Charlotte Zach

Über ein System der Gewalt

von Charlotte Zach
19.08.2022 | Gastbeiträge

[Allgemeine Triggerwarnung: In diesem Text geht es um strukturelle und personelle Gewalt an Menschen mit Behinderung]

Vor kurzem war ich im Campingurlaub mit einer guten und langjährigen Freundin. Gemeinsam sind wir am Seeufer entlang geschlendert und haben auf verschiedene Lebensphasen zurück geschaut, die wir gemeinsam durchschritten sind. Dabei ging es auch um eine Phase in meiner Jugend, in der ich mich intensiv mit meiner eigenen Abhängigkeit und was daraus resultiert, auseinander gesetzt habe. Auseinander setzen musste. Es war der Sommer unseres Abiturs. Wir waren beide 18 Jahre alt und hatten schon einige Konfettimomente gemeinsam erlebt. Wir sprachen darüber, dass sie damals nicht nachvollziehen konnte, warum mich die Auseinandersetzung mit meiner Abhängigkeit vor so existenzielle Probleme stellte. Warum ich es als Belastung empfand, zu realisieren, dass die liebevolle und behütete Versorgung durch mein Elternhaus keine Gegebenheit war, die ich aufrechterhalten konnte. Aus ihrer Perspektive hatte ich doch alles, was man sich wünschen konnte. Die besten Startbedingungen. Damals erklärte ich ihr vor allem das Gefühl der Ausweglosigkeit, des Gefangenseins, der Unlösbarkeit des Konfliktes, einerseits sein Leben lang abhängig zu sein und andererseits in einer Gesellschaft zu leben, in der Unabhängigkeit ein stets angestrebtes Gut ist. Ein Wert, eine Norm die dich als vollwertig, stark, erwachsen und produktiv auszeichnet. Ich erzählte ihr damals, wie verletzlich ich mich fühlte im Angesicht dieses Widerspruchs, diese Aufgabe die ich nicht lösen konnte. Ich erzählte auch damals schon von existenziellen Ängsten: Davon, morgens nicht aufstehen zu können, nicht essen zu können, nicht auf die Toilette gehen zu können, nicht selbst bestimmen zu können, wie ich meinen Alltag und mein Leben organisiere. Was ich damals noch nicht aussprach, weil es mir damals noch nicht klar war, ist, dass ich Angst vor Gewalt hatte. Denn all das, was ich damals beschrieb, waren Realitäten in einem System der Fremdbestimmung und der strukturellen Gewalt, die sehr schnell in personale Gewalt umspringen kann.

