Wie wird man zum Rechtsradikalen?

von Dr. Jos Schnurer
24.11.2015

Collage, zusammengestellt von Dr. Jos Schnurer
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Wenn aus dem Gesicht des so genannten „Wutbürgers“ (was für ein verharmlosender Begriff für menschliche Entgleisung!) bei der Pegida-Demonstration der Hass heraus schreit, fragt sich der Bürger, wie eine solche Haltung entstehen kann. Mit der These, dass niemand als radikal, also egoistisch, ethnozentristisch oder rassistisch geboren, sondern entweder sich selbst zu einem Rechtsradikalen macht, oder von Ideologien, Zeitläuften und Imponderabilien zu einem solchen gemacht wird, soll der Frage nachgegangen werden, was rechtsradikal ist, wie sich die Einstellung zeigt und welche Wirkungen sie hervorbringt. Rechtsradikalität speist sich und wächst aus Traditionalismus,
Egozentrismus,
Nationalismus,
Germanozentrismus,
Machtmissbrauch,
Hierarchisierung,
Intoleranz,
Gewaltbereitschaft. Die Gegenthese lautet: Der Anthropos, der Mensch, ist ein mit Vernunft ausgestattetes Lebewesen, dasr in der Lage ist, Allgemeinurteile zu bilden, zwischen Gut und Böse unterscheiden kann, objektives Wissen erwerben will, danach strebt, ein gutes Leben zu führen und sich bewusst ist, dass er nur in einer friedlichen, gerechten und humanen Gemeinschaft lebensfähig ist. In der antiken, anthropologischen Philosophie wird der Mensch als zôon politikon, als politisches Lebewesen bezeichnet, das Veränderungs- und Wandlungsprozesse des menschlichen Daseins als Notwendigkeit und Chance für die Menschheit erkennt, sich anzupassen weiß und auf neue Situationen und Entwicklungen aktiv reagieren und diese mitgestalten kann [1]. Angesichts der bedenklichen lokalen und globalen Entwicklung, dass die Werte und Herausforderungen, wie sie in einer  „globalen Ethik“ der Menschheit aufgegeben sind, immer mehr durch egoistisches und nationalistisches konterkariert werden, wird mit dem Beitrag der Versuch unternommen, gegen Radikalisierungen und Fundamentalismen in jeder Form, insbesondere gegen die menschenfeindlichen, rechtsradikalen Tendenzen zu argumentieren. Als Grundlage dient dazu die Menschenrechtsdeklaration der Vereinten Nationen, in der es in der Präambel heißt: „Die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte bildet die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt“ [2]; sowie die Aufforderung zum Perspektivenwechsel, wie ihn die Weltkommission „Kultur und Entwicklung“ (1995) zum Ausdruck bringt: „Die Menschheit steht vor der Herausforderung umzudenken, sich umzuorientieren und gesellschaftlich umzuorganisieren, kurz: neue Lebensformen zu finden“ [3]. Im folgenden wird auf den interdisziplinären Diskurs aufmerksam gemacht, wie er sich im letzten Jahrzehnt darstellt und im Internet-Rezensionsdienst www.socialnet.de aufgenommen wird.

