Tourismus und Corona

von Dr. Jos Schnurer
13.12.2021

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Isolation, Lock down, Pandemie, Katastrophen… bringen die Lebensgefühle, Verhaltensweisen und Erwartungen der Menschen durcheinander, individuell und kollektiv. Es wird sogar, bezogen auf gesellschaftliche Einstellungen und Gefühlsäußerungen von der „German Angst“ als Kennzeichen für nationale Mentalitäten gesprochen. Es ist die Rede von der „Gesellschaft der Angst“i, von der „Herrschaft der Angst“ii. Es wird, wissenschaftlich informiert und populistisch spekuliert, ob und inwieweit gesetzliche Maßnahmen notwendig oder überflüssig sind, in der Gesellschaft einen „Lockdown“ zu veranlasseniii. Die kontroversen Auseinandersetzungen um Impfnotwendigkeit, Impfpflicht, individuelle und kollektive Schutzverantwortung oder Recht auf Selbstbestimmung führen dazu, dass ein Riss durch die Gesellschaften geht: Was darf der Staat? – Was ist individuelles Recht?iv.

Infektion und Übertragung

In diesem Beitrag soll es nicht in erster Linie darum gehen, was Pandemien und lokale und globale Katastrophen in Gesellschaften anrichten, und wie die Suche nach globalen Lösungsmöglichkeiten verlaufenv. Vielmehr wird hier der Frage nachgegangen, welche Auswirkungen die Pandemie auf den Tourismus hat. Es wird keine Analyse darüber sein, wie die Tourismus-Industrie darunter leidet; es soll vielmehr darum gehen, welche emotionalen, mentalen und faktischen Empfindungen und Veränderungsprozesse beim Homo viator und beim Homo touristicusvi auftreten. Der Psychoanalytiker und Therapeut Konrad Heiland setzt sich damit auseinander, wie „Infektionen“ atmosphärisch auf individuelle und kollektive, physische, psychische und kreative Einstellungen und Verhaltensweisen einwirken. Die Aktionen und Reaktionen bewegen sich in individuellen und kollektiven Prozessen überwiegend in der Spannweite zwischen Hoffnung, Kraft, Zuversicht, Empathie, positivem Denken und Handeln auf der einen Seite, und von Angst, Passivität, Ausgeliefertsein, Fatalismus und humaner Verneinung auf der anderen: „Mir scheint das Prinzip Infektion wie ein übergreifendes, mächtiges Lebensprinzip“. Mit dieser Aussage greift der Arzt auf den Diskurs ein, dass – im Allgemeinen wie im Besonderen – der Mensch in seiner Identitätsentwicklung darauf angewiesen ist, sich ein- und auszurichten auf kollektive Werte, Normen, Verfasstheiten und Lebensbedingungen. Dabei erlebt er sowohl positive Wirkungen, aber auch negative Gefährdungen: „Angst ist ansteckend, aber Mut ist es auch“. Mit den Denk-Instrumenten und Methoden der Psychoanalyse diskutiert er die Folgen und Erfahrungen von „Ansteckungen“ beim menschlichen Miteinander und lässt Meinungen und Analysen zum Infektionsbegriff zu Wort kommen: „Ausgehend von der medizinischen Wissenschaft und den teilweise verheerenden Erfahrungen mit den sogenannten Infektionskrankheiten in den letzten Jahrhunderten, werden … Analogien in Gesellschaft, Kunst und Psychoanalyse … entwickelt“. Die dabei grundgelegten psychologischen Theorien und Praktiken, wie z.B. die „Balint-Supervision“ und die „Adhoc-Übertragung“, sind durchaus geeignet, sie in interdisziplinären Zusammenhängen zu diskutieren. Krisen, unerwartete Ereignisse und Pandemien verunsichern Menschen. Die Strategien zum existentiellen Umgang mit ihnen sind vielfältig. Sie reichen von der aktiven, hoffnungsvollen und realistischen Bewältigung, bis hin zu fatalistischen, wirklichkeitsverweigernden Einstellungen und Verirrungen. Das Phänomen der Ansteckung und Übertragung im menschlichen Miteinander ist als Grundlage der Conditio Humana zu verstehen. Infektionskrankheiten als Folgen und Ergebnisse von Kontakten zwischen Menschen sind „normale“ Tatsachen. Es sind Entwicklungen, die aus Gutem Schlechtes macht. Gut deshalb, weil der anthrôpos, das mit Vernunft ausgestattete Lebewesen, friedlichen und humanen Kontakt, Empathie und Zuneigung zu den Mitmenschen und zur Umwelt benötigt. Es ist deshalb notwendig, die Ursachen, Gründe und Wirkungen von Infektionen zu ergründen. Dabei gilt es, „Infektion“ nicht nur als Auslöser von Krankheiten, sondern als umfassendes Phänomen des Lebens zu verstehenvii.