Menschen mit Behinderung sind häufiger von personaler Gewalt betroffen, als Menschen ohne Behinderung. Frauen mit Behinderung sind 3 bis viermal so häufig von Gewalt betroffen, wie Frauen ohne Behinderung. Diese Statistiken kannte ich damals noch nicht. Ich kannte das Wort Ableismus noch nicht und ich hatte auch noch nie in einer stationären Einrichtung für Menschen mit Behinderung gelebt. Aber ich spürte, dass das Leben das ich führen wollte und der Mensch der ich werden wollte mit diesem System kaum oder gar nicht vereinbar sind. Die wenigen Wochen und Monate meines Lebens, die ich in stationären Einrichtungen verbracht hatte (Reha), waren stark geprägt von struktureller Gewalt, Fremdbestimmung und auch körperlicher Gewalt. Ich hatte damals noch keine Worte dafür, um die Ungerechtigkeit zu benennen. Ich konnte mich nur darüber aufregen und es als unfair beschreiben, wenn ich täglich dafür angemeckert wurde, in der Mittagszeit auf die Toilette gehen zu müssen, weil da doch Übergabe sei. Die Übergabe ging 2 Stunden. Die meisten Menschen müssen nach dem Mittagessen auf die Toilette. Heute weiß ich, dass es gewaltvoll ist, Menschen mit Assistenzbedarf ihre Hilfsbedürftigkeit jedes Mal wieder in Frage stellen, ihnen, also uns, das Gefühl zu geben, wir würden uns anstellen und seien eine Last. Mit der Zeit habe ich gelernt, solche Situationen anzusprechen und mich dagegen zu wehren. Auch als meine Bettnachbarin inkontinent war, weil sie es nicht gewohnt war, so viel zu trinken und sich außerdem nicht getraut hat zu klingeln, um auf die Toilette zu gehen, habe ich ihre Partei ergriffen, wenn das Pflegepersonal sie beschämt und schikaniert hat. Für nicht betroffene Personen können solche kleinen Vorkommnisse unbedeutend wirken, doch sie schnüren uns immer weiter ein. Man hat Angst, die eigenen Bedürfnisse zu äußern, weil man der Konfrontation, harschen Worten und groben Händen aus dem Weg gehen möchte. Man hat Angst, die eigenen Bedürfnisse zu äußern, weil sie als übertrieben, lächerlich und als Extrawurst abgetan werden. Man kann nicht mehr bestimmen, wann man aufsteht, wann man duscht, wann man isst, was man isst, wann man rausgeht, wann man Besuch bekommt, mit wem man eine Beziehung führt, wann man ins Bett geht, wer einen intim anfasst für pflegerische Unterstützung. All das ist strukturelle Gewalt.

Der starke Personalmangel in der Pflegebranche, der Zeitdruck, die Routine, die Abstumpfung. Mir wurde in meinen Aufenthalten sehr eindrücklich verdeutlicht, wie schnell diese im Klima der Fremdbestimmung schnell zu personaler und auch körperlicher Gewalt umschlagen können

[Triggerwarnung: Beschreibung sexualisierter und körperlicher Gewalt]

So wurde mir in einem Rehaaufenthalt mit ca. 14 von einer Pflegerin, die von Effizienz und Abgebrühtheit getrieben war, gegen meinen Willen und unter meinen Schmerzensschreien ein Tampon eingeführt. Ich konnte es nicht selbst, hatte erklärt, dass mir das aufgrund der Spastik außerdem Schmerzen bereitete aber die Pflegerin meinte, ihr sei es zu umständlich und ekelig, Binden zu wechseln und setzte sich über meine sogar klar kommunizierte Grenze hinweg.

[Triggerwarnung Ende]

Diese wenigen Wochen meiner Jugend, die ich einige Jahre in Folge in dieser Atmosphäre verbracht habe, haben tiefe Spuren in mir hinterlassen. Ich konnte sie jahrelang spüren, als diffuse Angst. Als Verletzlichkeit. Als Schmerz des Loslassens von den Menschen, die selbstverständlich auf meine Bedürfnisse und mein Menschsein eingegangen sind. Als Wut auf ein System, dass mich ohnmächtig gemacht hat. Es war nicht „bloß“ die Auseinandersetzung mit der eigenen Verletzlichkeit, die wir alle irgendwann Stück für Stück führen müssen. Nicht nur Selbstkrise und Erwachsen werden. Abstrakte Philosophie und neue Lebensabschnittsherausforderungen.

Es war die harte, nackte, reale Angst, ein Leben in einem System der Gewalt führen zu müssen. Mal mehr, mal weniger. Aber eben Gewalt. Sie sitzt uns im Nacken. Wir spüren, dass es Jahrhunderte lang so war. Dass wir aktiv dagegen arbeiten müssen, wenn wir ein Leben in Freiheit und ohne Gewalt leben wollen. Wie und wo auch immer. Wenn wir das Risiko, dass Menschen mit Behinderung von Gewalt betroffen sind, mindern wollen, müssen wir ihre Selbstbestimmung stärken und ihnen Wege in die Unabhängigkeit ebnen. Denn Abhängigkeit forciert Machtverhältnisse und diese ermöglichen immer Machtmissbrauch.