Tradition und Traditionalismus

Weil Traditionen sich in vielfältigen Formen zeigen und kontextuell auftreten, sind die wissenschaftlichen Zugänge zu der Frage was Traditionen sind und sich als Traditionalismen verdeutlichen, interdisziplinär zu betrachten, wobei die anthropologischen und ethnologischen Aspekte gewissermaßen Leitfunktionen haben können. Die Selbst- (und durchaus auch die Fremd-)identifikationen bei der Beschreibung und Zuordnung zu einer Tradition, etwa einer Volksgruppe oder Nation, hat sowohl identitätsstiftende, als auch ab- und ausgrenzende Bedeutung: „Ethnische Identität (ist) immer das Produkt externer und interner Definition“. Es zeigt sich die Janusköpfigkeit der Begrifflichkeiten und der Haltungen und fordert geradezu heraus, die unterschiedlichen, positiven und negativen Strukturen und Wirklichkeiten zu analysieren. Der Kultur- und Sozialanthropologe der Universität Wien und Präsident der Anthropologischen Gesellschaft Wien, Hermann Mückler und der Direktor des Paulo-Freire-Zentrums für transdisziplinäre Entwicklungsforschung und dialogische Bildung in Wien, Gerald Faschingeder, geben einen Sammelband heraus, in dem mehr als ein Dutzend Autorinnen und Autoren fachspezifisch und fächerübergreifend wissenschaftssystematisch den Fragen nach den Unterscheidungsmerkmalen von „Tradition“ und „Traditionalismus“ nachgehen. In den unterschiedlichen Theoriebildungen zeigen sich Strukturen, bei denen sich „Traditionen ... durch Integrität, Kontinuität und Authentizität auszeichnen, in ihrer Orientierung an die Vergangenheit derart, dass Vergangenheit einen erheblichen Einfluss auf die Gegenwart ausübt“, wie dies der britische Soziologe Anthony Giddens ausdrückt, während sich im Traditionalismus „Umdeutungen, Neudeutungen und Erfindungen von Wurzeln, Traditionen und zu Legitimations- (und Herrschafts-, JS)zwecken  vor allem in Zeiten kollektiver gesellschaftlicher Desorientierung“ vollziehen und sich nationalistisches Denken und Agieren breit macht und Anerkennung findet. Die Unterschiedlichkeiten von Tradition und Traditionalismus zeigen sich in Realitäten und Realitätsverkennungen. Traditionalistisches Denken und Handeln kann sich sowohl in Fehldeutungen und -einschätzungen, als Einbildung, Immagination, Erdichtung, Fiktion, Trugbild oder Wunschtraum darstellen, scheinbare Gewissheiten produzieren und „einfache“ Antworten anbieten. Falschen Traditionen aufzusitzen kann individuelle, kulturelle und gesellschaftliche Identitäten fehlleiten oder gar zerstören [4].

Egozentrismus als menschheitszerstörerisches Denken und Tun

Das Skandalon des kapitalistischen Reichtums und der prekären Armut in der Welt gilt auf der einen Seite als natürliche, selektive Entwicklung; auf der anderen aber vor allem als eine gravierende Fehlentwicklung. Klar sollte sein, dass die Tatsache, dass die Reichen lokal und global immer reicher und die Habenichtse und Armen immer ärmer werden, nicht einfach hinzunehmen und als Tatsache des Handelns des homo oeconomicus zu akzeptieren ist. Denn die Folgen dieser ungerechten Entwicklung - Hungersnöte, gesellschaftliche Konflikte, Migration, Terror, Radikalismen und Fundamentalismen - bedürfen einer dringenden genaueren Betrachtung, und sie müssen Bestandteil eines allumfassenden Lern- und Veränderungsprozesses werden, sollen nicht die Aufmerksamkeiten und ethischen Forderungen, wie sie sich im Menschenrechtsdiskurs vollziehen, durch egoistische und menschenverachtende Entwicklungen kassiert werden. Es sind Systemkritiker und kritische Geister, wie etwa der Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Frank Schirrmacher (+), die auf die wesentlichen Ursachen dieser Fehlentwicklung hinweisen und auffordern, eine andere, bessere und gerechtere (Eine) Welt zu schaffen. Er stellt seiner Warnung, dass im ökonomischen Spiel der Finanz- und Kapitalmacht ein egoistisches, von Misstrauen getragenes und aus Verzweiflung und Angst gesteuertes Monster heranwächst, das alle ethischen und moralischen Prämissen des sozialen Menschseins außer Kraft setzt, den Rat des französischen Philosophen und Soziologen Michel Foucault voran: „Wir sollten nicht zu entdecken versuchen, wer wir sind, sondern was wir uns weigern zu sein“. Damit legt er den Fokus seiner Analyse über den Zustand der Welt darauf, dass es nicht zu spät ist, den Paradigmenwechsel zu vollziehen – und vor allem, dass nicht die Ohnmacht der Individuen dies verhindert, sondern die Macht jedes Einzelnen es ermöglichen kann. Seinem Rat zur „Optimierung des Spiels“ fügt er die Hoffnung zur „Optimierung des Menschen“ hinzu. Die Gefechte zwischen Ökonomie und Ökologie, zwischen Mehr-Wert und Gemeingut, zwischen Egoismus und mundaner Existenz, zwischen digitalisierter und wirklicher Kommunikation, sind noch nicht ausgefochten. Dem „Alles ist möglich“ ein „Ich spiele nicht mit“ entgegenzusetzen, ist leichter gesagt als getan. Aber es bleibt uns nichts anderes übrig, wollen wir das Hasard-Spiel nicht mitspielen, als zu erkennen, dass der Finanz- und Informationskapitalismus nackt ist und mit Frank Schirrmacher festzustellen: „Die Antwort war (ist) falsch“ [5].

