Wir haben es weit gebracht mit dem Drang nach dem Immer-weiter-Immer-schneller-Immer-höher-Immer-mehr

von Dr. Jos Schnurer
24.03.2011 | Schwerpunkte Kommentare (0)

Der Diskurs um kulturelle Identität, Menschenwürde und Demokratie

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Es sind nicht Kulturpessimismen und apokalyptische Szenarien-Malereien, die nach einem Perspektivenwechsel im Denken und Tun der Menschen verlangen. Das, was die von den Vereinten Nationen eingesetzte Weltkommission „Kultur und Entwicklung“ als Ergebnis ihrer mehrjährigen Arbeit von internationalen Expertinnen und Experten zur Lage der Welt 1995 dramatisch formuliert hat – „Die Menschheit steht vor der Herausforderung umzudenken, sich umzuorientieren und gesellschaftlich umzuorganisieren, kurz: neue Lebensform zu finden“ – um damit gewissermaßen eine neue „globale Ethik“ zu fordern, kommt in der öffentlichen Diskussion vielfach nur Tröpfchen weise und weich gespült von den Lobbyisten der jeweiligen Verursacher unseres Durchfluss-Wachstumsdenkens, bei den Endverbrauchern an. Ob es die Warnungen sind, die negative Umwelteinflüsse, wie vergiftete Luft, verkeimtes Wasser, insektizidverseuchtes Gemüse, begastes Obst, mit Wachstumspräparaten vollgestopftes Fleisch oder vermantsche Lebensmittel, auf die Gesundheit der Menschen ausüben, Kinder bereits im Mutterleib schädigen, oder ob die immer zahlreicher weltweit auftretenden Katastrophen, wie Überschwemmungen, Dürreperioden, Orkane, das Ansteigen des Meeresspiegels  und das Abschmelzen der Polkappen Weltuntergangsstimmungen hervorrufen – meist steht der Mensch als Individuum scheinbar machtlos vor den menschengemachten Veränderungen, die bereits vom Kulturethiker, Sozialpsychologen und Psychoanalytiker Erich From (1900 – 1980) als „Habenmodus der Existenz“ bezeichnet, der auf Profit und Eigentum ausgerichtet ist und gegenüber gestellt den Seinsmodus, der auf Unabhängigkeit, Freiheit und dem Vorhandensein kritischer Vernunft basiert (Erich Fromm, Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft, Stuttgart 1976). Angesichts der allzu zaghaften nationalen und internationalen Bemühungen, das verloren gegangene und von den Menschen mutwillig und unbedächtig zerstörte Gleichgewicht von Mensch und Natur zugunsten eines unbegrenzten Wachstumsdenkens wieder in die natürliche Balance zu bringen, ist Pessimismus angesagt. Wird es der Menschheit gelingen, das, was der griechische Philosoph Aristoteles mit dem eu zên zum Ausdruck gebracht hat, dass der Mensch aufgrund seines Verstandes zum guten Leben befähigt ist, zu realisieren? Oder werden Egoismus und Allmachtstreben die Menschheit in den Abgrund zwingen? Es sind fast zwanzig Jahre her, seit die Konferenz der Vereinten Nationen für Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro mit der dramatisch formulierten Agenda 21 die Geschäftigkeit der Menschen lokal und global zum Nachdenken gebracht hat: „Die Menschheit steht vor einem entscheidenden Punkt ihrer Geschichte. Wir erleben eine zunehmende Ungleichheit zwischen Völkern und innerhalb von Völkern, eine immer größere Armut, immer mehr Hunger, Krankheit und Analphabetismus sowie eine fortschreitende Schädigung der Ökosysteme, von denen unser Wohlergehen abhängt“. Die hehren Ziele, wie sie mit dem Millenniumsgipfel vom September 2000 