Suche dir zuerst die Gefährten, dann den Weg“viii

Der moderne Tourismus ist bestimmt von den Erfahrungen, dass in der sich immer interdependenter, entgrenzender und globaler entwickelnden (Einen?) Welt Reiseziele für jeden Menschen erreichbar sind. Es gibt Rankings, die ausweisen, wieviel Reiseorte und –gelegenheiten Tourist*innen bereits absolviert haben. Es gibt keine Landschaft und kein Land auf der Erde, das nicht bereits touristisch erschlossen ist und von Touristen besucht werden kann, individuell und in Reisegruppen. Dickbändige Reisekataloge preisen in bunten Bildern und Tourenbeschreibungen an, wo es hingehen kann, mit Flugzeug, Schiff, Bahn, Bus und per pedes. Die Deutschen, so die Statistik, werden als „Reiseweltmeister“ bezeichnet. An vielen Touristenorten wird „Deutsch gesprochen“, es werden Angebote angepriesen „wie bei Muttern“; und die Touristenunterkünfte sind ausgestattet „wie zu Hause“. Diese Anpassungstendenzen widersprechen eigentlich der Vorstellung, was Reisen für Menschen bedeutet: Den Blick über den eigenen Gartenzaun zu wagen, die eigenen vier Wände zu verlassen und Fremdes, Unbekanntes zu entdecken und zu erfahren! Der Dichter Matthias Claudius (1740 – 1815) hat dies so ausgedrückt: „Wenn du eine Reise tust, dann kannst du was erleben“ix. Nun, zu seinen Zeiten war Reisen anders als heute. Die Fahrt mit der Postkutsche oder der Weg mit Rucksack und Spazierstock war anstrengender und zeitaufwändiger. Die modernen Reisemittel bringen Touristen heute schneller, bequemer und unkomplizierter zum Reiseziel. Obwohl es mittlerweile touristische Angebote gibt, die nicht das Ziel haben, möglichst in time zu reisen, sondern langsam, geruhsam und nachhaltig anzukommen, gilt im globalen Tourismus: Möglichst ein unkompliziertes, angenehmes, nicht allzu anstrengendes, Bereithalten und Bereitstellen von Reisezielen.

Dagegen gesetzt werden soll die These: Die Globalisierung des Tourismus erfordert sowohl von den einzelnen Touristen, als auch von den Völkern und Institutionen einen verantwortungsvollen Umgang mit der Macht des Tourismus. Es bedarf eines gemeinsam abgestimmten Kodex für eine „Ethik des Tourismus“x.

Das Lexikon gibt uns nur unvollständig Auskunft darüber, was unter Tourismus zu verstehen ist: „Fremdenverkehr, Tourismus, der besuchsweise Aufenthalt von Personen an Orten, die nicht ihre ständigen Wohnsitze sind, zum Zweck der Erholung, der Kur, der Bildung oder der Förderung geschäftlicher Verbindungen“. Im Synonymwörterbuch (Duden) wird ausgewiesen: „Fremdenverkehr, Reisen, Reiseverkehr, Reiseverkehrswesen, Urlaubsreiseverkehr“. Trotz dieser unzulänglichen Beschreibung des Phänomens lokalisieren doch die Stichworte die vielfältigen Zwecke des Reisens: Touristen machen Urlaub zur Erholung, sie reisen, um kulturelle Stätten aufzusuchen und sie erobern Märkte. Werfen wir einen Blick in die Geschichte des Tourismus, dann wird ein Gesichtspunkt von Anfang an deutlich – die Neugierde. Wenn wir z.B. die frühen Forschungsreisenden betrachten, dann war es das Getriebensein und die Sehnsucht nach dem Unbekannten, die Neugier und der Wunsch, durch die Entdeckungen des Neuen entweder ideell in die Geschichte einzugehen oder einen materiellen Gewinn davonzutragen. Das Beobachten der (fremden) Menschen, deren Sitten, Gebräuchen und Kulturen und das Aufschreiben hat die Reiseberichte hervorgebracht, von der Odyssee, dem klassischen Rundreisebericht, Jahrhunderte vorher bereits das Gilgamesch-Epos mit der sehnsuchtsvollen Hoffnung, durch die Reise des sumerischen Helden in die Ferne die Unsterblichkeit zu finden. Damit charakterisieren wir den ersten Fragenkomplex:

Eine Reise ist nicht in erster Linie ein Abenteuer, sondern eine Suche nach etwas!