Nationalismus und Ethnizität

Der englische Sozialhistoriker und Sozialwissenschaftler Eric John Blair Hobsbawm geht davon aus, dass Nationalität und Nationalismus zwar meist von oben konstruiert wird, jedoch nicht richtig verstanden werden könne, wenn sie nicht auch von unten analysiert würden, also die Hoffnungen, Bedürfnisse, Sehnsüchte und Interessen der "kleinen Leute" berücksichtige, die sich nicht grundsätzlich national oder gar nationalistisch verhielten. Diesem gängigen Erklärungsmuster widerspricht der Soziologe von der Universität von Kalifornien, Roger Brubaker. Er verneint, dass es bei ethnischen, rassischen und nationalen Konflikten so etwas wie einen ethnischen Commonsense gäbe. Zwar zeigten sich in der ethnopolitischen Praxis Kategorien von sozialem, gesellschaftlichem und politischem Verhalten, die auf Zugehörigkeiten von Gruppen schließen ließen und bestimmte Vorstellungen, Wünsche und Ziele verdinglichten, also in gesellschaftliche und politische Forderungen umsetzen ließen; weil aber diese Kategorien darauf angelegt seien, "aufzurütteln, zu beschwören, zu rechtfertigen, zu mobilisieren, anzustacheln und anzuspornen", wirkten sie bei der Berücksichtigung für analytische Arbeiten performatorisch: "Indem sie sich auf Gruppen berufen, versuchen sie, sie entstehen zu lassen, sie zu beschwören, sie ins Leben zu rufen". Damit wendet er sich gegen den in den Sozialwissenschaften seit Jahrzehnten üblichen "Gruppismus", der Auffassung nämlich, dass "abgegrenzte Gruppen als fundamentale Analyseeinheiten (und grundlegende Konstituenten der gesellschaftlichen Welt)" aufzufassen wären. Die Zielsetzung seiner Analysen formiert sich in der Beantwortung der Frage, wie ethnische Konflikte zu verstehen und zu analysieren seien. Er fordert auf, Begriffe wie "Ethnizität, Rasse oder Nation nicht auf wesenhafte Gruppen oder Gebilde bezogen (zu) denken, sondern auf praktische Kategorien situativen Handelns, kulturelle Redensarten, kognitive Schemata, diskursive Deutungsmuster, organisatorische Routine, institutionelle Formen, politische Projekte und zufällige Ereignisse" zu befragen. Mit dem Begriff der "Identität" und der „Identitätspolitik“ holt er ein Selbstverständnis ans Licht, das sich in affektiven Gefühlen der Affinität oder Zugehörigkeit, Gemeinsamkeit oder Verbundenheit gegenüber ganz bestimmten anderen Menschen zeigt, jedoch ohne das Gefühl eines überragenden Einsseins mit einem konstitutiven `Anderen`" zu verdeutlichen. Bei der begrifflich unscharfen Unterscheidung zwischen staatsbürgerlichem und ethnischem Nationalismus in der Nationalitäts- und Nationalismusforschung kommt es zu Mehrdeutigkeiten, die eine wissenschaftliche Analyse erschweren und eine Bewertung fragwürdig machen. Er schlägt deshalb vor, eine "Unterscheidung zwischen staatlich geprägter und gegenstaatlicher Nationalität" vorzunehmen [6].

