Werte? Werte!

von Dr. Jos Schnurer
18.04.2014

Collage Collage, zusammengestellt von Dr. Jos Schnurer
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Was bist du wert? Was bin ich wert? Was ist ein wertvolles Leben? Diese Allerweltsfragen haben es in sich! Denn sie fordern zum Denken heraus! Zum Vor- und Nachdenken darüber, wer ich bin und wer der andere ist! Ob mein Werte-Verständnis mit dem des anderen Menschen zusammen hängt, kompatibel ist und auf der gleichen Werteskala liegt wie meines. Wir sprechen von Identitäten und den Kompetenzen, sich selbst zu erkennen, um andere Menschen anerkennen zu können. Empathie wird diese Fähigkeit bezeichnet. Und im kollektiven und gesellschaftlichen Diskurs über die Frage, wie die Menschheit in der sich immer interdependenter, entgrenzender und unübersichtlicher gestaltenden (Einen?) Welt human überleben kann, kommt die Forderung auf, eine „empathische Zivilisation“ zu entwickeln und die globale Vision Wirklichkeit werden zu lassen: Kosmopolitisierung und globale Wissensgesellschaft, in der „niemand mehr fremd ist“ [1]. Der Wertediskurs wird geführt, seit Menschen denken können. Der griechische Philosoph Aristoteles hat definiert, dass der anthrôpos, der mit Vernunft ausgestattete Mensch in der Lage ist, aufgrund seines Verstandes Allgemeinurteile zu bilden, Schlussfolgerungen zu ziehen, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden und sein individuelles sittliches Verhalten als Gemeinschaftswesen gerecht zu gestalten [2]. Unser abendländisches Werteverständnis ist geprägt von den antiken griechischen Philosophen, wie es sich als metaphysisches Denken entwickelt und etabliert hat und sich als humane Ethik darstellt [3]. Dass aber eine Verständigung darüber, was grundlegende Werte sind, die menschliches Leben auf der Erde regeln und bestimmen sollen, nicht unumstritten ist, lässt sich aus der historischen [4] wie aktuellen Nachschau feststellen [5]. Die Frage nach Werten, die als allgemeingültige, auf der Grundlage der Würde des Menschen basierenden, globalen Verständigung besteht, wird umso komplizierter und strittiger, schauen wir uns nur an, wie schwer sich die Menschen tun, sich auf die globale Ethik zu einigen, wie sie von den Vereinten Nationen in der Menschenrechtserklärung von 1948 proklamiert wurde. Separatismen, Kulturrelativierungen , Nationalismen und Fundamentalismen verhindern bis heute, die Werte überall in der Welt anzuerkennen und zu verwirklichen, die in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte als Grundüberzeugung zum Ausdruck kommen: „Die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte bildet die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt“ [6].

Menschenbild

Die Erkenntnis, dass Menschen grundsätzlich wandelbare Lebewesen sind, als zôon logon echon sprach- und vernunftbegabt und als zôon politikon politisch, sozial und friedfertig ein eu zên, ein gutes, glücklich-gelingendes Leben anstreben (Aristoteles), hat ohne Zweifel dazu beigetragen, die humanen und philosophischen Auffassungen vom Menschsein in die Welt zu bringen. Die Weltkommission „Kultur und Entwicklung“ hat 1995 dazu aufgerufen, die „kreative Vielfalt“ der Menschheit als ein besonderes Merkmal in den lokalen und globalen, individuellen und kollektiven Diskurs um eine gerechte, soziale und friedliche Gegenwart und Zukunft der Menschen zu erkennen. Die conditio humana wird damit nicht in den Urgrund der Natur verwiesen, sondern als ein offener Prozess verstanden, der sich in der Geschichte des Menschlichen entfaltet und erschließt. Die historisch-anthropologische Forschung geht davon aus, dass „das Menschen Mögliche ( ) erkennbar (ist) an dem, was Menschen bisher möglich war, aber dieses ist nicht sein endgültiges Maß. Alles Dagewesene ist Menschen möglich, aber es ist keinesfalls schon alles Mögliche da gewesen“. Die historische Anthropologie will „Wissen von und über Menschen aus verschiedensten Epochen und Kulturen gleichsam zu einem Album des Menschlichen zusammenzufügen zu einer Erkundung des Menschlichen“, und zwar „im Rückblick auf geschichtlich und im Hinblick auf gegenwärtig verwirklichte Menschlichkeiten den reflexiven Horizont der Gegenwärtigen auf die Vielfalt der Möglichkeiten menschlicher Existenzweisen hin auszuweiten“ [7].