Die Suche kann, wie bei den historischen „Touristen“ ein mystisches Ziel haben, wie z.B. bei den christlichen, muslimischen, buddhistischen Pilgerreisen, also die Suche nach dem Heil; oder sie ist ausgerichtet auf die Suche nach Land, Reichtümern, also der Eroberung; oder sie wird bestimmt vom lebendigen Drang der Neugier und dem von der Aufklärung beeinflusstem Denken, die andersartigen Sitten und Gebräuche der fremden Völker anzuerkennen.

Im Zeitalter des Imperialismus, das die Unterwerfung von Menschen und Kulturen unter das vermeintlich höherwertige eigene Denken und Handeln zum Ziel hatte, brach sich der Kolonialismus seine Bahn. Die entscheidende Tatsache, so die Auffassung der Kolonisatoren, die Lebensbahn der von den Europäern unterworfenen Völker, des Einzelnen wie der Gemeinschaft, etwa in Afrika, münde früher oder später, „aber in jedem Fall unvermeidlich, in die vom Weißen vorgezeichneten Linien“xi. Im Über-Unterordnungsverhältnis des Kolonialisten zum Kolonialisierten macht sich die Charakterisierung des zweiten Fragenkomplexes fest:

Der Weiße, der aus dem Westen kommt, aus einem „erfolgreichen“ Industrieland, kommt mit Potenz und Macht!

Höherwertigkeitsvorstellungen und hierarchische Verhältnisse bestimmen das Verhältnis des Touristen zu den Einheimischen: „Das Geschick des Afrikaners ist für absehbare Zeit mit dem des Europäers aufs engste verbunden, ja es ist von ihm abhängig, er ist der Schüler und Arbeitnehmer, wir die Lehrer und Arbeitgeber, aber auch: wir sind die Herren und er der Untergebene“xii . Dieses völkisch und religiös motivierte patriarchalische Denken mündet allerdings bald in einen anfangs angeblich wissenschaftlich fundierten Rassismus, wie er in den USA von Professor August Forel um die Jahrhundertwende propagiert wurde, mit der Handlungsanweisung: „Zu ihrem eigenen Wohle sogar müssen die Schwarzen als das, was sie sind, als eine durchaus untergeordnete, minderwertige, in sich selbst kulturunfähige Menschenunterart behandelt werden“, die schließlich die Grundlage für das nationalistische, menschenverachtende Rassenverständnis im Nationalsozialismus mündetxiii.

Ein dritter Fragenkomplex tut sich auf, wenn wir auf die Denkweise vom „edlen Wilden“ schauen, der Maler, Entdecker und Wissenschaftler antrieb. Philanthropische, mit aufklärerischem, philosophischem Denken vermischt, paaren sich hierbei karitative Aspekte mit wissenschaftlicher Neugier:

Das sittliche Niveau der eigenen Kultur bestimmt das interkulturelle Denken und Handeln!

Obwohl in der gutwilligen Betrachtung, etwa von Blumenbachxiv , Prichardxv u.a. durchaus die Erkenntnis durchschimmert, dass es sich bei der Menschheit um „ein Wesen“ handele, bilden sich doch – so als fürchtete man sich vor dieser Einsicht – merk würdige Differenzierungsmuster, wie etwa bei Klemmxvi, der in der Menschheit eine aktive, eine männliche und eine passive, eine weibliche Rasse zu erkennen glaubt. Selbstverständlich platziert er die aktive Rasse - „in geistiger Hinsicht... vorherrschend den Willen, das Streben nach Herrschaft, Selbständigkeit, Freiheit; das Element der Tätigkeit, Rastlosigkeit, das Streben in die Weite und Ferne, den Fortschritt in jeder Weise, dann aber auch den Trieb zum Forschen und Prüfen, Trotz und Zweifel...“ – in die Länder der „Eroberer“ und „Gewinner“, während er das „ passive Urvolk“ in die bis dahin weitgehend unbekannten Regionen der Erde verpflanzt. Die passive Rasse kennzeichne sich dadurch, dass der Charakter sanft und geduldig sei, „nachgebend aus Schwäche und ausharrend aus Faulheit. Sie sind treffliche Diener, solange alles im gewohnten Geleise geht, gute Soldaten, solange sie nicht genötigt werden, selbst zu denken und selbständig zu handeln, solange sie angeführt werden“.