Germanozentrismus

Der Historiker von der Universität Frankfurt/M, Johannes Fried, hat 1994 ein Buch mit dem Titel „Die Anfänge der Deutschen“ veröffentlicht. Damit zeigt er auf, dass die Deutschen kein gottgegebenes Volk sind, wie dies über Jahrzehnte hinweg Ethnozentristen und Nationalisten glauben machen wollen. Denn die so genannten Ur-Deutschen, die Germanen, sind aus einem Völkergemisch hervorgegangen, das zwischen dem siebten und zehnten Jahrhundert in den Gebieten des Rheins, der Donau und der Oder siedelten. Es waren Stämme wie die Sachsen, Bajuwaren, Böhmen, Alemannen und Franken, die sich im Laufe der Jahrhunderte vermischten und sich zu politischen Einheiten zusammenschlossen; zum Beispiel zum Königtum des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation, das von Italien dominiert und geführt wurde. Der Historiker Johannes Fried geht davon aus, dass ein „deutsches Bewusstsein“ sich im 12. Jahrhundert an den europäischen Universitäten entwickelte, als sich die Studenten, die von überall her kamen, zu Gruppen der eigenen Herkunft zusammen fanden und Erzählungen und Legenden entwickelten zur Frage: Woher kommen wir? So verbreiteten etwa die Bayern, dass ihre Vorfahren aus dem Orient eingewandert seien. Es war ihnen jedenfalls bewusst, dass ihre Abstammung aus jahrhundertealten Verbindungen und Vermischungen aus vielen Völkern und Stämmen entstanden ist. Der Schriftsteller Carl Zuckmayer hat in seinem 1945 verfassten Drama und Theaterstück „Des Teufels General“ die richtige Antwort gegeben. Als der Adjutant Hartmann dem General Harras gestand, dass Fräulein von Mohrungen die Verlobung zu ihm gelöst habe, „wegen einer Unklarheit in meinem Stammbaum“, wie er erklärte; weil nämlich Hartmanns Familie vom Rhein stamme und seine Urgroßmutter aus dem Ausland gekommen sei, da brauste General Harras los: „Da läuft so ein armer Junge mit einer unbestimmbaren Urgroßmutter herum... Denken Sie doch, was kann da nicht alles vorgekommen sein in einer alten Familie. Vom Rhein – der großen Völkermühle... Und jetzt stellen Sie sich doch mal Ihre Ahnenreihe vor – seit Christi Geburt. Da war ein römischer Feldhauptmann, ein schwarzer Kerl, braun wie ne reife Olive, der hat einem blonden Mädchen Latein beigebracht. Und dann kam ein jüdischer Gewürzhändler in die Familie, der ist noch vor der Heirat Christ geworden und hat die katholische Haustradition begründet. Und dann kam ein griechischer Arzt dazu, oder ein keltischer Legionär, ein Graubündner Landsknecht, ein schwedischer Reiter, ein Soldat Napoleons, ein desertierter Kosak, ein Schwarzwälder Flözer, ein wandernder Müllersbursch aus dem Elsass, ein dicker Schiffer aus Holland, ein Magyar, ein Pandur, ein Offizier aus Wien, ein französischer Schauspieler, ein böhmischer Musiker – das hat alles am Rhein gelebt, gerauft, gesoffen und gesungen und Kinder gezeugt...“. Im Entwurf der bisher leider nicht verabschiedeten Verfassung für Europa heißt es in der Präambel unter anderem: „In dem Bewusstsein, dass der Kontinent Europa ein Träger der Zivilisation ist und dass seine Bewohner, die ihn seit den Anfängen der Menschheit in immer neuen Schüben besiedelt haben, im Laufe der Jahrhunderte die Werte entwickelt haben, die den Humanismus begründen: Gleichheit der Menschen, Freiheit, Geltung der Vernunft“. Diese europäische Identität steht heute auf dem Spiel. Der Historiker Johannes Fried schlägt den Bogen von den Anfängen der Entwicklung einer deutschen Identität hin zur Situation, wie wir sie heute mit den globalen Wanderungs- und Fluchtbewegungen erleben, indem er appelliert: „Wir haben unseren Namen von den Italienern, die Demokratie von den Franzosen, wir lesen die Literatur der Welt, seit unseren Anfängen sind wir ein Produkt von Zuwanderung und Akkulturation. Die Migranten und Flüchtlinge, die jetzt kommen, werden uns abermals verändern“ [7].  Das aber ist kein Nachteil und schon gar keine Katastrophe, sondern eine Chance, uns human weiterzuentwickeln. Hetzkampagnen, rassistische Parolen oder auch Ängste schaden diesem Aufklärungshoffen!

