Sprache und Wert der Menschenrechte
Besonders in Zeiten von Unsicherheiten, Unrechtsverhalten und menschenunwürdigen, politischen Einstellungen und Machtausübungen ist gefordert, sich der Bedeutung und Werte von individuellen und kollektiven, lokalen und globalen Ethiken bewusst zu machen.
Als am 26. 6. 1945 die Vereinten Nationen gegründet wurden, standen die Völker vor den schockierenden Eindrücken, dass in neuerer Zeit zwei Weltkriege Leid, Unrecht, Zerstörung und Tod über viele Menschen und Güter gebracht haben. Mit der „Charta der Vereinten Nationen“ drückten sie ihren „Glauben an die Grundrechte des Menschen, an Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit, an die Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie von allen Nationen, ob groß oderklein“ aus, und sie vereinbarten , „Bedingungen zu schaffen, unter denen Gleichberechtigung und die Achtung vor den Verpflichtungen aus Verträgen und anderen Quellen des Völkerrechts gewahrt werden können“. Am 10. Dezember 1948 proklamierten die Vereinten Nationen die „globale Ethik“, indem sie die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ beschlossen, und mit der Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte, die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt festlegten. Gäbe es diese Vereinbarung nicht, und gäbe es die UNO nicht, müsste man sie dringend Hier und Heute, in den Zeiten des Unfriedens, von Krieg und Diktatur, gründeni.
Die UNESCO, die Bildungs-, Kultur- und Wissenschaftsorganisation der Vereinten Nationen, hat in ihre Verfassung vom 16. 11. 1945 geschrieben: „Da Kriege im Geist der Menschen entstehen, muss auch der Friede im Geist der Menschen verankert werden“. Gewaltsame, kriegerische Auseinandersetzungen zwischen Völkern und Volksgemeinschaften und Menschenrechtsverletzungen gibt es bis heute; Bemühungen und Anstrengungen zur globalen Friedensfindung auchii. Es ist das Bewusstsein, „dass das In-der-Welt-Sein des Menschen durch eine Verbindung von Individualität und Sozialität geprägt ist“ und auf den Grundlagen des Rechts beruhtiii. Es sind Visionen und Utopien, die durch die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel zustande kommen und verwirklicht werden können. Es sind die Kompetenzen zum kritischen Denken, die Widersprüche erkennbar machen, verborgene oder manipulierte „Wahrheiten“ sichtbar werden lassen - und zum eigenen Denken anregen. Die anthropologische, humane Grundannahme, dass der anthrôpos danach strebt, als Individuum und als Menschheit, ein gutes, gelingendes Leben zu führen, liegt nicht automatisch in den Genen, und soll auch nicht von außen vermittelt werden; vielmehr kommt es darauf an, es in intellektuellen Bildungs- und Aufklärungsprozessen zu erwerben und wirksam werden zu lassen. Dazu ist der Blick über den eigenen Gartenzaun, mit den Fragen „Wer bin ich?“ und „Wie sind wir geworden, was wir sind?“, gefordert, und Selbst- und Weltvergewisserung gefragtiv. Das in Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ausgewiesene Recht – „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren“ –bleibt Utopie, solange das politische, demokratische Recht nicht verwirklicht wird, solange kapitalistische, ökonomische Strukturen die einen reicher und die anderen ärmer machenv. Die Auseinandersetzungen um die universelle Geltung oder der Berücksichtigung von Besonderheiten der Menschenrechte bestimmen bis heute den Diskurs. Zahlreiche Menschenrechtsverletzungen werden tagtäglich und in vielen Ländern und Gesellschaften der Erde registriert; immerhin wenigstens „registriert“, werden die einen sagen, „mehr nicht?