Selbst denken

Über Denken lässt sich trefflich streiten! Nach Aristoteles ist noêsis noêseôs, das Denken des Denkens ein Phänomen und ein Problem zugleich. Zum einen wird Denken stets durch das gedachte Objekt bestimmt und ist dadurch Objekt des Denkens; zum anderen hängt die Qualität des Denkens davon ab, was gedacht wird (M. Bordt, in: Otfried Höffe, Aristoteles-Lexikon, Stuttgart 2005, S. 374ff). Descartes und seine Adepten schließen Empfindungen, Fühlen und Wollen in das Denken ein; Kant sieht in der sinnlichen, vernunftbestimmten Anschauung die Grundlage des Denkens; Heidegger verbindet das Denken mit Metaphysik; und in der Neurophilosophie werden die Erkenntnis- und Kombinationsfähigkeit des Menschen hirnphysiologisch gedeutet. Die Frage „Was tun wir, wenn wir denken?“ beschäftigt die Menschheit philosophisch und alltäglich seit Jahrtausenden. Es ist so selbstverständlich „wie Gehen und Reden, Kauen und Appetithaben“ (Carl Friedrich Graumann, Hrsg., Denken, Köln 1969, S. 16); und so komplex, kompliziert und stellt sich als kontrovers dar, wenn über das Denken nachgedacht wird. Vom „Momentanismus der Existenz“ wird gesprochen, wenn die Denkfähigkeit des Menschen als eine individuelle, gegebene und sich in seiner existentiellen Entwicklung erweiternde Lebenskompetenz zeigt. In der philosophischen und psychologischen Diktion ist Denken nur dann bedeutsam, wenn Denken Grundlage des individuellen Bewusstseins ist, sich sowohl als kontinuierlicher wie auch wandelbarer Prozess darstellt und als unabhängiges Denken zeigt – weil der homo intellectus ein von Natur aus mit Vernunft begabtes Lebewesen ist. Die Frage danach, was unabhängiges Denken ist und wie es sich im philosophischen Diskurs zeigt, bedarf der vor-sichtigen Betrachtung, nämlich der historischen Reflexion darüber, wie sich unabhängiges Denken in seinen klassischen Erscheinungsformen entwickelt hat, um Kriterien für gegenwärtiges Denken zu gewinnen. Es sind die Kritik an und der Widerspruch von „felsenfesten Gültigkeiten“, die Kulturkritik auszeichnet. Um die Diskrepanzen und Widersprüche erklären zu können, muss auf „moderne Diskontinuität(en)“ hingewiesen werden. Es gilt, Begrifflichkeiten zu klären, wie sie im Diskurs um den „Momentanismus“ historisch und in der Moderne benutzt werden; etwa, was unter „Verzeitlichung“ beim angesagten Gesetz der Moderne verstanden wird. Der „Moment als Funktion“ und der „Moment als Substanz“ verdeutlichen sich in zahlreichen (literarischen und philosophischen) Fundstellen und machen deutlich, dass „der Wechsel von Funktion zur Substanz innerhalb der Verzeitlichungsmethaphorik nicht einfach epochenhistorisch erklärbar ist“. Der Philosoph Karl Heinz Bohrer sieht im „agonalen Denken“ die Chance, nicht (Denk-)Systeme aufzuzählen, sondern Denkprozesse zu beobachten. „Unabhängigkeit des Denkens“, die Wunschvorstellung des zôon politikon, zeigt sich im historischen, philosophischen und aktuell gesellschaftspolitischen Diskurs, lokal und global, eher als Ausnahme denn als Regel. Wie menschliches Denken, als Erkenntnis(gewinn) sich vollzieht und gewertet wird, ist ohne Zweifel einer Nachfrage wert. Karl Heinz Bohrer hat den Verdacht, dass die hehren Paradigmen und Zielsetzungen von der Unabhängigkeit des Denkens sich eher als Fata Morganen erweisen. Dabei schaut er nach bei Denkern wie Montaigne, Friedrich Schlegel, Nietzsche und anderen. „Wenn Unabhängigkeit…“, dabei bezieht sich der Autor auf diese, „als Kriterium des Denkens gilt…, wird dieses Kriterium selbst bald absehbar, abnutzbar“ [8]. Die Begriffsverbindungen, wie Mit-Denken, Vor-Denken, Nach-Denken, An-Denken, Be-Denken, Um-Denken, Ver-Denken, Selber-Denken… , verdeutlichen ja bereits, dass die Denkprozesse vielfältig, situations-, sach- und personenbezogen sind. Geradezu hinterwäldlerisch und daneben gilt, wenn Auffassungen vorherrschen, wie: „Da könnt‘ ja jeder kommen! Das haben wir noch nie so gemacht! Das haben wir schon immer so gemacht!“. Eine „Schule des Denkens“ gilt als hohe Form und Anforderung bei der Entwicklung des Menschseins. Es gibt Orte des Denkens, wie etwa das Tiroler Bauerndorf Alpbach, in dem das „Europäische Forum“ alljährlich Wissenschaftler, Philosophen, Politiker und Denker zu Wort kommen lässt, um die Lage der Menschheit zu analysieren und zu erkunden. Und es gibt Institutionen, wie Schulen, Universitäten und Volkshochschulen, in denen das Denken gelehrt wird und gelernt werden kann. Weil nämlich der Mensch intellektuell nur fähig ist, human zu leben, wenn er es zustande bringt, sich (auch) geistig zu verändern und den Wandel als einen natürlichen Prozess des Menschseins begreift, kommt eben dem Denken eine besondere Herausforderung zu; jedoch in der Form, die der US-amerikanische Psychiater Arnold R. Beisser so kennzeichnet: „Veränderung geschieht, wenn jemand wird, was er ist, nicht wenn er versucht, etwas zu werden, was er nicht ist“ [9].