Machtmissbrauch

Macht, im persönlichen wie vor allem in der Innen- und Außenpolitik wird im allgemeinen beschrieben als die Herrschaft von Menschen über Menschen und Dinge und Einfluss darüber auszuüben, die Wahrnehmung und/oder das Verhalten anderer zu kontrollieren und zu verändern (I.C.Macmillan). In der philosophischen Bedeutung, etwa bei Aristoteles, wird Macht, dynamis, als das Vermögen oder die Möglichkeit bezeichnet, etwas, was der Mensch besitzt oder wozu er fähig ist, zu verändern, auszuüben oder zu bewerkstelligen. Ein Mächtigsein ist somit „ein Wirklichsein, das von der Möglichkeit her zu verstehen ist“. Jeder Mensch übt in irgend einer Form Herrschaft aus, die von der Herrschaft und Beherrschtheit über sich selbst bis zur Herrschaft über andere Dinge und Menschen reicht. Als zôon politikon, als politisches Lebewesen, das von Natur aus mit Vernunft und dem Willen ausgestattet ist, in Gemeinschaft mit anderen Menschen zu leben und ein gutes Leben anzustreben, ist der Mensch Macht- und Moralwesen zugleich und es bedarf der Fähigkeit und Bereitschaft, Macht und Herrschaft im Sinne einer „Lebenskunst“ zu zähmen und allgemeinverträglich zu gestalten. Im politischen und gesellschaftlichen Leben der Menschen bedarf es einer Ethik, die den Missbrauch von Macht verhindert. Macht hat immer auch mit vielfältigen, persönlichen, gesellschaftlichen und politischen Begehrlichkeiten zu tun, und bei Missbrauch von Macht fehlt die Obacht, was jemandem, der eine gesellschaftliche Aufgabe ausübt, gewissermaßen zusteht oder eben nicht zusteht. Es sind nicht selten die scheinbaren Selbstverständlichkeiten bei der Handhabe von Macht, die Unrechtsbewusstsein abhanden kommen lässt und die Machtausübung scheinbar zum Recht macht. Legitimierte Macht aber in einer Demokratie ist immer geliehen und begrenzt im Rahmen der Gesetze, Werte und Normen, die sich eine Gesellschaft gegeben hat. Zu einer demokratischen Machtausübung gehören unabdingbar und unverzichtbar Verantwortung und Disziplin. Denn es sind die Versuchungen und Verführungen, machtpolitisch und materiell, die Machtmissbrauch bewirken (George M. Ball, Disziplin der Macht. Voraussetzungen für eine neue Weltordnung, Frankfurt/M., 1968, 368 S.). „Arroganz der Macht“ soll ja zum Ausdruck bringen, dass hierbei von Menschen Macht missbraucht wird, als eine Verhaltensweise, die gemeinschaftsschädlich und menschenunwürdig ist. Der französische Philosoph Michel Foucault macht deutlich, dass Macht und Freiheit zusammen gehören. Wo also Macht in Unfreiheit ausgeübt wird und auf ideologischen Strukturen aufbaut, wird Macht als undemokratisches Herrschaftsmittel missbraucht [8]. Angesichts der sich immer interdependenter und entgrenzender entwickelnden Welt, die einher geht mit tatsächlichen und vermeintlichen, von den Menschen in Anspruch genommenen und missbrauchten Meinungs- und Freiheitsrechten, stellt der US-amerikanische Politikwissenschaftler der Harward-University und in der Clinton-Regierung als stellvertretender Verteidigungsminister fungierende Joseph Nye fest:  „Intelligente Macht ist die Kombination aus ‚harter‘ (mit Zuckerbrot und Peitsche operierender) Macht (hard power) und ‚sanfter‘, auf Überzeugungsarbeit und Attraktion setzender Macht (soft power)“. Er stellt ein Konzept vor, wie eine intelligente Machtstrategie human und gelingen kann, lokal und global [9].