“ werden die anderen fragen. Das Dilemma ist deutlich! In der Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte heißt es, zur Begründung der Proklamation der Menschenrechtsdeklaration u.a., „da Verkennung und Missachtung der Menschenrechte zu Akten der Barbarei führten, die das Gewissen der Menschen tief verletzt haben, und da die Schaffung einer Welt, in der den Menschen, frei von Furcht und Not, Rede- und Glaubensfreiheit zuteil wird, als das höchste Bestreben der Menschheit verkündet worden ist…, proklamiert die Generalversammlung diese Allgemeine Erklärung der Menschenrechte als das von allen Völkern und Nationen zu erreichende gemeinsame Ideal…“. Der Menschenrechtsaktivist und –anwalt Wolfgang Kaleck schildert in einer kritischen Analyse eigene Erfahrungen und Aktivitäten zur „konkreten Utopie“ der Menschenrechte. Er bietet Einblicke hinter die offiziellen und offiziösen Politiken. Er reißt damit nicht Kulissen ein, auch nicht Vorhänge herunter, sondern lüftet spaltweise und manchmal auch radikal die ideologischen Verschläge und Zäune. Die Versuche gestalten sic beinahe als „positive Subversion“, mit der der Schweizer Umwelt- und Menschenrechtsaktivist Hans A. Pestalozzi (1929 – 2004) Mut machte zum positiven, aktiven Denken und Tun: „Wo kämen wir hin / wenn alle sagten / wo kämen wir hin / und niemand ginge / um einmal zu schauen / wohin man käme / wenn man ginge“(1979). Beim Spagat zwischen Erfahrung und Expertise bleibt zum einen die historische und momentane Reflexion über den Menschenrechtsdiskurs, zum anderen der Appell, dass Menschenrechts- und ethisches Bewusstsein nicht entsteht ohne das individuelle und kollektive, aktive humane Denken und Tunvi
Die Ambivalenz des Guten
„Im Namen des Völkerrechts“ wird international Recht gesprochen. Das Völkerrecht soll vom, von den Vereinten Nationen eingerichteten Internationalen Strafgerichtshof (ICC) beachtet und besorgt werden. Mit der wichtigen, jedoch bisher in der juristischen und ethischen Praxis unvollständigen Einrichtung - von den 193 Mitgliedsstaaten der UNO haben aktuell erst 124 das Abkommen ratifiziert, u. a. nicht Israel, Russland und die USAvii - kommt der Menschheit eine stetige, verantwortungsvolle und wahrhaftige Aufgabe zu, das Gute, Humane und Menschenwürdige zu verwirklichen. Der Wille und die Hoffnung auf Verwirklichung eines guten, gelingenden Lebens für jeden Menschen auf der Erde, diese anthropologische Vision ist Grundlage der Menschenrechtserklärung und damit das Faktum für eine globale Ethik. Menschenrechte lassen sich nur im Rahmen eines freiheitlichen und demokratischen Rechtsanspruchs auf der Basis von individuellen und kollektiven Rechten und Pflichten verwirklichen. Menschenrechte sind genetisch verfügbare, ontologisch vorhandene und zivilisatorisch und kulturell menschengemachte Werteviii, Der Historiker von der Universität Freiburg, Jan Eckel, unternimmt eine zeitgeschichtliche Betrachtung der internationalen Menschenrechtspolitik seit den 1940er Jahren. Mit dem Titel „Die Ambivalenz des Guten“ wird zum Ausdruck gebracht, dass die als „globale Ethik“ bezeichnete Allgemeine Erklärung der Menschenrechte als zeitbezogene, geschichtlich gewordene und von Menschen gemachte Suche nach einem guten, gelingenden Leben gelingen und scheitern kann. Dies zu analysieren und zu erkennen, erfordert eine Auseinandersetzung mit der Geschichte und damit, wie wir geworden sind, wie wir sind, eingebunden in gesellschaftliche und politische Bedingtheiten und Veränderungsprozesse. Jan Eckel versucht dies damit, „die großen, grundlegenden Entwicklungslinien nachzuzeichnen und das Geschehen zu periodisieren“. Mit der breiten, umfassenden Ausdifferenzierung der historischen Prozesse zum internationalen Menschenrechtsdiskurs stellt er Zusammenhänge her und öffnet den Blick für lokale und globale Entwicklungen, die sich insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg im Rahmen eines internationalen, menschenrechtlichen Politikfeldes herausbilden. Es sind auch Einblicke und Handhabungen, wie Hier und Heute mit Menschenrechtsverletzungen umgegangen werden sollte, wie die „Zeitenwende“ zivilisatorisch und pazifistisch, human bewältigt werden kannix.