Ein vierter Fragenkomplex ist gekennzeichnet durch das Bestreben, die eigenen Denk- und Verhaltensweisen zu vergleichen mit dem kulturellen Denken und Handeln von Menschen aus anderen Zivilisationen. Dies macht sich sowohl in äußeren wie inneren Vergleichen fest, etwa, wenn ein Beobachter auf dem Markusplatz in Venedig die Grußgesten von Menschen aus verschiedenen Ländern betrachtet: „Ein englischer Offizier legt die Hand an die Kappe. Der belgische Zivilist, dem es galt, lüftet den Hut, die Dame an seinem Arm nickt dem Engländer mit dem Kopfe zu. Ein Italiener grüßt die Gruppe durch Erheben des rechten Armes. Da kommt der Araber, der mein Führer durch die Stadt sein will, auf mich zu, verschränkt die Arme vor der Brust und meldet sich so mit einer Verbeugung zur Stelle"xvii.

Die „Eingeborenen“ sind auch Menschen!

Da wird in einem Bericht die Deutsche Schule in Tokyo-Yokohama / Japan) als „Insel der Vertrautheit“ bezeichnet, weil sich dort für die Schülerinnen und Schüler, die mit ihren Eltern in Japan leben, in „dieser komplizierten Gemengelage aus Fremdheit, aus Ängsten, aber auch aus Bewunderung für japanischen Arbeitseifer und japanische Ordnung, die deutschen Wertvorstellungen doch sehr nahe kommen“, zu Hause fühlen könnenxviii. Der Vergleich bringt nicht selten erstaunliche Ergebnisse: „In China widerstrebt es den Frauen, sich nackt auszuziehen, nicht aber den Männern; im Westen ist es das Gegenteil“, registriert der chinesische Gelehrte bei seiner Reise 1883 nach Europa. Da macht sich der französische Anthropologe und Afrikanist Marc Augé auf den Weg in die Pariser U-Bahn und stellt sich vor, was er als Eingeborener einem Ethnologen aus Afrika, der seinerseits ein Eingeborener ist, auf seine Fragen antworten würdexix. Da gibt es die köstliche Geschichte, wie sich ein Afrikaner auf den Weg „ins innerste Deutschland“ macht und mit seinen skurrilen und hintergründigen Beobachtungen über das Verhalten der „Wasungu“ (der Weißen) uns einen Spiegel vorhältxx. Und da liegen mittlerweile eine Reihe von Forschungsberichte von ausländischen Ethnologen vor, die sich über das „wenig erforschte Gebiet“ Deutschland Gedanken machen; da stellt die US-amerikanische Völkerkundlerin Diana Forsythe Sitten und Gebräuche beim sächsischen Karneval dar, bei denen sich ein Kölner Soziologe unversehens „in die Rolle des primitiven Eingeborenen gedrängt“ fühlt; oder wenn der Kameruner Anthropologe Flavien Ndonko in seiner Arbeit „Hunde in Deutschland. Ein Beitrag zum Verstehen deutscher Menschen“ feststellt, dass in Deutschland „Vierbeiner fast menschlichen Status erreicht hätten“xxi.

Ein fünfter Fragenkomplex wird durch die unterschiedlichen Einschätzungen provoziert, die Forschungen zu den Phänomenen des Massentourismus zutage fördern; da ist die eine Beobachtung, dass die Urlaubsbegegnung mit Menschen aus anderen Kulturen und in anderen Ländern aus Ethnozentrismus, multikulturelles Denken und Handeln mache – und die andere, dass der Massentourismus weder zur interkulturellen Verständigung beitrage, sondern vielmehr in vielen Fällen fremdenfeindliche Einstellungen hervorbringexxii.

Ich schaue den Fremden an und sehe – mich!

Die Angst vor „Überfremdung“, wie sie etwa in der Diskussion um das Asylrecht in der Bundesrepublik deutlich wird und sich in der jahrzehntelangen Kontroverse fest machte, ob Deutschland ein Einwanderungsland sei oder nicht, gehört zu unserem Thema, genauso wie die Angst der Mallorquiner, dass ihre Insel „germanisiert“ werden könnte, wie dies z.B. Carlos Garrido in der fiktiven Geschichte „Mallorca de los alemanes“ (Das Mallorca der Deutschen) für das Jahr 2013 befürchtetxxiii.