Hierarchisierung

In sozialen Systemen und Ordnungen sind Hierarchien überwiegend in Verbindung von Autorität und Herrschaft zu betrachten. Sie wirken als Über- und Unterordnungsverhältnisse. Im Gegensatz dazu sind Heterarchien Systeme, die nach den Prinzipien der Gleichberechtigung, der Selbstbestimmung und Selbststeuerung funktionieren. Dadurch wird eine neue Ordnungsform von Gewalt wirksam, die auf eine „neue Form von Gesellschaft und Kultur“ zielt und ein neues Sicherheitsverständnis im menschlichen Dasein ermöglicht. Dass die Menschen kein absolut sicheres Dasein auf der Erde erwarten können, und dass das Leben in allen seinen Facetten und Situationen Risiko ist, gehört mittlerweile zum existenzphilosophischen und soziologischen Erkenntnisstand. Die Ansprüche und Erwartungshaltungen der Menschen, in den Zeiten der Unsicherheiten ein sicheres, soziales Leben führen zu können, wachsen. In dieser Kontroverse zeigen sich eine Reihe von Imponderabilien und Widersprüche, die im gesellschaftlichen Diskurs nicht immer objektiv und sachgerecht zu Wort kommen; etwa durch die Diskrepanz, dass der Sicherheitsanspruch möglicherweise Freiheitserwartungen tangieren kann [10]. Hans Hoch vom Fachbereich Geschichte und Soziologie der Universität Konstanz und Vorstand des Freiburger Instituts für angewandte Sozialwissenschaft und Peter Zoche vom Karlsruher Fraunhofer Institut für System- und Innovationsforschung geben den Sammelband „Sicherheiten und Unsicherheiten“ heraus. Sie analysieren und differenzieren mit den Verbindungslinien Sicherheit – Unsicherheit – Hierarchie – Heterarchie die vielfältigen Aspekte, die ein konfliktträchtiges menschliches Zusammenleben human ermöglicht und Formen von menschenunwürdigen Verhaltensweisen benennt und damit auf den gesellschaftlichen Pranger stellt [11] . Dass diese gesellschaftlichen Herausforderungen weder als Ordre mufti, noch als Laissez-faire gelingen kann, sondern nur mit einem demokratischen und partizipatorischen Bewusstsein, darauf verweisen der Direktor der Akademie für politische und soziale Bildung „Haus am Maiberg“ in Heppenheim / Bergstraße, Benedikt Widmaier, und der Politikdidaktiker der Goethe-Universität Frankfurt/M., Frank Nonnenmacher in dem Tagungsband: „Partizipation als Bildungsziel“ [12]

Intoleranz

Toleranz als die Fähigkeit, nicht nur das So- und Anderssein des Anderen zu dulden, sondern anzuerkennen und aktiv dafür einzutreten, gehört zu den Grundlagen eines aufgeklärten Menschseins. Die amerikanische Philosophin Martha Nussbaum nimmt diesen humanen Wert und macht daraus ihren Imperativ: „Erkenne dich selbst, damit du aus dir heraustreten kannst; diene der Gerechtigkeit und fördere den Frieden“. Sie warnt davor, dass sich in unserer Zeit die Tendenzen von individueller, gesellschaftlicher religiöser und politischer Intoleranz ethnische und nationale Egoismen und Rassismen verbreiten und scheinbar nicht nur an den Rändern, sondern in der Mitte der Gesellschaften akzeptiert und gelebt werden. Sie fordert dazu auf, den tatsächlichen und vermeintlichen Ängsten im lokal- und globalgesellschaftlichen Denken und Handeln mit einer aktiven Toleranz zu begegnen: „Angst ist eine ‚verdunkelnde Voreingenommenheit‘, ein intensiver Fokus auf die eigene Person, die andere Menschen in die Dunkelheit verbannt“ [13].  Mit dem Bild des „inneren Auges“ bringt die Autorin weitere Aspekte in den Diskurs: Respekt und mitfühlende Phantasie. Die Bedeutung von emotionalem Denken und Tun für ein friedliches, gesellschaftliches Zusammenleben der Menschen, hat sie bereits in ihrem Buch „Politische Emotionen“ zum Ausdruck gebracht [14].