in die Welt gebracht wurden und von der Bekämpfung von extremer Armut und Hunger, der Ermöglichung der Primarschulbildung für alle, der Gleichstellung der Geschlechter und der Stärkung der Rolle der Frauen, der Senkung der Kindersterblichkeit, der Bekämpfung von HIV/AIDS, Malaria und anderen schweren Krankheiten, einer stärkeren Beachtung der ökologischen Nachhaltigkeit und dem Aufbau einer globalen Partnerschaft für Entwicklung reichen, werden, so lässt sich mehr als ein Jahrzehnt feststellen, sind zum Zieljahr 2015 in keiner Weise auch nur ansatzweise zu erreichen. Das renommierte New Yorker Worldwatch Institute gibt alljährlich den Bericht „Zur Lage der Welt“ heraus. Die Analysen zum Jahr 2009 weisen ein äußerst düsteres Bild aus und warnen, dass der Planet Erde vor der Überhitzung stehe (Worldwatch Institute (Hrsg.): Zur Lage der Welt 2009, Ein Planet vor der Überhitzung. Intelligente Politik gegen ein destabilisiertes Klima, in Kooperation mit der Heinrich-Böll-Stiftung und Germanwatch, Verlag Westfälisches Dampfboot , Münster 2009, 318 Seiten, in: socialnet Rezensionen unter https://www.socialnet.de/rezensionen/7730.php). Es geht um die Auseinandersetzungen, wie die Krisen der Welt bewältigt werden können (vgl. dazu: Frank Ettrich, Wolf Wagner, Hrsg., Krise und ihre Bewältigung, Lit Verlag, Münster 2010, 240 S., in: socialnet Rezensionen unter https://www.socialnet.de/rezensionen/9990.php) und insbesondere darum, wie die destabilisierenden globalen Wirtschafts-Finanzkrisen überwunden werden können (vgl. dazu: Elmar Altvater, Der große Krach oder die Jahrhundertkrise von Wirtschaft und Finanzen, von Politik und Natur, Münster 2010, 261 S., in: https://www.socialnet.de/rezensionen/10533.php). Schließlich auch um die Frage, wie die kapitalistische Denk- und Wirtschaftsweise aufzubrechen ist (vgl. John Holloway, Kapitalismus ausbrechen, Münster 2010, 276 S., in: http://www,socialnet.de/rezensionen/10534.php). Dazu bedarf es eines Perspektivenwechsels, der die intellektuellen und alltäglichen, lokalen und globalen Denk- und Handlungsweisen der Menschen im Blick hat. Es ist notwendig, das rettende Ufer der Nachhaltigkeit zu erreichen (Ulrich Grober, Die Entdeckung der Nachhaltigkeit. Kulturgeschichte eines Begriffs, Verlag Antje Kunstmann, München 2010, in: https://www.socialnet.de/rezensionen/9284.php). Und es bedarf eines philosophischen und politik-praktischen Überdenkens des (westlichen) Werte-Diskurses, der aus dem Geist des Kapitalismus geboren wurde und bestimmt wird. Es wäre angemessen, die grundlegenden Werte des Menschseins, die Menschenwürde und die individuelle und gesellschaftliche, demokratische Freiheit den anderen Wertvorstellungen voranzustellen (Eberhard Straub, Zur Tyrannei der Werte, Klett-Cotta Verlag, Stuttgart  2010, 171 S., https://www.socialnet.de/rezensionen/10807.php). Weil politische und gesellschaftliche Veränderungen immer im Kontext der historischen, kulturellen und ideologischen Entwicklung betrachtet und als eigenständige Prozesse verstanden werden müssen, bedarf es seitens der derzeitigen, westlichen, allzu euphorisch, optimistisch und einäugig eingeschätzten Entwicklungen in den arabischen Staaten des Vorderen Orients einer realistischeren Sichtweise. Der Export von „westlichen“ Werten auf anders verfasste, etwa islamistisch-schariatisch orientierte Gesellschaften ist nicht „mach“-bar (vgl. dazu auch: Jean Ziegler, Der Hass auf den Westen. Wie sich die armen Völker gegen den wirtschaftlichen Weltkrieg wehren, C. Bertelsmann Verlag, München 2009, . 