Bewusstsein ist nicht nur Wachsein

„cogito ergo sum“ („ich denke, also bin ich“), so drückte der französische Philosoph und Naturwissenschaftler René Descartes (1596 – 1650) das Wissen über sich selbst aus, wobei er auswies, dass der Mensch sich seiner Gedanken unmittelbar bewusst sei, während er die Dinge, die von der Außenwelt auf ihn einwirken, nur unmittelbar aufnehme (vgl. dazu: Martin Gessmann, Philosophisches Wörterbuch, Stuttgart 2009, S. 96). Es zeigt sich also bereits in dieser frühen philosophischen Zuordnung, dass unser Bewusstsein Bestandteil unseres Geistes und damit unseres individuellen Daseins ist. „Ohne Bewusstsein ist die persönliche Sichtweise aufgehoben, wir wissen nichts von unserer Existenz, und wir wissen auch nicht, dass irgendetwas anderes existiert“. Die existentielle Frage „Wer bin ich?“, die jeder Mensch sich stellt und stellen muss, ist ja für die eigene wie die kollektive Identität die Grundlage für das Menschsein und die Menschlichkeit. Es ist eine philosophische und alltägliche Frage; und die Antworten darauf stellen sich als Selbstverständlichkeiten wie Überraschungen und Entdeckungen dar. Wie aber entsteht unser Bewusstsein? Auch auf diese Frage gibt es philosophische Antworten wie Vermutungen. Eine der Antworten lautet: Aus unserem bewussten Geist. Was aber unser Geist ist, lässt sich wiederum nicht messen und schon gar nicht anschauen; denn unseren Geist spüren wir nur selbst von unserem Innern heraus. Die Vermutung, dass unser Geist in unserem Gehirn entsteht, ruft – neben den Philosophen – diejenigen auf den Plan, die unser Gehirn als ein Organ kennen: Die Neurologen und Psychologen. Der portugiesische Neurowissenschaftler von der University of Southern California, António R. Damásio, setzt sich in seinem Buch „Selbst ist der Mensch“ mit zwei spannenden Fragen auseinander: „Wie baut das Gehirn einen Geist auf?“ und „Wie sorgt das Gehirn in diesem Geist für Bewusstsein?“. Damasios Forschungen zum Bewusstsein gehen auf Konfrontation zu der bisherigen, durch Descartes überkommenen Postulate, dass es eine Trennung zwischen Körper und Geist gebe; er geht vielmehr davon aus, dass ein konstitutiver Zusammenhang zwischen Körper und Geist bestehe und sich die Eigenschaften ständig gegenseitig beeinflussten. „Das Geheimnis des Bewusstseins“, sagt Antonio Damasio, „ist nach wie vor ein Geheimnis, auch wenn wir ein wenig weiter vorgedrungen sind“. Der Autor liefert mit seiner Arbeit über Körper, Geist und Entstehung des menschlichen Bewusstseins einen wichtigen Baustein für ein Bewusstsein des Selbst. Der bewusste Geist wächst aus der Geschichte der Lebenssteuerung, was bedeutet, dass das Individuum in der Lage ist, Bewusstsein als dynamischen Prozess wahrzunehmen und zu verstehen [10].

Wenn unser Gehirn sich verändert, verändern wir uns mit ihm

Das Gehirn, als Zentralnervensystem unseres Körpers, ist seit Menschengedenken Forschungs- und Spekulationsobjekt. Die Erkenntnis, dass das Gehirn des Menschen aus zwei Hälften besteht, die jeweils unterschiedliche Funktionen ausüben, erkannten bereits die antiken Denker. Aristoteles etwa gliederte das enkephalos, in ein „kaltes“ und ein „warmes“ Gehirn, das die Aufgabe hat, „die kochende Wärme des Herzens auszugleichen und ein ideales Temperaturverhältnis herzustellen“.Nach den moderneren Vorstellungen befindet sich im Großhirn das Zentrum unserer Wahrnehmungen, unseres Bewusstseins, Denkens, Fühlens und Handelns. Es sind insbesondere die neurophysiologischen und -wissenschaftlichen Forschungen, die in der öffentlichen Meinung euphorische, euphemische, empathische wie enragierte und eskapatische Auffassungen der Bedeutung der (Spiegel-)Neuronen für das Denken und Verhalten der Menschen hervorrufen [11]. Der Aufbau des menschlichen Gehirns aus mehreren Hundert Milliarden Zellen verursacht beim naiven wie beim wissenschaftlichen Betrachter eher Staunen denn Wissen; und in der neurowissenschaftlichen Forschung wird immer deutlicher, dass ein Mehr-Wissen über das, was Denken, Fühlen, Erfahren und Erleben beim Menschen ausmacht, nur als gemeinsame Anstrengung der Wissensdisziplinen, der Biologie, Medizin, Psychologie, Philosophie, Sprachwissenschaften, Mathematik, Physik…, möglich ist. Die sich daraus ergebenden Forschungsergebnisse füllen mittlerweile ganze Bibliotheken; und die Befürworter wie Kritiker zum Erkenntnisstand über das menschliche Gehirn tappen vielfach weiterhin im Dunkeln, bzw. haben sich mit ihren Konzepten mehr oder weniger eingeigelt. Der 1971 geborene US-amerikanischer Neurowissenschaftler David M. Eagleman lehrt und forscht am Baylor College of Medicine in Houston. Er ist bereits mit mehreren Publikationen u. a. über das menschliche Wahrnehmungsvermögen hervorgetreten. Die Europäische Zentralbank ist auf seine Forschungen über fälschungssicherere Eurobanknoten aufmerksam geworden und konnte ihn als Berater gewinnen. 2011 hat er sein Buch „Incognito. The Secret Lives of the Brain“ veröffentlicht, das nunmehr in deutscher Sprache vorliegt. Darin unternimmt der den Versuch zu argumentieren, dass bei diesen ungeheuren Ungewissheiten und Unverständlichkeiten – und bei den allzu wenigen Gewissheiten, wie unser Gehirn funktioniert – nicht das große Malheur ausbrechen, nicht Fatalismus oder Verzweiflung einstellen muss, sondern Neugier und Wissensanstrengungen Entdeckungen sichtbar werden können, „die wunderbarer sind als alles, was wir uns haben träumen lassen“, auch, dass „unser neues Verständnis des menschlichen Verhaltens ( ) sich direkt in eine bessere Gesellschaftspolitik übersetzen (lässt)“ [12].