Gewaltbereitschaft

Mit der Forderung, dass die Mystifizierung der Aggression im gesellschaftlichen Bewusstsein beendet werden müsse, tritt der an der Universität Freiburg lehrende Neurobiologe, Arzt und Psychotherapeut Joachim Bauer an die Öffentlichkeit. Er widerspricht der vorherrschenden Auffassung, dass es einen Aggressionstrieb gäbe, der den Menschen dazu verdamme oder auch leite, Gewalt als Überlebensstrategie auszuüben. Damit leitet er einen grundlegenden Perspektivenwechsel ein, der es lohnt, beachtet zu werden. Er fragt: Ist der Mensch ein Lebewesen, das Macht, Kampf und Gewalt in sich trägt und die Herrschaft über andere Menschen anstrebt, gewissermaßen also ausgestattet mit dem „Gewalt“- Gen? Und geboren mit dem (göttlichen) Auftrag: „Mache dir die Erde und alles was um dich herum und mit dir ist, untertan“? Ist der Mensch eine „Bestie“ oder ein „Gott“? Ein „Mutter-Teresa“-Typ oder ein Tyrann? Ist „Gewalttätigkeit“ ein Überlebensmerkmal? Oder ist der Gegensatz davon, die „Friedfertigkeit“, eine hoffnungslos veraltete und nostalgische Illusion?. Ist die „Gewaltenteilung“, die in der Demokratie zu den konstitutiven und unverzichtbaren Merkmalen gehört, eine überholte Einrichtung, angesichts der ökonomischen und politischen Zwänge, die in der globalisierten Welt herrschen? Die Frage, ob evolutionäre oder revolutionäre Einflüsse den Menschen zu einem Konfliktwesen gemacht haben, einem Aggressivo, einem Teufel; oder ob das Bild vom Angelus, dem friedfertigen, duldsamen und empathischen Engel, nur eine Märchenerzählung ist - diese Kontroversen ziehen sich durch die ganze Menschheitsgeschichte, genau so wie die Frage, was das „so genannte Böse“ (Konrad Lorenz) macht. Die zahlreichen Theorien um Macht, Gewalt, Aggression kreisen um zwei Angelpunkte, die sich entweder auf einen eher resignativen, „faktischen“ Grundtatbestand berufen, dass der Aggressionstrieb im Menschen sein Handeln bestimme, oder die Auffassung, dass aggressives und gewalttätiges Tun ein Prozess im kulturellen und zivilisatorischen Dasein der Menschen ist, also entsteht, nicht besteht. Das Plazet, das er in seiner informativen  Analyse zur Beachtung der neurobiologischen „Schmerzgrenze“ von aggressivem und gewalttätigem menschlichen Verhalten formuliert, macht überzeugend deutlich, dass „das menschliche Gehirn ( ) über einen neurobiologisch verankerten Sinn für Gerechtigkeit (verfügt)“, der Mensch also in der Lage und fähig ist, „gut“ zu sein und human zu handeln. Wie ein „gutes Leben“ möglich ist, wie dies bereits Aristoteles mit seinem eu zên, dem guten Leben postuliert hat, das der Mensch Kraft seines Verstandes erreichen könne, hängt also nicht von Trieben und Genen, sondern vom Wollen ab! Diese neurobiologische Erkenntnis ist es, die Joachim Bauer mit Recht von einem Umdenken sprechen und daran erinnern lässt, dass unser Gehirn über ein „Aggressionsgedächtnis“ verfügt, das es zu kennen, zu beachten und zu leben gilt [15].

Rechtsradikal?