287 S., https://www.socialnet.de/rezensionen/8994.php). Die Bonner Islamwissenschaftlerin Christine Schirrmacher etwa macht aufmerksam auf eine sich anbahnende Entwicklung in Ägypten, wonach die Muslimbrüder mit der Einladung des bis dahin im Exil in Qatar lebenden, einflussreichen muslimischen Gelehrten Yusuf Abdallah al-Qaradawi nach Kairo ihre Absicht verdeutlichen, eine Regierungs- und Gesellschaftsform auf der Grundlage der Scharia einführen zu wollen, die das islamische Recht über das der Menschenrechte stellt (vgl. dazu auch: „Muslimbruderschaft in Ägypten. Demokratie ohne Rechtsstaat“, in: Internationale Gesellschaft für Menschenrechte, Deutsche Sektion, Frankfurt/M., www.menschenrechte.de, presse@igfm.de). Was wir brauchen, angesichts der Unübersichtlichkeit und Chaotisierung der Welt, ist ein Bewusstsein vom Risiko, das ein Konstitut menschlichen Daseins und des interkulturellen Zusammenlebens darstellt (siehe dazu: Ulrich Beck, Weltrisikogesellschaft. Auf der Suche nach der verlorenen Sicherheit, Frankfurt/M., 2007, https://www.socialnet.de/rezensionen/4820.php). Damit dies nicht zur lähmenden Furcht oder zur irrationalen und nicht verfassungsgemäßen Machtausübung, zu Tyrannei und Terror führt, ist es bedeutsam zu erkennen, „dass die größte Gefahr oftmals nicht das Risiko selbst ist, sondern vielmehr seine Antizipation und Wahrnehmung, in deren Folge die Gefahrenphantasien und ihre Gegenmittel freigesetzt werden, die die moderne Gesellschaft ihrer bisherigen Handlungsfähigkeit berauben könnte (Markus Holzinger, Stefan May, Wiebke Pohler: Weltrisikogesellschaft als Ausnahmezustand, Velbrück Wissenschaft, Weilerswist 2010, 320 S. https://www.socialnet.de/rezensionen/9743.php). Und es tut Not, nach Wegen für ein globales Bewusstsein Ausschau zu halten und eine empathische Zivilisation einzufordern (Jeremy Rifkin: Die empathische Zivilisation, Campus Verlag, Frankfurt/M., 2010, . 468 S., https://www.socialnet.de/rezensionen/9048.php ) und Menschlichkeit in der Vielfalt der Kulturen auf der Welt zu etablieren (Jörn Rüsen / Henner Laass, Hrsg., Interkultureller Humanismus, Wochenschau Verlag, Schwalbach 2009, 366 S., in: socialnet Rezensionen unter https://www.socialnet.de/rezensionen/8537.php). Welche institutionalisierten Formen der Regierungsführung und Gesellschaftsentwicklung für ein friedliches und gerechtes Zusammenleben der Menschen in der Einen Welt notwendig sind, darüber ist der internationale Diskurs in vollem Gange (vgl. dazu: Christoph Antweiler, Mensch und Weltkultur. Für einen realistischen Kosmopolitismus im Zeitalter der Globalisierung, Bielefeld 2010, 270 S., https://www.socialnet.de/rezensionen/10879.php). Unverzichtbar allerdings ist die Forderung, ethnische, religiöse und kulturelle Unduldsamkeiten und Ideologien zurück zu weisen, die die Unantastbarkeit der Menschenwürde in Frage stellen und damit den anthrôpos, den Menschen als vernunftbegabes Lebewesen verleugnen und ihn seiner Selbstbestimmung berauben. Autor
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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