„Die Magie der Sprache und die Sprache der Magie“

Manchmal wird aus ersten, zögerlichen, zurückhaltenden Kontakten ein Gespräch, und es blitzen auf Gedanken als Kontroversen und Übereinstimmungen. Die Suche nach einer Ethik für das menschliche Dasein, lokal und global, bestimmt ja das philosophische, alltägliche und gesellschaftliche Denken, seit Menschen ihre Gedanken, Programmatiken und Lehren in Worte fassen, aufschreiben und öffentlich machen. Der österreichisch-US-amerikanische Physiker und Philosoph Heinz von Foerster (1911 – 2002) war als Vertreter des radikalen Konstruktivismus ein gefragter Experte und Vortragender. Foerster hielt beim 14. Weltkongress für soziale Psychiatrie im Frühjahr 1994 in Hamburg den Eröffnungsvortrag, den er, in Anlehnung an das Kongressthema „Abschied von Babylon“ den Titel gab: „Die Magie der Sprache und die Sprache der Magie“. Der junge Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen interviewte von Foerster im Auftrag des Hamburger Abendblatts. Die Ergebnisse des Gesprächs Pörksens mit Foerster erscheinen mit dem Titel: „Ich versuche einen Tanz mit der Welt“. Der Carl-Auer-Systeme Verlag in Heidelberg schlägt daraufhin vor, das Gespräch 1997 am Wohnort von Foerster in Kalifornien fortzusetzen. Daraus entsteht 1998 die erste Auflage des Buches. Wenn nun, 2012, die neunte Auflage erscheint, lässt sich vermuten, dass die Gesprächsergebnisse nicht nur Aufmerksamkeit beim Fachpublikum, sondern auch bei einem breiteren Leserinnen-  und Leserkreis finden. Das hat nicht zuletzt damit zu tun, dass, wie Bernhard Pörksen als Herausgeber der Reihe „Systemische Horizonte – Theorie der Praxis“ im Carl-Auer-Verlag feststellt: „Die wilden Jahren des Konstruktivismus und der Systemtheorie sind vorbei. Inzwischen ist das konstruktivistische und systemische Denken auf dem Weg zum etablierten Paradigma und zur normal sciense“. Die Provokationen der Anfangsjahre des Konstruktivismus, wie sie u. a. Heinz von Foerster beförderte, seien, so Pörksen, zu Gewissheiten von heute geworden [13].

Die Bezeichnung „Homo sapiens“ – „der weise Mensch“ – ist ein Etikettenschwindel

Leben ist eines der schwierigsten! Weil beim Leben immer auch das Risiko mitspielt! Oder ist Leben eines der natürlichsten Dinge der Welt? Mit solchen Fragen scheinen wir Menschen uns immer wieder schwer zu tun! Denn einerseits bringen alltäglich zum Bewusstsein, dass Ungewissheiten, Unsicherheiten und Krisen unser Leben beeinflussen, stören und bestimmen – so dass die Weltrisikogesellschaft eine globale Verantwortungsethik, eine transnationale Gemeinsamkeitsethik, eine globale Gewaltenteilung und Zusammenarbeit erforderlich machen [14], andererseits, weil Risiko überall ist und jeweils unterschiedlich wahr genommen und erlebt wird, die Empfindungen und Abwehrmechanismen gegen Bedrohungen und Katastrophen – ob es sich um die Atombombe, ein Terrorattentat, eine Hungerkatastrophe, Wirtschafts-, Finanz- oder Umweltkrisen oder um genmanipulierte Entwicklungen handelt – mit unterschiedlichen Strategien angegangen werden müssen [15]. Die Störanfälligkeit, Gefahren- und Bedrohungssensibilität in den modernen Gesellschaften wächst zudem in völlig unterschiedlichen Ausprägungen [16]. Der Psychologe, Direktor des Berliner Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung und des Harding-Zentrums für Risikokompetenz, Gerd Gigerenzer, hat sich bereits mehrmals zu Wort gemeldet, wenn es um den richtigen Umgang mit Zahlen, Statistiken und Risiken (2002) und um Fragen nach Unbewusstem und Intuitivem bei menschlichen Entscheidungen geht (2007). Er ist als Coach und Trainer bei politischen Entscheidungsträgern und für gesellschaftliche Prozesse Verantwortlichen tätig. Allerdings: Er setzt sich nicht „aufs hohe Ross“ und glaubt, mit seiner Expertenmeinung könne er die Fähigkeit der Menschen beeinflussen oder steigern, Risiken vermeiden zu können. Vielmehr macht er sich auf den Weg, anhand von einleuchtenden, eher alltäglich erscheinenden Beispielen und Erfahrungen aufzuzeigen, dass jeder den Umgang mit Risiko und Ungewissheit lernen kann (weil er in verständlicher Sprache deutlich und Mut macht, sich des eigenen Verstandes zu bedienen), Experten(meinungen) eher ein Teil des Problems als die Lösung sind (weil er verständlich macht, dass die Fähigkeit, Risiken zu verstehen, meist nicht mit Expertisen zu vermitteln ist), weniger mehr ist (weil er zu erklären vermag, dass Problemlösungen nur selten komplex und allumfassend möglich sind) [17].

Differenzen im Dialog

Menschen sind differente Lebewesen; das ist eine redundante Aussage, die sich erst in der Bedeutungsdifferenzierung erschließt. Beim 7. Treffen des interdisziplinären Netzwerks an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, in dem sich vorwiegend junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zusammen gefunden haben, um interdisziplinär über Fragen der lokalen und globalen gesellschaftlichen Orientierungen nachzudenken und zu forschen, stand die bedeutsame Thematik im Mittelpunkt: „Differenzen leben“. Differenzen an sich bedingen nicht schon soziale oder gesellschaftliche Probleme; vielmehr sind es die individuell und gesellschaftlich gemachten Unterschiede, die Differenzen zum Problem werden lassen. Differenzen denken und leben, ausprobieren, auf direkten Wegen und auf Umwegen erreichen, erhoffen und über Stichpunkte erzwingen, das sind Vorsätze, die zu Hauptsätzen werden müssen. Weil Herrschaft von Menschen über Menschen nicht konstitutiv und selbstverständlich ist und sein darf, sondern unterschiedlich ge-macht wird. Eine genaue „Analyse der Unterschiede verschiedener Herrschaftsstrukturen in ihren jeweiligen historisch sich wandelnden Erscheinungen“ ist erforderlich, um Differenz nicht von vornherein als negatives Moment zu betrachten, sondern zu erkennen, dass „eine große Fülle an Differenzen nicht zu sozialen und gesellschaftlichen Konflikten führt, sondern wie selbstverständlich im Zusammenleben integriert und gelebt wird“. Die vielfältigen Zugänge zum Differenzdiskurs, die von den Autorinnen und Autoren der Klagenfurter Initiative thematisiert werden, knüpfen Verbindungen zwischen kulturwissenschaftlichen Analysen und herrschaftskritischen Themen und öffnen so die Tür einen spaltbreit weiter, emanzipatorisches und basisdemokratisches Denken und Handeln bei Migrations- und Integrationsprozessen zu denken und zu leben und geschlechtsspezifische Perspektiven auf Inklusion und Exklusion aufzuzeigen [18].

