Rettungsring
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Wie machst du das bloß?

In den letzten Wochen war ich mit so vielen Themen beschäftigt, und so viele Begegnungen haben mich ehrlich berührt. Ich weiß gar nicht wo ich anfangen soll oder worauf ich nun fokussieren könnte.
Also ich war bei einer Schreibwerkstatt, ein ganzes Wochenende schreiben, lesen, Texte überarbeiten. Natürlich habe ich dort von meiner Arbeit erzählt und dass ich darüber schreibe. Am zweiten Tag sprach mich eine Teilnehmerin an: „Puuuh! Ich habe deine Kolumnen gelesen. Ist ja echt heftig, was du da erlebst und was da los ist, in den Familien. Da nimmst du doch bestimmt viel mit nachhause. Ich könnte das nicht. Wie machst du das bloß?“

Hmmmm, denke ich, hoffentlich sind meine Geschichten keine Überforderung und schockieren die fachfremden Leserinnen und Leser, und gleichzeitig frage ich mich auch, ob ich mich an eine andere Normalität gewöhnt habe, weil wir ja wirklich viel Kummer, Leid und Probleme sehen.
„Also, naja, ich mag meine Arbeit, und eigentlich schaue ich mehr auf das was gelingt, und ich freue mich, weil es den Menschen meistens besser geht wenn die SPFH beendet wird, als zu Beginn. Sind meine Geschichten wirklich so schlimm? Ich hoffe du konntest gut schlafen.“

„Alles gut“, sagt sie. „Was ist denn aus Phil geworden, dem Jungen, der seine Depression loswerden wollte?“ Eine Antwort scheint sie nicht zu erwarten, denn sie erzählt weiter von sich, dass sie als Kind und als Jugendliche wahrscheinlich auch Depressionen hatte und dass sie manchmal gar nicht mehr leben wollte, dass sie auch so eine Katja Änderlich hätte gebrauchen können aber viel zu angepasst war und zu lieb und dass sie ihren Kummer nicht nach außen gezeigt hat. Sie ist schon fast 80, humorvoll, fröhlich, freundlich, dankbar und glücklich mit ihrem Leben, wie sie selbst sagt. Dass sie eine traurige Kindheit gehabt haben könnte, das wäre mir gar nicht in den Sinn gekommen. 

Zwei Tage später sitzt mir Herr Jürgens gegenüber. Eigentlich bin ich nicht zuständig sondern meine Kollegin. Die ist aber dauerkrank, und ich bin die Vertretung für den Krisenfall. Und Herr Jürgens ist echt in der Krise.
Die 15-jährige Tochter wurde gestern in der Klinik aufgenommen. Sie hatte einen Suizidversuch unternommen, und Herr Jürgens weint und weint und hält sich den Kopf, und ich weiß auch nicht was ich für ihn tun kann. Also sage ich so etwas wie „gut, dass sie so schnell reagiert haben“ und „was für ein Glück, dass sie lebt“ und dass die Tränen hier sein dürfen, und gleichzeitig ärgere ich mich, dass die Klinik ihn nicht auffängt. Haben die denn dort keine Psycholog:innen? Ich bin überfordert.

Nach dem Termin recherchiere ich zu Suizid und lese, dass es die häufigste Todesursache ist in Deutschland und dass 15% der Menschen, die an einer Depression erkrankt sind, sich das Leben nehmen, das heißt - eigentlich nehmen sie sich nicht das Leben sondern sie nehmen sich den Tod. Dabei gibt es doch gute Behandlungsmöglichkeiten.
Ich rufe direkt nochmal Herrn Jürgens an und frage wie es ihm geht. Er ist etwas stabiler, war bei seinem Hausarzt und ist eine Woche krankgeschrieben. Ich vergewissere mich, dass er auch die Nummer vom Krisentelefon hat, denn sonst könnte ich nicht gut schlafen.

Dann denke ich wieder an Gertrud, die Schreibgruppenteilnehmerin. Wie gut, dass wir unsere Telefonnummern getauscht haben. Ich möchte sie wiedersehen und fragen, wer oder was ihr damals geholfen hat und wie sie den Weg ins Leben fand.

Ihre Katja Änderlich