Ethnozentrismus und Rassismus sind zwei Seiten der gleichen Problematik.

Ein sechster Fragenkomplex subsumiert die Erwartungen, die Gastgeber und Gäste, Urlauber, Reisende und Eingeborene gegenüber hegenxxiv. In einer Analyse über den Tourismus in Tunesien werden die vielfältigen Aspekte aufgeführt, etwa die Befürchtung, dass die Berührung der Einheimischen mit den herbeiströmenden Fremden die überlieferten Verhaltensweisen und Anschauungen beeinflussen könnten, dass vor allem der Massentourismus die Mentalität der Tunesier verändere, neue Auffassungen in Bezug auf Arbeit, Geld und zwischenmenschliche Beziehungen mit sich bringe und die Bande zerstöre, welche die Bevölkerung mit ihrer Religion und Moral verbinde. Andererseits bringe der Tourismus als Wirtschaftsgut der Bevölkerung viele Vorteile. Deshalb müsse die Erziehung der breiten Öffentlichkeit und insbesondere jener Kreise, die in unmittelbarer Berührung mit den Gästen kommen, darauf abzielen, ein Höchstmaß an Aufnahmebereitschaft, Höflichkeit und Hilfsbereitschaft zu erreichen, aber auch Würde und gesunden Nationalstolz entwickeln. „Wir wünschen daher, dass der Tourismus eher eine Begegnung als ein Ausflug wäre“xxv. Begegnung ist ein Austausch, der zu Entdeckungen führt und den Perspektivenwechsel ermöglicht und erfordert: „Normalerweise ist es dem Menschen nicht bewusst, dass seine Erlebensweisen und Verhaltensmuster durch seine Kultur geprägt sind und dass die Menschen in anderen Kulturen andere, eigene Sichtweisen, Wertorientierungen, Normen haben“xxvi. Durch die Begegnung mit Menschen in anderen Ländern und aus anderen Kulturen, mit verbalen und nonverbalen Verständigungsmitteln, wird nicht nur das eigene Weltbild relativiert, es wird auch gefestigt und bereichert.

Der Tourist soll nicht vorüberziehen, sondern den Menschen begegnen!

Diese Sichtweise führt direkt zum siebten Fragenkomplex, der orientiert ist an dem Bewusstsein: „Der Mensch gehört zur Erde“, wie dies in dem Umweltprogramm der UNESCO, dem „Programme on Man and the Biosphere“ (Der Mensch und die Biosphäre)xxvii bearbeitet wird. Damit soll deutlich gemacht werden, dass das Besitzanspruchsdenken des Menschen in seinem Verhältnis zur Natur und Umwelt verändert werden muss hin zu einem Wertewandel für eine nachhaltige Entwicklung der Menschheit (Agenda 21). Es ist der „New Green Deal“, der das kapitalistische „Immer-Mehr“- Denken und Handeln ablösen und einen Perspektivenwechsel bewirken soll, wie ihn die Weltkommission „Kultur und Entwicklung“ 1995 eindringlich gefordert hat: „Die Menschheit steht vor der Herausforderung umzudenken, sich umzuorientieren und gesellschaftlich umzuorganisieren: Neue Lebensformen finden“xxviii.

Wir leben in EINER WELT

„Nachhaltiger Tourismus“ ist das Stichwort. Die Welttourismusorganisation der Vereinten Nationen (WTO) bringt dies auf die Formel: „Die verantwortlichen Träger der touristischen Entwicklung und die Touristen sind verpflichtet, die Traditionen sowie die gesellschaftlichen und kulturellen Praktiken aller Völker, einschließlich der nationalen Minderheiten wie der indigenen Bevölkerung, zu berücksichtigen“. Auf der Welttourismusmesse 1999 in Paris hat der französische Reiseveranstalter Atalante eine „Ethikcharta für Reisende“ vorgelegt, in der es an oberster Stelle heißt: „Respekt ist die Grundlage für eine positive Begegnung“xxix. Der Fremdenverkehr boomt weltweit. Nach einer Statistik der WTOxxx sind zur Zeit jährlich rund 625 Millionen Touristen unterwegs; 1996 waren es 592 Millionen, ein Anstieg von 29 % seit 1990 und von mehr als 50% seit 1980. Und im Jahr 2020, so die Prognosen, werden es 1,6 Milliarden Menschen sein. Damit wird die Tourismusbranche zum weltweit wichtigsten Wirtschaftszweig aufsteigen. Die Touristen, die heute im Jahr insgesamt rund 445 Milliarden US-Dollar ausgeben, werden dann 2 Billionen Dollar zur Verfügung haben. Die Veränderung der Reiseziele in diesem Zeitraum machen deutlich, dass sich mit dem Anstieg des Tourismus in der Welt auch die Reise- und Urlaubsregionen verändern:

Beliebteste Reiseziele

1998 / Touristen / Jahr (in Millionen)

2020 / Touristen / Jahr (in Millionen)

Frankreich 70,0

China 137,1

Spanien 47,7

USA 102,4

USA 41,1

Frankreich 93,3

Italien 34,8

Spanien 70,1

Großbritannien 25,5

Hongkong 59,3

China 24,0

Italien 52,9

Mexiko 19,3

Großbritannien 52,8

Polen 18,8

Mexiko 48,9

Kanada 18,7

Russische Föderation 47,1

Österreich 17,3

Tschechien 44,0

Der grenzüberschreitende Tourismus, vor allem Fernreisen, bleiben, so die Statistik der WTO, auch im Jahr 2020 eine Domäne weniger Privilegierter vor allem aus den Industrieländern der nördlichen Hemisphäre., auch wenn bis dahin mehr als doppelt so viel Menschen der Weltbevölkerung ins Ausland reisen, nämlich rund 7% im Gegensatz zu rund 3% (1996).

Interessant ist eine weitere Statistik. Vergleicht man die Länder, die (1997) die meisten Ausgaben für den Tourismus getätigt haben, mit den Ländern, die von den Einnahmen profitieren (1998), dann wird die Wirtschaftskraft der Fremdenverkehrsbranche deutlich:

Länder mit den meisten Ausgaben,

in US-Dollar / 1997

Länder mit den größten Einnahmen,

in US-Dollar / 1998

USA 51, 2 Mia

USA 74,2 Mia

Deutschland 46,2

Italien 30,4

Japan 33,0

Frankreich 29,7

Großbritannien 27,7

Spanien 29,6

Italien 16,63

Großbritannien 21,3

Frankreich 16,57

Deutschland 16,8

Kanada 11,3

China 12,5

Österreich 11,0

Österreich 12,2

Niederlande 10,23

Kanada 9,1

China 10,17

Australien 8,6

Reisen trotz oder wegen der Katastrophen?

Am Morgen des 1. April 1946 erschütterte ein starkes Erdbeben die Inselgruppe der Aleuten, und ein mächtiger Tsunami wälzte sich ohne Vorwarnung auf die Küste von Hamakua auf Hawai zu. Die Kinder trafen gerade bei der Schule in Laupahoehoe ein, als das Meer plötzlich zurück wich. Ungläubig staunende Schüler und Lehrer liefen zum Strand. Dann kehrte die See als neun Meter hohe Wasserwand wieder. Schreiend rannten die Kinder zurück, 24 von ihnen erreichten die Schule nicht mehr ... Die Insel Hawai, die 1960 eine weitere Tsunami-Tragödie erleiden musste, wird heute durch ein hochmodernes Frühwarnsystem geschützt. Es gibt am Strand Sirenen und eindrucksvolle neue Wasserbrecher, tief liegende Gebiete wurden nicht wieder bebaut. Wegen der sich verschiebenden Platten, die das Pazifische Becken umgeben, sind tödliche Tsunamis etwa alle 25 Jahre beinahe unvermeidlich. Tsunamis wie im Indischen Ozean sind wegen der Bewegung der Erdkruste zwar nicht zu verhindern, aber die schrecklichen Auswirkungen von Beben und Fluten für Mensch und Umwelt können durch moderne Frühwarnsysteme abgemildert werden. Doch die globalen Klimaveränderungen bewirken Überflutungen, Brände oder Dürrekatastrophen überall in der Welt. Die Weltgemeinschaft diskutiert in den Klimakonferenzen, wie die sich andeutenden – und in einigen Weltregionen bereits real sich vollziehenden – Klimakatastrophen zumindest abgemildert werden können: bisher unzulänglich und unbefriedigend.

Tourismus ist wie Feuer: Man kann mit ihm seine Suppe kochen – oder das Haus abbrennen!

Corona – der Tourismuskiller?