Humanismus und Kritik = Weltbewusstsein

Der anthrôpos unterscheidet sich vom zôon, dem Tier, nicht nur dadurch, dass der Mensch ein sprach- und vernunftbegabtes Lebewesen ist, sondern auch Anteil am unvergänglichen und göttlichen Geist hat. Er ist somit fähig, seinen Lebensraum human zu gestalten. Der Sozialwissenschaftler Oliver Kozlarek von der Universidad Michoacana in Morelia / Mexiko, ist ein Weltensucher, der in den Geistes- und Kulturwissenschaften für eine „kulturelle Wende“ hin zu einem neuen humanistischen Denken wirbt, bei dem es darauf ankommt, in der wissenschaftlichen Forschung auf die „Kenntnis von den Menschen, die unsere Welt bewohnen, und ihren Kulturen inspiriert werden“ zu setzen. In der Zusammenschau von Humanismus und Kultur entwickelt der Autor eine humanistische Sozialtheorie für die globale Moderne, indem er „die Moderne … als planetarischen Zustand menschlicher Beziehungen“ begreift [19].

Moralische und religiöse Vielfalt

„Jedermann hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit“, so proklamiert es die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (1948) in Artikel 18. In der Menschheitsgeschichte herrscht von Beginn an ein ungeklärtes Verhältnis zwischen Religion und Politik, zwischen dem Anspruch von religiös-institutionellen und laizistischen Ordnungen, von säkularen bis hin zu fundamentalistischen Machtäußerungen. Die UNESCO, die Kulturorganisation der Vereinten Nationen, hat Anfang des Jahres 1994 im indischen New Delhi eine Konferenz zum Thema „Religion und Politik“ veranstaltet, bei der die „Idee eines souveränen Individuums unabhängig seiner Religionszugehörigkeit und Herkunft“ in der Vielfalt des intellektuellen, kulturellen, historischen und politischen Denkens der Menschen auf der Erde thematisiert wurde (vgl. dazu: UNESCO-Kurier 12/1994). Eine dezidierte, westliche Meinung lautet: Die Berufung auf einen göttlichen Willen zur Lösung gesellschaftlicher Probleme ist ein Teufelskreis (Flora Lewis); eine andere: Der Fundamentalismus hat eine Botschaft, die teilweise den unbefriedigten Erwartungen in der heutigen Welt entspricht (Mahmoud Hussein). „Der Umgang mit moralischer und religiöser Vielfalt ist eine der größten Herausforderungen, mit denen unsere Gesellschaften gegenwärtig konfrontiert sind“; das zeigt sich alltäglich auf den Bildschirmen und den realen Lebens- und Gefahrenssituationen in der Welt. Wie ein friedliches, gerechtes, gleichberechtigtes und humanes Zusammenleben der Menschen in einer Gesellschaft wie auch weltweit ermöglicht werden kann, wird in zahlreichen Deklarationen, Appellen und Verfassungen formuliert, als „Kampf der Kulturen“ (Samuel P. Huntington) manifestiert und „Jenseits vom Kampf der Kulturen“ postuliert [20]. Die bange Frage, wie viel Transnationalismus die (eine) Kultur angesichts der globalen, kulturellen Mobilität verträgt steht zur Disposition. Die beiden kanadischen Philosophen Jocelyn Maclure und Charles Taylor, waren Mitglieder einer von der kanadischen Regierung 2007 eingesetzten Kommission (CCPARDC), die Antworten auf die kontroversen Diskussionen und Positionen finden sollten, welche Bedeutung Religion in der Gesellschaft und Öffentlichkeit haben solle und welche politische (Ausnahme-)Regelungen zu setzen seien. Herrscht eine Einigung darüber, beginnt freilich erst die Last der gesellschaftlichen Konsensfindung, wie die Autoren in zahlreichen konkreten Beispielen aufzeigen. Dabei filtern sie zwei Modelle heraus, die sie als Grundlage für ihre weiteren Analysen benutzen: Das republikanische Modell der Laizität, die „über die Achtung der moralischen Gleichheit und der Gewissensfreiheit hinaus die Emanzipation der Individuen und die Herausbildung einer gemeinsamen staatsbürgerlichen Identität“ anstreben; und das liberal-pluralistische Modell, das danach strebt, „das optimale Gleichgewicht zwischen der Achtung der moralischen Gleichheit und der Achtung der persönlichen Gewissensfreiheit zu finden“. Bedeutsam dabei sind auch die Fragen, wie sich im laizistischen, gesellschaftlichen Verständnis Öffentlichkeit und Privatsphäre zueinander verhalten und welchen Stellen- und Präsentationswert religiöse Symbole und Rituale in der Öffentlichkeit haben sollen (dürfen). Zielsetzung ist, wie die Autoren am Beispiel von Quebec verdeutlichen, eine „offene Laizität“, bei der anerkannt wird, dass der Staat neutral zu sein habe, aber auch bereit sein müsse, die individuelle Gewissens- und Religionsfreiheit zu schützen. In einer Welt, die nicht mehr bestimmt ist von nationalen Grenzen und Eingrenzungen ethnozentrierten Denkens und Handelns, ist es an der Zeit, eine Neubestimmung laizistischer Politik vorzunehmen. Dabei plädieren die Autoren dafür, den Perspektivenwechsel in zweierlei Hinsicht vorzunehmen: Zum einen die von Unverständnis, Misstrauen und Intoleranz geprägten Beziehungen zwischen religiösen und nichtreligiösen Personen zu überwinden, zum anderen dafür einzutreten, dass die Staaten der Erde in selbstverständlicher und grundsätzlich demokratischer Weise anerkennen und verwirklichen, die innerhalb der Gesellschaft bestehende moralische und spirituelle Diversität anzuerkennen, ermöglichen und verteidigen. Es geht darum, „die soziale Kooperation in durch Diversität gekennzeichneten Gesellschaften in der möglichen Einigung zwischen vernünftigen Bürgern über die Grundprinzipien ihrer politischen Gemeinschaft (zu) verankern“. Die Wege dahin führen über eine Erweiterung des traditionellen Toleranzbegriffs hin zu einer „aktiven Toleranz“ (K. Peter Fritzsche) und die Einübung einer „Ethik des Dialogs, die unterschiedliche metaphysische und moralische Perspektiven respektiert“ [21].

