gesellschaft, 2019, www.socialnet.de/rezensionen/25405.php; Caroline Arni / Delphine Gardey, Protest!, 2020, www.socialnet.de/rezensionen/27118.php

xix Hartmut Rosa, Unverfügbarkeit, 2019, www.socialnet.de/rezensionen/25302.php

xx Ina-Maria Maahs, Utopie und Politik. Potentiale kreativer Politikgestaltung, 2019, www.socialnet.de/rezensionen/26575.php

xxi Otfried Höffe, Hrsg., Aristoteles-Lexikon, Stuttgart 2005, 640 S.

xxii Andreas Hartmann / Oliwia Murawska, Hg., Representing the Future. Zur kulturellen Logik der Zukunft, 2015, www.socialnet.de/rezensionen/18833.php

xxiii Dieter Korczak, Hg., „Visionen statt Illusionen. Wie wollen wir leben?“, 2014, www.socialnet.de/rezensionen/18045.php

xxiv Deutsche UNESCO-Kommission, Menschenrechte, Bonn 1981, S. 48ff

xxv Corinne Michaela Flick, Hg., Wie viel Freiheit müssen wir aufgeben, um frei zu sein?, 2022, www.socialnet.de/rezensionen/29300.php

xxvi Jan Assmann, Achsenzeit. Eine Archäologie der Moderne, 2018, www.socialnet.de/rezensionen/25040.php

xxvii Alois Moosmüller, Interkulturelle Kompetenz, 2020, www.socialnet.de/rezensionen/27414.php