Weiblich gelesene Person mit Wanderrucksack im Grünen

Und wenn die Zeit nicht mehr reicht?

Frau Radke weint. - Oh, weh, was habe ich getan? Habe ich dieses Weinen ausgelöst? Normalerweise sage ich dann „hier dürfen auch mal Tränen fließen“ und ich mache eine Gesprächspause. Aber jetzt bin ich ganz irritiert.
Was habe ich denn da getriggert? Ich wollte sie doch entlasten mit meiner Bemerkung: „In vier Jahren wird Greta achtzehn. Dann sind Sie aus der offiziellen elterlichen Verantwortung entlassen“.

Frau Radke ist nach der Trennung von Gretas Vater förmlich aufgeblüht, sie ist im Schwimmverein, macht Latin-Linedance und im Job ist sie auch wieder angekommen, sie kann Homeoffice und Präsenzarbeit kombinieren und hat die wöchentliche Arbeitszeit aufgestockt. Alles nachholen möchte sie, worauf sie in der Ehe verzichtet hat. Sie sprudelt nur so vor Energie und manchmal wünschte sie, dass es Greta nicht gibt, denn dann wäre sie frei, und wenn sie so denkt, dann hat Frau Radke schreckliche Schuldgefühle und sie schämt sich dafür, dass es so ist wie es ist. Greta war nur ein halbes Wunschkind - vom Vater gewünscht, von der Mutter eher nicht. Sie habe sich damals halt mitreißen lassen, sagt Frau Radke und als sie dann beruflich hinterherhinkte und in einer Familie mit klassischen Rollenaufteilungen gelandet war, kannte sie sich selber nicht mehr.

Greta lebt abwechselnd eine Woche bei Papa und eine Woche bei Mama. Das ging anfangs ganz gut, aber im letzten Jahr sind Mutter und Tochter immer öfter aneinandergeraten, auch körperlich. Das heißt, Greta hat ihre Mutter an die Wand gedrückt und Frau Radke hat ihr eine Ohrfeige verpasst. Frau Radke war so erschrocken, dass sie das Familienkrisentelefon angerufen hat. Nach der nächsten Auseinandersetzung ist sie zur Erziehungsberatung und dann ging sie zum Jugendamt, und nun hat sie mich als sozialpädagogische Familienhelferin.

Der Fall wird im sogenannten Leistungsbereich geführt. Als ich den Fall im Team vorstellte, stieß ich auf Skepsis. Das sei doch kinderschutzrelevant und aus dem Leistungsbereich könne Frau Radke doch jederzeit aussteigen, das könne man doch nicht einfach so laufen lassen. Ich denke, solange Frau Radke die Hilfe als hilfreich empfindet, wird sie nicht aussteigen und wenn es Störungen gibt, kann man immer noch nachbessern. Frau Radke hat sich immerhin die Unterstützung selbst organisiert und sie ist bestimmt nicht die einzige Mutter, die ganz freiwillig ein gewaltfreies Miteinander in der Familie herstellen möchte und alles abwenden, was eine Gefährdung des Wohls ihrer Tochter bedeutet. Sie selbst lehnt Gewalt ab, nicht nur in der Erziehung, sondern grundsätzlich.

„Dieser Krieg macht mich fertig“, sagt sie. „Ich habe Angst. Wie soll ich denn an eine Zukunft in vier Jahren denken, wenn ich jeden Tag nur von Zerstörung und Waffenlieferung höre? Was, wenn es keine vier Jahre mehr gibt? Was, wenn wir schon mitten im Weltkrieg sind und als nächstes die Atomwaffen kommen? Da ist doch niemand mehr sicher.“

Ganz still bin ich geworden. Ich hatte mich schon gewundert und ehrlich gesagt, war ich auch froh, dass die Familien, mit denen ich arbeite, das Kriegsthema nicht in die Hilfe mit einbringen. Denn da bin ich hilflos. Und es geht mir genauso wie Frau Radke. Hilflose Helferin bin ich. Meine Grundsätze poltern durcheinander. Ich weiß nicht mehr was richtig und was falsch ist. Frieden mit Waffen – widerspricht sich doch selbst. Aber sich kampflos ergeben, das geht ja nun auch nicht. Macht meine Arbeit überhaupt noch Sinn, angesichts der weltweiten Krisen? Ja, sie macht Sinn! Und jede Familie ist wichtig!

„Am liebsten möchte ich auswandern“, sagt Frau Radke. „Den Rucksack packen und los, solange es noch geht. Aber ich kann ja Greta nicht alleine hier lassen und mitnehmen kann ich sie auch nicht und auch nicht zur Hälfte und die andere Hälfte bleibt hier bei Wolfgang. In vier Jahren ist sie achtzehn und ich weiß, dass auch Greta gewaltige Zukunftsängste hat“.

 

Ihre Katja Änderlich