Das janusköpfige Faszinosum Zeit

„Zeit ist Vergangenheit und Zukunft im Jetzt“, so definiert der griechische Philosoph Aristoteles das Phänomen Zeit. Er erwähnt dabei aber auch, dass „chronos“ mehr ist als das Maß der Bewegung: „Wenn die Seele nicht misst, geht die Zeitordnung der Tage, Monate, Jahre im indifferenten Fluss der Bewegung verloren“ (A. F. Koch, in: Otfried Höffe, Aristoteles-Lexikon, Stuttgart 2005, S. 110). Die Frage, was Zeit für das Leben der Menschen bedeutet, ergründen Philosophen, Schriftsteller und Wissenschaftler seit Jahrtausenden, malen und modellieren Künstler in ihren Werken, intonieren Musiker, drücken Menschen in ihren Daseinserfahrungen aus und gießen es in Sprichwörter. Das Sprichwort „Die Zeit steht still“ ist ein Anachronismus; und „Zeit ist Geld“ eine Verirrung. „Zeit haben“, wie auch „keine Zeit haben“ sind Kennzeichnungen von Lange-Weile und Stress und markieren eher menschliche Zulänglichkeiten und Unzulänglichkeiten, als eine mentale Auseinandersetzung über das Menschsein. Zeitvielfalt und Zeitdiktat sind Schlagwörter, hinter denen Zufriedenheit wie Unzufriedenheit mit dem individuellen und gesellschaftlichen, menschlichen Leben stecken. Zeit ist Menschlichkeit und Unmenschlichkeit, je nachdem der Zeiger ausschlägt. Wer das Zeitliche im Menschsein vergisst, lebt nicht mehr! Die an der Würzburger Julius-Maximilians-Universität im Institut für Philosophie - Franz-Brentono-Forschungsstelle - tätige Nora Nebel legt mit dem Buch „Ideen von der Zeit“ ihre kulturphilosophische Dissertationsschrift vor. Die Auseinandersetzung mit den philosophischen Fragen nach der Bedeutung des Phänomens, das da und doch nicht greifbar ist, das sich als erlebbar und doch nicht feststellbar darstellt, ist ohne Zweifel eine Herausforderung an den menschlichen Geist. Die Philosophie als „Lebenswissenschaft“ kann dazu wichtige Orientierungsmuster liefern [22].

Bildungskrise = Lebenskrise

Humanität und Bildung sind von jeher ein Gespann, wenn auch nicht immer ein stimmiges. Denn Humanität bedeutet ja „entfaltete Menschlichkeit“, die darin gipfelt, ein „gutes Leben“ zu führen. Nicht ohne Grund ordnet Aristoteles dem eu zên, dem guten Leben, die gleiche Bedeutung zu wie dem guten Handeln und dem Glück (eudaimonia). Es ist deshalb angebracht, die Frage, was Glück ist, wie es sich darstellt und anfühlt, ja sogar, wie es sich „auszahlt“, in Beziehung zu setzen zu dem Anspruch, wie eine humane Bildung aussieht. Weder Glück im humanen Sinne ist ein Zufallsprodukt, das aus einem wie immer gearteten und entstandenen „glücklichen Umstand“ entsteht, noch ergibt sich Bildung aus dem Nirwana; es bedarf des aktiven, humanen Denkens und Tuns, um beides zu erreichen. Die Definition – „Glückselig ist ein Leben, dass sich durch größtmögliche Stimmigkeit und Konstanz auszeichnet [23]– lässt sich auch auf die Frage, was humane Bildung ist, anwenden. Über die „richtige“ Bildung wird seit Menschengedenken nachgedacht, gestritten und ideologisch festgelegt. Bildungseuphorien und Bildungspaniken [24] werden auf den Markt getragen. Der Bildungsdiskurs ist in Bewegung, manche sagen, ins Schlingern geraten; zum einen, dass (scheinbare) Selbstverständlichkeiten, Gewohnheiten und postulierte Wahrheiten durch die sich immer interdependenter, entgrenzender und sich unsicher entwickelnde (Eine?) Welt in Frage gestellt, zum anderen, dass Identitäten sich verändern [25]. Der an der Universität München lehrende Philosoph Julian Nida-Rümelin hat sich in Theorie und politischer Praxis mehrfach zu Wort gemeldet. Es sind Fragen zur praktischen Vernunft, zur Ethik und zur politischen Philosophie. Mit seinem Buch „Philosophie einer humanen Bildung“ greift er ein in die aktuellen Auseinandersetzungen darüber, was als Bildung in der Moderne zu verstehen ist. Es sind Fragen nach dem Menschenbild, das in unserer Gesellschaft vorherrscht, propagiert, diktiert oder einfach weiter geschleppt wird. Es geht darum, was Bildung ist und welche Rolle dabei die Persönlichkeitsentwicklung spielt. Es sind die Postulate und Gewohnheiten, welches Wissen in welchen Fächern vermittelt werden soll. Und es ist nicht zuletzt die Frage, wie Bildungsgerechtigkeit zu verwirklichen ist. Es ist gut, dass die Reflexionen von Julian Nida-Rümelin zur „Philosophie einer humanen Bildung“ nicht mit dem erhobenen pädagogischen Zeigefinger daher kommen, auch nicht per Ex Cathedra, sondern mit argumentativer, verständlicher Sprache formuliert werden [26].

