Remo Scherrer@Zeitraumfilm

„Vergesst Eure Kinder nicht!“

Im Gespräch mit der Sozialpädagogin und Therapeutin Wally Wagenrad zu ihrer Mitarbeit in einem Dokumentarfilm über Alkoholismus in der Familie, der für die Filmfestspiele in Cannes nominiert wurde.

Elf Minuten Abschlussfilm mit dem Titel „Bei Wind und Wetter“ von Remo Scherrer, Absolvent des Master of Arts in Design der Hochschule Luzern sind in der Kategorie „Cinéfondation Selection“ für den Wettbewerb der Filmfestspiele 2016 in Cannes nominiert. Er wurde aus 2.300 von internationalen Filmschulen eingereichten Arbeiten ausgewählt.

Die Premiere ist in wenigen Tagen. Der Animations-Film zeigt in Schwarzweißbildern die Kindheitsgeschichte von Wally Wagenrad, einer Kindheit, die von der Alkoholkrankheit ihrer Mutter überschattet war. Wally Wagenrad bleibt nicht anonym, ihre Stimme erzählt im Film selbst. Der junge Filmemacher Remo Scherrer findet künstlerische Mittel der Eindrücklichkeit: Wally Wagenrad glaubt, sehr viele Kinder und Jugendliche werden sich wiedererkennen.

Frau Wagenrad, Sie arbeiten heute als Sozialpädagogin und Therapeutin in Zürich mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen zusammen. Sich in einem solchen Film zu offenbaren, ist ganz schön mutig für eine Professionelle, könnten manche sagen. Bald wird der Film ja sicher nicht nur im deutschsprachigen Raum bekannt werden...

Ja, der Film ist ins Englische und auch ins Französische übersetzt… Viele Journalisten beginnen sich zu interessieren. Natürlich geht es bei der Cannes-Nominierung zunächst um die großartige ästhetische, ja künstlerische Umsetzung des schwierigen Themas. Was es bedeutet, dass meine Geschichte öffentlich wird und dass mein Name für die Geschichte steht, wurde mir erst kurz vor dem Ende der Zusammenarbeit mit Remo Scherrer bewusst. Als der Film fertig war, wusste ich, dass er etwas bewirken wird. Ich habe bei Vorpremieren die große Betroffenheit gespürt, und Menschen aus dem Publikum haben mich direkt angesprochen: „Darüber reden zu können, das hätte ich mir auch gewünscht…“

Was war Ihnen besonders wichtig, mit dem Film zu erzählen?

Wichtig war mir, und Remo Scherrer hat das auch geschafft, den Aspekt der Einsamkeit zu zeigen: Zu zeigen, was passiert, wenn niemand reagiert: keine Familie, kein Jugendamt… Die Nachbarn haben geholfen, wenn es galt, meine Mutter aufzulesen. Aber das war es dann, die Türe wurde leise wieder geschlossen, und wir Kinder waren wieder uns selbst überlassen. Es hat niemand gefragt, wenn wir losgeschickt wurden, um Alkohol für die Mama zu besorgen. Wir haben den Alkohol immer bekommen. Und die Gesellschaft hat weggesehen, als wir Kinder solchen Situationen ohnmächtig und hilflos ausgeliefert waren. Ich habe in meiner eigenen Arbeit mit suchtbelasteten Müttern und Vätern so oft gehört: „Wir achten darauf, dass die Kinder nichts mitbekommen.“ Und weiß, die Kinder bekommen es mit. Und haben Angst: Was passiert, wenn jemand erfährt, dass Mama oder Papa trinkt? In jeder Schule hat es Kinder, die solcher Angst ausgesetzt sind und schweigen. Ihre Angst verhindert viel zu oft, dass sie sich Hotlines oder zuständigen Institutionen öffnen.

Was glauben Sie, kann ein so persönlicher Film bewirken?

Den ungehörten und ungesehenen Kindern kann er eine Stimme geben. Es wird heute viel Gutes in der Suchtprävention getan. Meist jedoch unter dem Aspekt der sozialen und gesellschaftlichen Bedeutung, bezogen auf denjenigen, der trinkt. Weniger bezogen auf die tiefgehenden Auswirkungen im Leben der Kinder. Das, was sie erleben müssen, wird sie wahrscheinlich nie mehr ganz loslassen. Auch, wenn die Geschichte gut verarbeitet ist, wird sie in Teilen ihre Gegenwart immer mitbestimmen. Man hat meines Erachtens noch nicht alle Wege ausgeschöpft, Kindern den Umgang damit zu erleichtern. So bleiben die Kinder im Schatten ihrer Eltern.

