SOS - Sieht die Inobhutnahme noch Land? Krisenintervention und Inobhutnahme in der Kinder- und Jugendhilfe

von Kerstin Landua
11.01.2016 | Kinder-/Jugendhilfe | Veranstaltungsberichte

Ein Tagungsbericht

Steigende Fallzahlen oder Stabilisierung auf hohem Niveaus und kein Ende in Sicht?
Eine Dynamik, die das Feld überrollt, aber keine wirklich neuen Handlungskonzepte?
Eine Fachpraxis, die (teilweise) überfordert ist und (weiter) nach Antworten sucht?

Zu diesen Fragen fand am 05./06. November 2015 die Fachtagung „SOS - Sieht die Inobhutnahme noch Land? Krisenintervention und Inobhutnahme in der Kinder- und Jugendhilfe in Berlin statt, veranstaltet von der Arbeitsgruppe Fachtagungen Jugendhilfe im Deutschen Institut für Urbanistik, Berlin. Auf dieser Veranstaltung konnten wir 160 sozialpädagogische Fachkräfte aus der öffentlichen und freien Kinder- und Jugendhilfe begrüßen.

Gefühlte Realität oder empirisch belegt?

Nach der Eröffnung der Tagung hielt Dr. Jens Pothmann, Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik vom Forschungsverbund DJI, einen einführenden Vortrag zum Thema: „Entwicklung der Fallzahlen der Inobhutnahmen in der Kinder- und Jugendhilfe und Maßnahmen der Familiengerichte bei Gefährdungen des Kindeswohls“. Er stellte fest, dass im Verhältnis zur Zahl der jungen Menschen in Deutschland zuletzt in den 1970er-Jahren so viele Kinder in Pflegefamilien oder Heimen untergebracht und betreut wurden wie derzeit. Dies sei Anfang der 90er-Jahre mit Inkrafttreten des Kinder- und Jugendhilfegesetzes und seinen Zielsetzungen kein sehr wahrscheinliches Szenario gewesen. Seit 2005 ist ein erheblicher Anstieg der Inobhutnahme von 26.000 Kindern und Jugendlichen auf 48.000 im Jahr 2014 zu verzeichnen, also fast eine Verdopplung der Fallzahlen. Die Inobhutnahmen erfolgten dabei in größerem Umfang wegen festgestellter Gefährdungslagen von Kindern und weniger auf deren eigenen Wunsch. Eine Ausweitung der Inobhutnahme gab es darüber hinaus auch im Kontext von Kinderschutz und Flüchtlingshilfe mit Blick auf die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge. Insgesamt bedeute dies auch für die letzten Jahre eine Ausgabensteigerung um 82% für die Durchführung von Inobhutnahmen insgesamt. Die Bedeutung der Inobhutnahme wachse mit dem Alter, hier sind dann (auch ohne die UMF) eher Jugendliche im Fokus und dabei deutlich mehr Jungen. Zwischen 2005 und 2008 hat sich das quantitative Niveau der Fallzahlen bei den Inobhutnahmen bei den unter 6-Jährigen erhöht. Zu fragen sei hier, ob diese Art von „Fahrstuhleffekt“ mit auf die Etablierung der Frühen Hilfen und einer neuen „Kultur des Hinschauens“ zurückgeführt werden kann. Ebenso gab es zumindest bis 2011 einen Anstieg im Primarbereich, was unter Umständen mit dem Ausbau von Ganztagsangeboten zusammenhängen könnte. Mit Blick auf die Art der Unterbringung bei Inobhutnahme sei erkennbar, dass Jugendliche eher in stationären Einrichtungen und jüngere Kinder eher in Familiensettings betreut werden. Bei der Dauer der Inobhutnahme werde der Faktor „Vorläufigkeit“ immer länger. Nicht nur hat sich die Kategorie „2 Wochen und länger“ im Laufe der Jahre erhöht, sondern es häufen sich auch die Fälle, in denen die Inobhutnahmen auch schon einmal ein Jahr und länger andauert. Unter 12-jährige Kinder bleiben durchschnittlich 52 Tage in Obhut, 12 bis 18jährige Jugendliche durchschnittlich 23 Tage.

Zusammengefasst bedeutet dies: „Befunde der amtlichen Kinder- und Jugendhilfestatistik zeigen für die Inobhutnahmen einen zunehmenden Bedarf an diesen Maßnahmen sowie eine gestiegene Bedeutung dieser Krisenintervention, aktuell insbesondere bezogen auf unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Es werden deutlich mehr Jugendliche als Kinder in Obhut genommen – auch wenn zwischenzeitlich die Zuwächse bei den Klein- und Kleinstkindern größer als bei den älteren Kindern und Jugendlichen gewesen sind und – auch bedingt durch die „Kinderschutzdebatte“ – die Anstiege bei Jugendlichen (scheinbar) nicht zur Kenntnis genommen worden sind.