Gelassenheit ist mehr als ein Wort

In unserem Sprachschatz und -gebrauch finden wir immer wieder Begriffe, die wir selbstverständlich benutzen und auch zu wissen glauben, was sie bedeuten. Gehen wir der Sache auf den Grund, zeigt sich freilich die Mehrdeutigkeit, Vielfältigkeit und Widersprüchlichkeit des Ausdrucks, und es gelingt uns oft nicht, die tatsächlich gemeinte Bedeutung zu erklären. Solche Sprachsituationen werden dann meist mit Sprichwörtern belegt und damit wieder eingeordnet in ein Verständniskonzept, das ein Zusammenleben der Menschen ermöglicht: „Wenn Wissen und Gelassenheit sich ergänzen, bilden sich Harmonie und Ordnung“. Der chinesische Philosoph und Dichter Tschuang-tse, der in der Zeit um 365 bis 290 v. Chr. lebte, hat die Eigenschaft und Lebenshaltung „Gelassenheit“ eingeordnet in die daoistischen und konfuzianischen Denkformen, die sich in den philosophischen Begriffen de = Tugend, dao = Weg, qi = Lebenskraft, shen = Geist, xin = Herz, Qi = Energie und Jing = Körperlichkeit darstellen. Der Hinweis soll deutlich machen, dass die Eigenschaft, die auch als Gleichmut, stoische Ruhe, Ausgeglichenheit, Beherrschtheit, Bedächtigkeit, Gefasstheit, Langmut, Selbstkontrolle, Zurückhaltung … bezeichnet werden kann, zu aller Zeit und in allen Kulturen und Sprachen der Welt vorfindbar ist. Es sind nicht selten Ausdrücke und Gesten, die „Gelassenheit“ und das Gegenteil davon, die „Getriebenheit“ und die „Besessenheit“, darstellen: Geöffnete Hand versus Faust, Schneiden versus Hacken, offener Gesichtsausdruck versus Zähne zeigen, aktives, selbstbestimmtes Wollen versus Gewolltwerden. Nicht ohne Grund hat die Einstellung „Gelassenheit“ Konjunktur und erhält Aufmerksamkeit in den Zeiten der Ungewissheiten, Gefährdungen und Katastrophen, denen die Menschheit in der sich immer interdependenter, entgrenzender, kapitalistischer und neoliberaler entwickelnden Welt ausgesetzt sieht. Über Wortbedeutung und Sinnhaftigkeit des Begriffs nachzudenken, ist nicht nur deshalb erforderlich, weil unsere (Eine?) Welt in immer stärkerem Maße von Unsicherheiten und scheinbaren unendlichen Freiheiten und Freizügigkeiten geprägt zu sein scheint, sondern auch, weil die Wunschvorstellung, gelassen zu sein und zu leben, nicht selten konterkariert wird durch Wirklichkeiten, die (scheinbare und tatsächliche) Zwänge im alltäglichen und gesellschaftspolitischen Leben der Menschen erzeugen. „Du hast gut reden – Sei gelassen! – angesichts des Drucks, der auf mir lastet!“; da wird der Ratschlag leicht zur Keule, weil es kaum möglich erscheint, gelassen zu agieren und zu reagieren. „Glitschig wie ein Fisch und zugleich stachelig wie ein Igel“, so zeigen sich wohlwollende oder auch unbedachte Empfehlungen und Anweisungen, wenn es um die Realisierung von wünschbaren Eigenschaften und Verhaltensweisen geht [27]. Kann man gelassen sein, wenn Unruhe, Erregung, Überforderung und Stress vorhanden sind? An wen richtet sich eigentlich der Rat „Sei gelassen!“ – an den Gestressten, den Überforderten, den Aufgebrachten? Oder vielleicht nicht eher an jeden Einzelnen, in seinen Lebensbezügen, Einstellungen, Wünschen und Hoffnungen los lassen zu lernen, Abstand zu nehmen von einer „Habenmentalität“ und sich hin zu entwickeln zu einem „Seinsmodus“ (Erich Fromm), bei dem materielles Haben-Müssen kritisch bedacht werden kann [28]. Damit sind wir dann schon bei der Voraussetzung, Gelassenheit zu üben: „Lassen und gelassen werden: Beides beginnt beim eigenen Ich“ [29].