Menschenrechtsbewusstsein = Lebensbewusstsein
Die Menschenrechte sind ein Ereignis, „das vergisst sich nicht mehr“ - die von Immanuel Kant entliehene Aussage klingt wie eine Fanfare und ein Fanal. Die Frage nach den Menschenrechten ist ein Ergebnis des philosophischen (westlichen) Nachdenkens und der Erkenntnis, dass jeder Mensch von Natur aus Rechte habe, was sich, spätestens in der amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung und in der Französischen Revolution, in den Forderungen nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit ausdrückte und zu politischen Auffassungen als "Bürgerrechte" entwickelte. Menschenrechte sind für alle Menschen gültig, und die in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte festgelegten Werte und Normen sind allgemeinverbindlich, also nicht interpretier- und relativierbar. Jeder Mensch auf der Erde, ob jung oder alt, arm oder reich, mächtig oder ohnmächtig, religiös oder atheistisch, soll die in der Menschenrechtserklärung gesetzten Rechte in Anspruch nehmen können. Das Problem ist freilich, wie dieses Recht verwirklicht werden kann, überall auf der Welt. Deshalb sind seit langem Wissenschaftler, Politiker und Menschenrechtsvertreter damit beschäftigt, die individuelle und kollektive Bedeutung der Menschenrechtserklärung in die Köpfe und das Machtstreben der Menschen zu bringen. Der an der Goethe-Universität in Frankfurt/M. lehrende Philosoph Christoph Menke, und der Ethiker von der Berliner Alice Salomon Hochschule, Arnd Pollmann, haben 2007 eine Einführung in die Philosophie der Menschenrechte vorgelegt. Sie setzen sich insbesondere mit Fragen nach Wirklichkeiten und Verbindlichkeiten auseinander, wie sie bereits die Philosophin Hannah Arendt 1949 in ihrem Essay „The Right of Man“ mit „What are They“, und vor allem danach, wie die Erkenntnis im Denken und Handeln der Menschen Fuß fassen könne, dass jedes Individuum uneingeschränkt ein "Recht auf Rechte" habe. Es sind also die grundlegenden Auffassungen vom Menschsein, die in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte mit den Begriffen Recht – Moral – Politik zum Ausdruck kommen und sich begründen mit den Instrumenten Vertrag – Vernunft – Anerkennung. Die schwierigste Frage, die im internationalen Diskurs sich zu beinahe unvereinbaren Positionen ausgewachsen hat, ist die nach der politischen Bedeutung der Menschenrechte. Es geht um den Zusammenhang von Demokratie und Menschenrechten, und zwar nicht einer spezifischen Demokratie-Auffassung, sondern um die grundsätzliche Entscheidung, dass "Menschenrechte der demokratischen Selbstregierung als moralische Prinzipien ‚vorgegeben‘ sein müssen". Eine "Politik des Weltbürgerrechts", so utopisch dies auch in der momentanen Situation der Hegemonien und Machtkonstellationen in der Welt auch klingen mag, ist wohl tatsächlich die alleinige Möglichkeit, die Menschheit humaner, gerechter und freier zu entwickeln, als sich dies derzeit darstellt.Wie aber kann das gelingen? Nicht hegemonial und ideologisch, sondern demokratisch und dialogisch. Das bedeutet dann auch, demokratisches Leben, wie wir es in den westlichen Demokratien verstehen, nicht besserwisserisch auf die Fahnen zu schreiben und mit dem Zeigefinger und den mächtigen Mitteln unserer Wohlhabenheit durchzusetzen, sondern empathisch vorzuleben. Eine "Philosophie der Menschenrechte" muss basieren auf einem Gedankengerüst für humanes, ethisches Denken und Handeln der Menschen und auf einem Handlungsrahmen zur Verwirklichung der allgemeingültigen und unteilbaren Menschenrechte für alle Menschen überall in der Welt. Weil Menschen Rechte innewohnen, muss auch das Recht ihrer Verwirklichung in die Köpfe der Menschen gepflanzt werden!x
Konflikte