Die zeitweise erlassenen Ein- und Ausreisebeschränkungen und Sperren wegen der Pandemiekrise hat die Tourismus-Industrie vor große Herausforderungen gestellt: Flugzeuge blieben am Boden, Hotelketten schlitterten am Rande von Pleiten, Gastgeber und örtliche Tourismus-Institutionen registrierten existenzbedrohende Verluste. Es schien, dass die projektierten und annoncierten, gewinnbringenden Entwicklungsmarchen hinter der Corona-Maske verschwänden. Der Tourist wurde zum Daheimgebliebenen und Eingesperrten. Politiker und Mediziner riefen auf: „Bleiben Sie zu Hause!“ – „Meiden Sie große Zusammenkünfte!“ – „Verreisen Sie nur, wenn es unbedingt notwendig ist!“. Vor allem: „Lassen Sie sich ausreichend impfen und boostern!“.

Wie verreisen?

Über die Möglichkeiten und Gefahren, die in der modernen Zeit der Massentourismus mit sich bringt, wird viel argumentiert, analysiert, apostrophiert, appelliert, adhibiert, affirmiert und agitiert. Die Argumentationen reichen von dem Versprechen, dass Tourismus als Werkzeug des Friedens und zur Verständigung zwischen Ländern und Völkern diene, bis hin zu den Befürchtungen, dass Berührung und Kontakt des Anderen, des Fremden mit dem Eigenen, überlieferte Traditionen, Sitten und Gebräuche nicht nur verändern, sondern zerstören würden. Euphorie und Lamento halten sich dabei die Waage. Wirtschaftsmacht und kulturelle Veränderungsprozesse werden ins Spiel gebracht. Aufklärungs-, Bildungs- und Erziehungsprozesse hin zur interkulturellen Begegnung prägen den Diskurs um eine humane, gerechte und friedliche Eine Welt.Wenden wir nun diese Prämissen auf die Wirklichkeiten und Wirkungen des Massentourismus an, bedarf es keines besonderen Erstaunens, dass es notwendig ist, Aufmerksamkeit auf die Entwicklungen dieses mächtigen Prozesses „im Zeitalter des Massentourismus“ zu lenken. An der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg wird vom Zentrum für Interdisziplinäre Regionalstudien (ZIRS) der sozialanthropologischen und ethnologischen Forschung eine besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Zum Thema „Kulturerbe im Zeitalter des Massentourismus“ wurde vom 3. – 5. 2. 2011 ein internationales Symposium durchgeführt; und bei der 34. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Völkerkunde vom 14. – 17. 9. 2011 diskutierten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer die Aspekte „Kultur all inclusive. Konsum und Vermarktung kultureller Aspekte im Tourismus“. Der Ethnologe und Direktor des Zentrums ZIRS, Burkhard Schnepel, der Ethnologe und wissenschaftliche Mitarbeiter Felix Girke und die an der Universität in Wien lehrende Völkerkundlerin und Frauen- und Geschlechterforscherin, Eva-Maria Knoll geben den Sammelband mit den Einzelbeiträgen der Veranstaltungen heraus. Sie konnten vor 10 Jahren die Wirkungen und Imponderabilien der Corona-Epidemie nicht kennen. Doch die interdisziplinären, wissenschaftlichen Beiträge greifen die Bedenken und Analysen auf, die auch heute, zur „Corona“-Zeit, zu bedenken sind, wenn Menschen verreisen, anderswo als auf Balkonia Urlaub machen und als Touristen unterwegs sind; etwa wie Tourismus- und Werbeslogans Auffassungen, Einstellungen und Leitbilder idealisieren, projizieren, inszenieren und lenken; wie Raum- und Konsumerfahrungen Menschen beeinflussen und verändern; wie die „wa(h)re Kultur“ aussieht; wie Menschen „hinter den Masken“ lebenxxxi.


i Heinz Bude, Gesellschaft der Angst, 2014, www.socialnet.de/rezensionen/18499.php

ii Hannes Hofbauer / Stefan Kraft, Hrsg., Herrschaft der Angst. Von der Bedrohung zum Ausnahmezustand, 2020,28039.php

iii Hannes Hofbauer / Stefan Kraft, Hrsg., Lockdown 2020, www.socialnet.de/rezensionen/28039.php

iv Paul Collier / John Kay, Das Ende der Gier. Wie der Individualismus unsere Gesellschaft zerreißt, und warum die Politik wieder dem Zusammenhalt dienen muss, 2021, www.socialnet.de/rezensionen/28719.php

v Siehe dazu: https://www.sozial.de/globale-gesundheit-und-corona.html

vi Hans Lenk, Kreative Aufstiege. Zur Philosophie und Psychologie der Kreativität, Suhrkamp Verlag, stw 1456, 2000, 350 S.

