Adi Goldstein / Unsplash

Und plötzlich standen sie alle im Wohnzimmer

01.05.2021 | Kinder-/Jugendhilfe

Frau F hatte Geburtstag. Sie ist vierzig geworden und wenn jemand „nullt“ wird erwartet, dass man feiert - Corona hin oder her. Frau F hatte wochenlang nur ihren Geburtstag im Kopf und schimpfte, dass „es nun doch endlich mal vorbei sein muss“ und dass „die einen doch nicht lebenslang einsperren können“. Als die Nachbarin dann zu Ostern mit Covid in der Klinik aufgenommen wurde, dachte Frau F, es sei wohl doch besser, die Feier zu verschieben und im Juni nachzuholen, wenn es warm genug ist um Draußen zu feiern. Den Jahrestag ihrer Geburt wollte sie im ganz kleinen Kreis, also nur mit ihrem Freund und mit Melli verbringen. Melli wollte einen Kuchen backen, aber nur für Mama, den Freund ihrer Mutter mag sie nicht. „Der soll nicht kommen! Und wenn, dann nur, wenn ich eine Freundin einladen darf“.

Grenzen setzen ist nicht gerade Frau F‘s Stärke und „dann standen sie plötzlich alle im Wohnzimmer“ weint sie, als ich am Montag nach dem Geburtstagswochenende anrufe. „Ich konnte gar nichts machen“. Naja, ich denke, dass sie bestimmt auch ein wenig geschmeichelt war, als ihre Schwester mit Mann und Kind und Oma vor der Tür standen. „Überraschung!“ Ich sehe es direkt vor mir, wie sich die Gäste mit Blumen und Schaumwein in den Flur schieben und Frau F weicht wortlos zur Seite.

Drei Haushalte sind eigentlich einer zu viel – aber man ist ja Familie – mit Mellis Freundin waren es vier Haushalte aber Kinder unter 14 werden nicht mitgezählt, also sind es nicht 7 Personen sondern nur 4. Kurz danach kam der Freund von Frau F und brachte seinen Vater und zwei Trinkfreunde mit. Da waren es dann 8 Haushalte und 8 Personen plus 3 Kinder. Gezählt hat aber niemand. Und - Masken - zuhause – wie soll man denn da Spaß haben?

Melli zog sich mit ihrer Freundin und dem Cousin in ihr Zimmer zurück und die Erwachsenen ließen die Korken knallen. Die Trinkfreunde steuerten Hochprozentiges und einige Biere bei. Weder Frau F noch Melli mögen diese Trinkfreunde aber Frau F ist so froh, dass sie endlich wieder einen Freund hat, der „ich liebe dich“ sagt und der sie „mein Häschen“ und den sie „Schatzi“ nennt. „Er tut mir so gut. Er ist die beste Medizin gegen meine Depression“ hatte sie mich überzeugen wollen. Ich dagegen war überzeugt, dass sie sich in eine Abhängigkeitsbeziehung verstrickt. Doch das wollte Frau F nicht hören.

Als dann die Feier so richtig in Gang gekommen war und auch Frau F leicht angetrunken, kam der Anruf vom Ex-Mann der Schwester. Er sei positiv auf Corona getestet und mit Fieber und Kopfschmerzen in häuslicher Quarantäne. Mellis Cousin könne sich beim letzten Umgangswochenende angesteckt haben oder umgekehrt, jedenfalls müsse der Junge sofort getestet werden und ebenfalls in Quarantäne, damit er nicht noch andere infiziert. Da ist der Junge längst eingeschlafen, mit dem Tablet in der Hand, die Mädchen sind verschwunden und telefonisch nicht erreichbar. Aus Angst, dass die Polizei gleich mit Melli vor der Tür steht, ziehen die Trinkfreunde und der Vater des Freundes wieder ab.

Die Familienangehörigen übernachteten bei Frau F. Am nächsten Tag ließen sich dann alle testen. Der Cousin war positiv und ohne Symptome, genauso wie seine Mutter. Melli, die bei der Freundin geschlafen hatte, war negativ getestet, hatte aber Symptome, zwei Tage später war der Test positiv, genau wie bei der Freundin. Frau F war negativ getestet und hatte leichte Symptome, ihr Freund hatte keine Symptome und sah auch keine Veranlassung für einen Test, genauso wenig, wie die Trinkfreunde und sein Vater.

Melli weigerte sich nachhause zu kommen und blieb bei der Freundin in Quarantäne. Die Mutter der Freundin rief die Kinderschutzhotline an, nachdem ihr Melli erzählt hatte, warum sie schon im Januar in eine Wohngruppe wollte. Es sei nicht nur, weil der Mama im Dezember die Hand ausgerutscht war, da sei noch mehr gewesen. Ich kann es nur vermuten, schreibe einen Sachstandbericht und schlage erneut vor, dass die ambulante Hilfe durch eine stationäre Hilfe abgelöst wird und dass zur Hilfekonferenz auch jemand vom sozialpsychiatrischen Dienst eingeladen wird.

Ihre Katja Änderlich