Perspektivenwechsel

Die Umschau bei der (subjektiv) ausgewählten, wissenschaftlichen Literatur, die sich in ihren spezifischen Ausprägungen und Fragestellungen unter den Begriff „Werte“ subsumieren lässt, bringt vier wesentliche Erkenntnisse zu Tage: Humane und anthropologische Wertvorstellungen sind für menschliche Existenz notwendig. Wertebewusstsein muss mehr sein als egoistisches, materialistisches und ökonomisches Wollen. Werteorientierung bedarf des humanen Denkens und gerechten Handelns auf der Grundlage der globalen Ethik. Wertewandel darf nur auf der Basis des Humanum erfolgen. Wer mit dem Zustand der Welt und mit sich selbst nicht zufrieden ist, muss philosophieren; wem dabei wohl ist, erst recht! Der Journalist und Gesellschaftskritiker Eberhard Straub nimmt die „Umdeutung einer Rechtsordnung in eine Wertordnung“ in der sich immer interdependenter, entgrenzender (und ungerechter) entwickelnden Welt zum Anlass, den Finger in die Wunden unserer scheinbar so heilen Welt zu legen. Er deckt auf, dass die hegemonialen, kapitalistischen und neoliberalen Vorstellungen von Werten zur „Selbstermächtigung im Namen der Werte“ geführt habe. Der verwaltete, bewertete und nach genormter Sicherheit strebende Mensch scheint zufrieden zu sein mit dem als großen Wohltäter gefeierten Markt, „der Ordnung stiftet, wo Unordnung sich breit macht“; und der an das große Versprechen glaubt, das die (freie) Marktwirtschaft frei Haus liefert. Die „Marktfrömmigkeit“ und „Wertgläubigkeit“, die von den „Wert“ – Produzenten an die Endverbraucher kalkuliert abgegeben und aufgedrängt werden, bringen den Menschen, wie dies der Philosoph und Soziologe José Ortega Y Gasset formuliert hat, um ihre Freiheit und Würde [30]. Der homo variabilis, der sich durch seine Fähigkeit zur Veränderung und zum Wandel auszeichnet und durch seine, die Menschheit bereichernde Vielfalt besticht, ist ein werteabhängiges Lebewesen. Die richtigen, für die Menschheit zuträglichen und nachhaltigen Werte zu entdecken und zu leben, das wäre eine Lösung! Autor
Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Fussnoten

[1] Jeremy Rifkin, Die empathische Zivilisation, Wege zu einem globalen Bewusstsein, zur Rezension

[2] Otfried Höffe, Aristoteles-Lexikon, Kröner Verlag, Stuttgart 2005, S. 47ff

[3] Hellmut Flashar, Aristoteles. Lehrer des Abendlandes, 2013, zur Rezension

[4] Arbogast Schmitt, Die Moderne und Platon. Zwei Grundformen europäischer Rationalität, 2008, zur Rezension

[5] Manfred Lütz, Bluff! Die Fälschung der Welt, zur Rezension; siehe auch die jährlich erscheinenden Berichte des New Yorker World Watch Institute „Zur Lage der Welt“, rezensiert in: www.socialnet.de/rezensionen/

[6] Deutsche UNESCO-Kommission, Menschenrechte. Internationale Dokumente, Bonn 1981, S. 48; siehe auch: Peter Bieri, Eine Art zu leben. Über die Vielfalt menschlicher Würde, 2013, zur Rezension

[7] Bernhard Rathmayr, Selbstzwang und Selbstverwirklichung. Bausteine zu einer historischen Anthropologie der abendländischen Menschen, 2011, zur Rezension

[8] Karl Heinz Bohrer, Selbstdenker und Systemdenker. Über agonales Denken, 2011, zur Rezension

[9] Jürgen Stock, Das wäre doch gedacht! Wie wir uns aus der Falle eingefahrener Denkmuster befreien, 2011, zur Rezension

[10] Antonio Damasio, Selbst ist der Mensch. Körper, Geist und die Entstehung des menschlichen Bewusstseins, 2011, zur Rezension

[11] Ulrich Herrmann, Hrsg., Neurodidaktik, 2009, zur Rezension

[12] David Eagleman, Inkognito. Die geheimen Eigenleben unseres Gehirns, 2012, zur Rezension

[13] Heinz von Foerster / Bernhard Pörksen, Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. Gespräche für Skeptiker, 2011, zur Rezension

[14] Ulrich Beck, Weltrisikogesellschaft. Auf der Suche nach der verlorenen Sicherheit, 2007, zur Rezension

[15] Markus Holzinger / Stefan May / Wiebke Pohler, Weltrisikogesellschaft als Ausnahmezustand, 2010, zur Rezension

[16] Herfried Münkler, Hrsg., Handeln unter Risiko. Gestaltungsansätze zwischen Wagnis und Vorsorge, 2010, zur Rezension

[17] Gerd Gigerenzer, Risiko. Wie man die richtigen Entscheidungen trifft, 2013, zur Rezension

[18] Utta Isop / Viktorija Ratkovič, Differenzen leben. Kulturwissenschaftliche und geschlechterkritische Perspektiven auf Inklusion und Exklusion, 2011, zur Rezension dazu auch: Philip Thelen, Vergleich in der Weltgesellschaft. Zur Funktion nationaler Grenzen für die Globalisierung von Wissenschaft und Politik, 2011, zur Rezension

[19] vgl. dazu auch: Philip Thelen, Vergleich in der Weltgesellschaft. Zur Funktion nationaler Grenzen für die Globalisierung von Wissenschaft und Politik, 2011, zur Rezension

[20] Shadia Husseini de Araújo, Jenseits vom „Kampf der Kulturen. Imaginative Geographien des Eigenen und des Anderen in arabischen Printmedien, 2011, zur Rezension

[21] Willi Jasper, Hg., Wieviel Transnationalismus verträgt die Kultur?, 2009, zur Rezension

[22] Nora Nebel, Ideen von der Zeit. Zeitvorstellungen aus kulturphilosophischer Perspektive, 2011, zur Rezension

[23] Martin Gessmann, Hrsg., Philosophisches Wörterbuch, Stuttgart 2009, in: socialnet Rezensionen unter zur Rezension

[24] Heinz Bude, Bildungspanik. Was unsere Gesellschaft spaltet, 2011, zur Rezension

[25] Hermann Mückler / Gerald Faschingeder, Hrsg., Tradition und Traditionalismus. Zur Instrumentalisierung eines Identitätskonzepts, 2012, zur Rezension

[26] Julian Nida-Rümelin, Philosophie einer humanen Bildung, 2013, zur Rezension

[27] Markus Weingardt, Hrsg., Vertrauen in der Krise. Zugänge verschiedener Wissenschaften, 2011, zur Rezension

[28] Harald Weinrich, Über das Haben. 33 Ansichten, 2012, zur Rezension

[29] Thomas Strässle, Gelassenheit. Über eine andere Haltung zur Welt, 2013, zur Rezension

[30] Eberhard Straub, Zur Tyrannei der Werte, 2010, zur Rezension