Wie kann ein Film daran etwas verändern?

Er kann wach machen und zeigen: Hierhin müssen wir schauen. Wir kommen damit ins Gespräch. Er kann uns helfen, in der Suchtprävention und Beratung von Eltern und Erwachsenen zu zeigen, seid euch der Tatsache bewusst, was Alkoholismus der Eltern mit den Kindern macht. Vergesst Eure Kinder nicht! Der Film ist ein Teil dessen, was ich neue Wege in der Begleitung von Kindern in suchtbelasteten Familien nenne. Die neuen Wege sind dabei gar nicht so neu, sondern sind Wege, an die wir uns wieder erinnern müssen: Geschichten erzählen und mit den Mitteln des Künstlerischen, wie Tanz oder Theater umsetzen. Es können Wege sein, die beim Überleben helfen. Auch ich bin Tanz- und Theaterfrau geworden, weil es mir geholfen hat. Der Film, der ja auch eine Geschichte ist, meine Geschichte, könnte in einer Mischung aus sozialpädagogischer und therapeutischer Arbeit ein Impulsgeber sein. Dazu möchte ich den Film gern zunächst in Zürich einsetzen, um betroffene Kinder in ihren eigenen Schutzräumen - den Schulen - selbst kreativ werden zu lassen. Sie können in Begleitung zu ihren persönlichen Erfahrungen mit Alkoholismus in der Familie eigene Theaterstücke entstehen lassen. Und diese Stücke vor anderen Schulen spielen. Theater von Kindern und Jugendlichen für Kinder und Jugendliche zum Thema Alkohol in der Familie. Ich möchte Fachpersonen sensibilisieren, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten. Wie erkenne ich ein Kind das in einer von Alkohol belasteten Familie lebt? Gemeinsam kann es gelingen, nächste Schritte für das Kind zu überlegen, ohne zu stigmatisieren. Meine langjährige Erfahrung im Einsatz mit Handpuppen, Rollenspielen und Schattentheater ist, dass Kinder anfangen, aus sich herauszugehen und zu spielen. Einen Teil ihres Lebens zu spielen.

Was, glauben Sie, spielt es für eine Rolle, dass die Kinder der Protagonistin des Filmes begegnen?

Es hat natürlich eine Wirkung durch Authenzität. Man sieht: Ich habe mir ein Herz gefasst, über mich zu sprechen und damit ein Tabu des Schweigens zu brechen. Andere Menschen in ähnlicher Situation können dies auch. Die Jugendlichen hören meine Stimme, erleben mich im Film und in der persönlichen Begegnung mit ihnen. Ich kann in meiner Person verdeutlichen, dass es Lösungswege gibt, die man gemeinsam erarbeiten kann. Bereits Sechs- bis Zehnjährige haben ihre Anpassungsstrategien: Ihnen kann ich in der Begegnung zeigen: Ihr seid nicht schuld, ihr dürft Grenzen setzen und euch wehren. Was ihr dafür braucht, sind Menschen, die da sind und ein geschützter Rahmen. Eure Kreativität hilft euch dabei, so wie sie mir geholfen hat. Sie ist eine Ressource, die in der sozialpädagogisch/therapeutischen Arbeit und in der Suchtprävention viel mehr zum Einsatz kommen muss. Wie auch in der Therapie. In der Therapeutenwelt ist sie allerdings längst keine Frage der Anerkennung mehr, sondern eine Frage der Finanzierung.

Vielen Dank für das Gespräch!
Das Gespräch führte Ines Nowack, Chefredakteurin Sozial.de

„Bei Wind und Wetter" entstand in Zusammenarbeit mit Wally Wagenrad und mit Unterstützung des Bundesamts für Kultur (Sektion Film), des Bundesamts für Gesundheit (nationales Programm Alkohol) sowie des Aargauer Kuratoriums und wurde von der Zeitraum Film GmbH produziert.