In den acht von den zahlreichen, eher zufällig ausgewählten Ursachen- und Begründungszusammenhängen sollte verdeutlicht werden, welche Gründe und Ursachen dafür verantwortlich sein können, dass sich in Deutschland, in Europa und weltweit Tendenzen und Entwicklungen zeigen, die als (deutsch-) ethnotümelnd, fremden-, islamophobob und (demokratie-)systemfeindlich daher kommen [16]. Das Aggressions- und Ignorationspotential, das sich beim sogenannten „Wutbürger“ zeigt, wirkt verstörend und unverständlich bei Menschen, die sich darum bemühen, individuelles und gesellschaftliches, politisches Handeln nicht mit der allzu simplen Ja-Nein-Messlatte wahrzunehmen, sondern mit dem Bewusstsein zu leben, dass es einer intellektuellen Anstrengung bedarf, zwischen den Polen Tun und Unterlassen im humanen Miteinander unterscheiden zu können [17]. Das bleibt schließlich die Frage, wie es gelingen kann, radikales, menschenverachtendes Denken und Handeln zu vermeiden. Der „aufrechte Gang“, als physiologisches Phänomen, wird in der Evolutionstheorie als entscheidende Entwicklungsstufe des anthrôpos hin zum homo sapiens angesehen. Gleichzeitig mit der biologischen Bestimmung wird die physiologische Bedeutung dieser evolutionären Entwicklung hervorgehoben, was sich z. B. in zahlreichen Sprichwörtern und Deutungen zeigt („Wer sichere Schritte tun will, muss sie langsam tun“, Goethe), in Liedern Aufforderungscharakter hat („Wann wir schreiten Seit´ an Seit´“, programmatisches Lied der sozialdemokratischen Arbeiterjugend) und in der Literatur und Kunst in vielfältiger Weise bearbeitet wird; oder zum Ausdruck kommt in Ehrungen, etwa wenn die Humanistische Union den Bürgerrechtspreis „Aufrechter Gang“ auslobt, oder sich Vereine und Bürgerinitiativen den Namen „Aufrechter Gang“ geben. Der an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster Praktische Philosophie lehrende Kurt Bayertz stellt fest, dass im Denken der Menschen zwar die Bedeutung des aufrechten Gangs in vielfachen Formen präsent ist; dass aber eine „Geschichte des aufrechten Gangs“ aus anthropologischer und philosophischer Sicht bisher nicht vorliegt. Dies will er mit seinem Buch ändern. Er will damit aufzeigen, welche verschiedenen Interpretationen die Tatsache des menschlichen aufrechten Gangs über die Jahrhunderte hinweg vorgenommen wurden, danach Ausschau halten, wie diese Deutungen in den jeweiligen historischen und kulturellen Zusammenhang gestellt wurden und dadurch die Hauptentwicklungslinien des anthropologischen Denkens aufzeigen [18]. Autor
Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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[1] Siehe dazu auch: Jos Schnurer, Ideologien und Irritationen. Ein interkulturelles Essay, 13.02.2014, zur socialnet Materialie

[2] Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948, in: Deutsche UNESCO-Kommission, Menschenrechte. Internationale Dokumente, Bonn 1981, S. 48

[3] Deutsche UNESCO-Kommission, Unsere kreative Vielfalt. Bericht der Weltkommission „Kultur und Entwicklung“ (Kurzfassung), 2. erweiterte Ausgabe, Bonn 1997, S. 18

[4] Hermann Mückler / Gerald Faschingeder, Hrsg., Tradition und Traditionalismus. Zur Instrumentalisierung eines Identitätskonzepts, 2012, zur Rezension

[5] Frank Schirrmacher, Ego. Das Spiel des Lebens, 2013, zur Rezension

[6] Rogers Brubaker, Ethnizität ohne Gruppen, 2007, zur Rezension

[7] „Kommen die Bayern aus dem Orient?“, Interview mit Johannes Fried, in: DIE ZEIT, Nr. 44 vom 29.10.2015

[8] Michel Foucault, Analytik der Macht, 2005, S. 288ff

[9] Joseph Nye, Macht im 21. Jahrhundert. Politische Strategien für ein neues Zeitalter, 2011, zur Rezension; sowie: Ingo Elbe / Sven Ellmers / Jan Eufinger, Hrsg., Anonyme Herrschaft. Zur Struktur moderner Machtverhältnisse, 2012, zur Rezension

[10] Herfried Münkler / Matthias Bohlender / Sabine Meurer, Hrsg., Sicherheit und Risiko. Über den Umgang mit Gefahr im 21. Jahrhundert, 2009, zur Rezension

[11] Hans Hoch, Hrsg., Sicherheiten und Unsicherheiten, 2014, zur Rezension

[12] Benedikt Widmaier / Frank Nonnenmacher, Hrsg., Partizipation als Bildungsziel. Politische Aktion in der politischen Bildung, 2011, zur Rezension

[13] Martha Nussbaum, Die neue religiöse Intoleranz. Ein Ausweg aus der Politik der Angst, 2014, zur Rezension

[14] Martha Nussbaum, Politische Emotionen. Warum Liebe für Gerechtigkeit wichtig ist, 2014, zur Rezension

[15] Joachim Bauer, Schmerzgrenze. Vom Ursprung alltäglicher und globaler Gewalt, 2011, zur Rezension

[16] Matthias Geis, Rechts überholt, in: DIE ZEIT, Nr. 44 vom 29.10.2015, S. 11

[17] Dieter Birnbacher, Tun und Unterlassen, 2014, zur Rezension

[18] Kurt Bayertz, Der aufrechte Gang. Eine Geschichte des anthropologischen Denkens, 2013, zur Rezension