Was veranlasst Jugendämter, Kinder in Obhut zu nehmen?

Barbara Kiefl, Leiterin der Abteilung Familie und Jugend, Jugendamt Stuttgart, nahm zu dieser Frage exemplarisch aus Sicht eines Jugendamtes Stellung. Als erstes stellte Frau Kiefl fest, dass in Stuttgart die Fallzahlen der Inobhutnahmen vom eben vorgestellten Trend abweichen, sich nicht erhöhen, sondern auf einem Niveau von ca. 100 Fällen pro Jahr stabilisieren. Damit sein Stuttgart „eine Stadt gegen den Trend“. 2014 habe es insgesamt 1.209 Fälle von Kindesmisshandlungen und -vernachlässigungen bzw. Verdachtsfälle dazu gegeben. Diese Zahl bezieht aber die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge (UMF), von denen ca. 700 in Stuttgart leben, nicht mit ein. Es gibt in Stuttgart ein breit aufgestelltes Notaufnahme- bzw. Inobhutnahmesystem des städtischen Hilfeträgers, dessen Einrichtungen aber durch den großen Zuzug von UMF völlig überfüllt sind. Deshalb sei es inzwischen sehr schwierig, ein Kind aus Stuttgart dort unterzubringen. Der städtische HzE-Träger versuche jedoch mit Hochdruck, Plätze zu schaffen, so dass Anfang kommenden Jahres für die vorläufige Inobhutnahme und die Inobhutnahme von UMF eine große neue Einrichtung in Betrieb genommen werde und andere Einrichtungen wieder entlastet werden können. Momentan sei die Situation angespannt, auch mit Blick auf die beginnende Umverteilung der UMF. Für die Stuttgarter Kolleginnen und Kollegen stelle sich aber mit Blick auf die Inobhutnahme bereits länger in Stuttgart lebender Kinder und Jugendlicher weniger die Frage, was Gründe für eine Inobhutnahme sind, sondern was es für gute (präventive) Fachkonzepte gibt, damit dieser Schritt möglichst vermeidbar ist. Diese Konzepte stellte Frau Kiefl vor und nannte hier u.a. neben dem Fachkonzept der Sozialraumorientierung die intensive Elternarbeit, den Familienrat, Pflegebereitschaftsfamilien, die Kindeschutzteam in der Kinderklinik, kontinuierliche Fortbildungen (u.a. in systemischer Beratung) sowie die seit über 10 Jahren bestehenden Beratungszentren mit multidisziplinären Teams. Wichtig sei vor allem, dass die Familien den sozialpädagogischen Fachkräften vertrauen und als oberstes Prinzip das der „Verantwortungsgemeinschaft“ gelte, denn bei einer Krise hätten alle eine Krise, nicht nur die betroffene Familie und deren Kinder. Schwierig im Hinblick auf eine Perspektivklärung werde es dann, wenn die Eltern nicht mitwirken, deshalb familiengerichtliche Verfahren notwendig werden und die Kinder länger als 6 Monate in der Inobhutnahme-Situation bleiben müssen. Gerade für sehr kleine Kinder sei dies doppelt schwierig, weil dann Bindungen zu den Bezugspersonen entstehen.

In guter Obhut? Ist das so?

