Graue Schließfachwand

„ ... und bleiben Sie gesund!“

Mit diesen Worten endete fast jedes Gespräch in den letzten achtzehn Monaten und auch am Ende der E-Mails heißt es „und bleiben Sie gesund! Beste Grüße ....". Eine echte Herausforderung in dieser Zeit, wie ich finde.

Im Oktober ist wieder die Woche der seelischen Gesundheit. Ich stöbere durch das Programmheft und den Onlinekalender und entdecke erfreulich viele Veranstaltungen, in denen es um Kinder, Jugendliche und Familien geht. Neben den zahlreichen Präsenzveranstaltungen gibt es offene Sprechstunden, auch Online, Filme und Podcasts, die man sich ohne Anmeldung und zeitlich unabhängig abrufen kann.

Die seelische Gesundheit von Fachkräften, die in helfenden Berufen arbeiten, scheint kein Thema zu sein. Eine Veranstaltung entdecke ich, da geht es um Lehrer und Lehrerinnen. Eine Kollegin aus der Schulsozialarbeit, hat mir erzählt, dass die Gewalt in den Schulen seit Corona um 35 % zugenommen hat und ich stelle mir Dauerschlägereien in Klassenzimmern und auf dem Schulhof vor und Lehrkräfte, die selbst an der Grenze sind und kaum deeskalierend einwirken können.

Dieses Bild entspricht auch dem, was ich von den Familien höre, mit denen wir arbeiten. Die eher stillen Kinder wollen gar nicht mehr zur Schule, aus Angst vor Mobbing oder körperlichen Attacken, die Kinder, die sowieso schon durch eine eher geringe Frustrationstoleranz auffielen, scheinen unter Dauerstrom zu stehen und rasten bei jeder Kleinigkeit aus und Hilal berichtet von täglicher sexueller Belästigung durch ältere Jungs. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie man da „Normalunterricht" machen kann und gesund ist das alles ja auch nicht. Ich kann mir vorstellen, dass viele Kinder hoch belastet und eigentlich gar nicht lernfähig und schulfähig sind. Jetzt gibt es Gelder für Nachhilfe und soziales Lernen, Zuschüsse für Freizeit und Familienerholung. Bei unseren Familien sind diese Informationen allerdings nicht angekommen und auch ich habe eher zufällig davon erfahren, im Gespräch mit Berit, der Kollegin aus der Schulsozialarbeit. Sie sucht gerade nach Honorarkräften für diese Programme und ich überlege, ob ich mit einsteige. Die Konzepte sind nur umrissen und ich hätte Lust etwas zur seelischen Gesundheit zu machen, so etwas wie ein „Gesunde Schule Programm".

Alle Kinder der Familien mit denen ich arbeite, außer Hilal, sind in den Sommerferien oder unmittelbar danach mindestens eine Woche lang krank gewesen. Seit Corona haben sich ihre Noten verschlechtert und das neue Schuljahr begann mit richtig fetten Sorgen und dem Wunsch nach kleinen Lerngruppen. Aber die Klassen sind so groß wie früher. Schade. "Das wussten wir doch schon vor Corona, dass kleine Gruppen besser sind", sagt Berit.

Trotz alledem gibt es Kinder und Jugendliche, die eine unglaubliche Energie an den Tag legen und sich aktiv für eine bessere Zukunft einsetzen. Zum Beispiel Daniel, von dem Hilal erzählt. Er hat sich bei den U 18 Wahlen in der Schule engagiert und fordert mehr politische Bildung. Hilal hat ihm seine Stimme bei der Wahl zum Schulsprecher gegeben. Sie mag ihn und vertraut ihm und mit ihm möchte sie auch über das Problem der sexuellen Belästigung sprechen. Ihre Mutter soll sich aus der Angelegenheit raushalten, mit vierzehn sei sie alt genug um sich selber zu helfen, meint Hilal. „Selbstwirksamkeit ist gut für die Gesundheit" erklärt sie ihrer Mutter und außerdem sei es kein persönliches sondern ein grundsätzliches Problem. Die Flyer der Beratungsstelle, die bei der Entwicklung und Umsetzung von Strategien zum Umgang mit dem Thema unterstützt, will sie sich mal anschauen und dann vielleicht mitnehmen zum Termin mit Daniel. Die Ergebnisse der „Ü 18 Wahlen" vom 26. September kommentiert sie mit: „es hätte schlimmer kommen können aber Ihr seid auf einem ganz guten Weg."

Ihre Katja Änderlich