vii Konrad Heiland, Hrsg., Prinzip Infektion. Atmosphärische Übertragung in Gesellschaft, Kunst und Psychoanalyse, 2020, www.socialnet.de/rezensionen/27563.php

viii Arabisches Sprichwort

ix https://www.gutzitiert.de/zitat_autor_matthias_claudius_thema_reisen_zitat.html

x vgl. dazu: Georg Friedrich Pfäfflin, Tourismus und Entwicklung. Ökomenisch reisen mit den Kriterien des Ausschusses für Entwicklungsbezogene Bildung und Publizistik (ABP), Stuttgart 1988, 87 S

xi Diedrich Westermann, Afrikaner erzählen ihr Leben. Elf Selbstdarstellungen afrikanischer Eingeborener aller Bildungsgrade und Berufe aus allen Teilen Afrikas, Evangelische Verlagsanstalt, Berlin 1952 (1931), S.5

xii D.Westermann, Der afrikanische Mensch und die europäische Kolonisation, in: Georg Wüst (Hrsg.), Kolonialprobleme der Gegenwart, Verlag von E.S.Mittler & Sohn, Berlin 1939, S. 67

xiii vgl. hierzu: Houston Steward Chamberlain, die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts, Bd.1, F.Bruckmann A.-G., München 1915, S. 341f

xiv J.F.Blumenbach, Handbuch der Naturgeschichte, 1780

xv J.C.Prichard, Naturgeschichte des Menschengeschlechts, Leipzig 1840

xvi G.Klemm, Allgemeine Cultur-Geschichte der Menschheit, Bde 1-6, Leipzig 1843

xvii Ernst Heinrich Schrenzel, Kleine Völkerkunde. Streifzüge zu fernen Menschen, Steyermühl-Verlag, Wien – Leipzig 1937, S. 15f

xviii Sten Martenson, Insel in der Fremde, in: Begegnung 1/94, S. 11ff

xix Joachim Fritz-Vannahme, Der Ethnologe als Eingeborener; in: DIE ZEIT, Nr. 35 vom 23.8.1996, S.35

xx Hans Paasche, Die Forschungsreise des Afrikaners Lukanga Mukara ins innerste Deutschland, Donat Verlag, Bremen 1993, 111 S.

xxi Ulrich Schnabel, Durchs wilde Germanistan. Wie ausländische Ethnologen versuchen, das deutsche Wesen zu ergründen, DIE ZEIT, Nr. 40 vom 30.9.1999, S. 33f

xxii vgl. hierzu z.B. die Arbeiten des Starnberger Studienkreises für Tourismus und Entwicklung e.V., Kapellenweg 3, 82541 Ammerland, etwa: Sympathie-Magazin „Fremdes verstehen“ (Nr. 28)

xxiii vgl. hierzu: Annita Kalpaka / Nora Täthzel (Hrsg.), Die Schwierigkeit, nicht rassistisch zu sein, Köln 1994, 160 S.

xxiv Siehe z. B. Heinrich Bölls Kurzgeschichte „Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral“, 1963

xxv Abdelwahab Bouhdiba, Massentourismus und kulturelle Tradition, in: UNESCO-Kurier 2/1981, S. 4ff

xxvi Gerhard Maletzke, Interkulturelle Kommunikation. Zur Interaktion zwischen Menschen verschiedener Kulturen, Westdeutscher Verlag, Opladen 1996, S. 23

xxvii Deutsches Nationalkomitee für das UNESCO-Programm „Der Mensch und die Biosphäre“, Bundesamt für Naturschutz, Konstantinstr. 110, 53179 Bonn (1990), vgl. dazu auch: „Kriterien für Anerkennung und Überprüfung von Biosphärenreservaten der UNESCO in Deutschland, Bonn 1996

xxviii Ann Pettifor, Green New Deal. Warum wir können, was wir tun müssen, 2020, www.socialnet.de/rezensionen/27787.php

xxix Cynthia Gutman, Auf dem Weg zu einer Ethik des Tourismus, in: UNESCO-Kurier 7/8/1999, S. 52

xxx Quelle: Welttourismusorganisation WTO, wiedergegeben in: a.a.o., S. 23

xxxi Burkhard Schnepel, u.a., Hrsg., Kultur all inclusive. Identität, Tradition und Kulturerbe im Zeitalter des Massentourismus, 2013, www.socialnet.de/rezensionen/15474.php