Dort, wo Menschenrechte missachtet und verletzt werden, ist eine Kultur des Friedens und der Gerechtigkeit gefordert. Da ist die (zunehmende) ego- und ethnozentrierte, nationale und internationale Politik, da sind die rassistischen, menschenfeindlichen Bewegungen und die populistischen, auf Fake News gründenden Einflussnahmen und Konflikte, die die Menschenrechte in Frage stellen. Weil bei nationalen, regionalen und internationalen politischen Konflikten Interventionen zur Durchsetzung von Menschenrechten und gegen Menschenrechtsverletzungen eingesetzt werden, ergeben sich nicht nur Befriedungen, sondern auch (Interessens-)Konflikte, die nicht selten die Verteidigung und Durchsetzung der Menschenrechte be- oder sogar verhindern. Dabei drängen sich Fragen und Infragestellungen auf, ob in den jeweiligen humanitären und politischen Konfliktfällen, in denen offiziell gegen Menschenrechtsverletzungen vorgegangen wird, gerechtfertigt sind und die Souveränität eines Staates in Frage stellen. Es sind Fragen wie: „Warum bedingen Menschenrechte Kulturkämpfe und wie können jene mithilfe der Menschenrechte beendet werden?“ - „Gibt es angesichts von systematischen und massiven Menschenrechtsverletzungen eine Pflicht zur humanen Intervention?“ - „Wie weit reicht das Menschenrecht auf Meinungsfreiheit und unter welchen Bedingungen ist deren Einschränkung noch menschenrechtskonform?“ - „In welchem Verhältnis stehen Menschenrechte und Gerechtigkeit?“ - „Welche Prinzipien sind als normative Grundlagen des internationalen Menschenrechtsregimes anzusehen und inwiefern werden sie von dessen Vertreterinnen und Vertretern … selbst unterminiert?“xi.
Fazit
Globale Ethik ist gefordert. Sie wächst nicht auf Bäumen, und sie ist auch nicht als kosmische Strahlung oder ontologischer Bestand verfügbar; vielmehr kommt es darauf an, Menschenrechtsbewusstsein lernend, aufgeklärt und anthropologisch zu erwerben. Dabei ist es wichtig zu erkennen, dass der Mensch in seiner Existenz und seiner Conditio Humana ein unvollständiges, verletzliches Lebewesen istxii, und dass anthropologisches Bewusstsein und Existieren intellektuell erworben werden mussxiii.
i Marc Engelhardt, Weltgemeinschaft am Abgrund. Warum wir eine starke UNO brauchen, 2018, www.socialnet.de/rezensionen/24143.php
ii Klaus Hüfner, u.a., Menschenrechtsverletzungen. Was kann ich dagegen tun?, 2004, www.socialnet.de/rezensionen/1792.php
iii Christof Peter, Existenz und Recht. Perspektiven existenzorientierten Rechtsdenkens, 2019, www.socialnet.de/rezensionen/26532.php
iv Joachim Bauer, Wie wir werden, wer wir sind. Die Entstehung des menschlichen Selbst durch Resonanz, 2022, www.socialnet.de/rezensionen/29229.php
v Thomas Piketty, Kapital und Ideologie, 2020, www.socialnet.de/rezensionen/26783.php
vi Wolfgang Kalek, Die konkrete Utopie der Menschenrechte. Ein Blick zurück in die Zukunft, 2021, www.socialnet.de/rezensionen/…php
vii Benjamin Dürr, Im Namen der Völker. Der lange Kampf des Internationalen Strafgerichtshofs, 2016, www.socialnet.de/rezensionen/21079.php
viiiHans Joas, Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12425.php
ix Jan Eckel, Die Ambivalenz des Guten. Menschenrechte in der internationalen Politik seit den 1940ern, 2014, www.socialnet.de/rezensionen/17721.php
x Christoph Menke / Arnd Pollmann, Philosophie der Menschenrechte zur Einführung, 2007, www.socialnet.de/rezensionen/7118.php
xi Daniela Ringkamp / Christoph Sebasian Widdau, Hrsg., Menschenrechte im Konflikt. Kulturkampf, Meinungsfreiheit, Terrorismus, 2018, www.socialnet.de/rezensionen/25490.php
xii Angela Janssen, Verletzbare Subjekte. Grundlagentheoretische Überlegungen zur Conditio Humana, 2019, www.socialnet.de/rezensionen/25043.php
xiii Tim Ingold, Anthropologie. Was sie bedeutet und warum sie wichtig ist, 2019, www.socialnet.de/rezensionen/25830.php; Ursula Reitemeyer, Praktische Anthropologie – oder die Wissenschaft vom Menschen zwischen Methaphysik, Ethik und Pädagogik, 2019, www.socialnet.de/rezensionen/25256.php