Einen wissenschaftlichen Blick auf die derzeitige Situation der Inobhutnahme richtete Dr. Stefan Rücker von der Forschungsgruppe Petra in Schlüchtern. Mit Bezug auf die Zahlen von Herrn Dr. Pothmann und konstatierte Herr Dr. Rücker ebenfalls, dass ein realer Anstieg an Kindeswohlgefährdungen zu verzeichnen sei (oder aber auch mehr Möglichkeiten, Kinder zu schützen), dass die mittlere Verweildauer 30 Tage und länger betrage und die kleinsten Kinder oft am längsten in der Inobhutnahme bleiben, was bindungstheoretisch sehr schwierig sei. Damit leitete er zu der Feststellung über, dass die Inobhutnahme kein Lebensort für Kinder und Jugendliche ist und präsentierte in diesem Kontext eigene, sehr interessante Forschungsergebnisse. Er befragte Kinder und Jugendliche, ob sie sich an ihre Gefühle in der Inobhutnahme-Einrichtung erinnern. Empirische Befunde zum Erleben dieser Kinder sind, dass Gefühle wie Traurigkeit, Hilflosigkeit und Angst dominieren. Gefragt nach ihren psychotraumatischen Belastungen in der Inobhutnahme haben viele heftige negative Affekte: Die Kinder fühlen sich schlecht! In jedem zweiten Fall gibt es depressiv-ängstliche Beschwerden sowie eine Prävalenz für Suizidgedanken bei ca. 50%. Aber auch Orientierungslosigkeit sei ein großer Faktor für eine traumatische Belastung. Leider gebe es kaum ein Screening oder Checklisten zur Erkennung dieser Belastungsfaktoren bei den betroffenen Kinder und Jugendlichen. Zur Frage: Was ist ein Trauma? sagte Herr Dr. Rücker, dass Traumata bei Kindern und Jugendlichen die elementaren psychischen Grundbedürfnisse von Bindung, Orientierung und Kontrolle, Selbstwerterleben erschüttern und einen zentralen Risikofaktor für die meisten Kategorien psychischer Störungen darstellen. Darüber hinaus können sich diese unbehandelt oft bis ins Erwachsenenalter und über Generationen hinweg auswirken. Insbesondere emotionaler Missbrauch und Vernachlässigung könnten sich fortsetzen. Es gebe auch hier keine Konzepte, um adäquat darauf zu reagieren und rasche Hilfe anzubieten.

Zur Frage der Beteiligung der Kinder und Jugendlichen und ihren Rückkehrwünschen gab es folgende Ergebnisse: In mehr als jedem zweiten Fall fühlen sich in Obhut genommene Kinder und Jugendliche nicht gut beteiligt. Die Hälfte der Kinder und Jugendlichen wollte im Anschluss an die Inobhutnahme nicht in die Familie zurückkehren, wurde meist jedoch gegen den Wunsch zurückgeführt, obwohl dort extreme körperliche Misshandlungen stattgefunden haben! Fazit: In guter Obhut? Ja, aber es ist noch viel zu tun!

Praxisorientierte Diskussion in Kleingruppen

Sehr gut angenommen wird auf unseren Veranstaltungen eine sich anschließende praxisorientierte Diskussion der Inhalte der Einführungsreferate in moderierten Arbeitsgruppen. Hierzu hatten wir die folgenden Leitfragen definiert, den Gruppen war es selbst überlassen, auf welche dieser Fragen hier der Fokus gelegt wurde:

  • Anstieg der Fallzahlen. Warum ist das so? Wie ist es bei uns?
  • Gründe für die Inobhutnahme?
  • Bedürfnisse der Inobhut-Genommenen?
  • Zumutbare Verweildauer der Inobhutnahme. Was ist zu lang?
  • Welche Fragen hat die kommunale Praxis (außerdem)?

Moderiert wurden diese Gruppen von Barbara Bütow, Martha-Muchow-Institut, Berlin, Miriam Pilz, Jugendamt Dresden, Gudrun Möller, Amt für Jugend und Soziales Frankfurt (Oder), Rainer Kröger, Diakonieverbund Schweicheln, Hiddenhausen, sowie Barbara Kiefl, Jugendamt Stuttgart. Diese spiegelten im Anschluss die Einschätzungen und Befunde aus der Praxis zurück ins Plenum.

Einen (sicheren) „Landeplatz“ finden.

In „meiner“ AG wurde insbesondere der Aspekt der „Verweildauer in der Inobhutnahme“ diskutiert. Hierfür wurden viele Gründe aus unterschiedlichen Regionen genannt, u.a., dass:

  • die Erstellung von Erziehungsfähigkeitsgutachten zu lange dauert (oft bis zu 3 Monate).
  • passende Folgemaßnahmen fehlen (z.B. geeignete Pflegefamilien) und es deshalb viele „Wiederkehrer“ gibt.
  • für (sehr) kleine Kinder keine Pflege- oder Erziehungsstellen zu finden sind.
  • Pflegeeltern sich oft mit den Herkunftseltern (z.B. wenn diese psychisch krank sind) überfordert fühlen.
  • Systemsprenger immer wieder in der Inobhutnahme „landen“, weil keine andere Maßnahme hilft bzw. kein anderer Träger diese Jugendlichen (mehr) aufnimmt (nicht beschulbare Kinder, Jugendliche mit Mehrfachbelastungen).
  • Jugendliche kurz vor Vollendung des 18. Lebensjahres dort bis zur Volljährigkeit verbleiben.
  • die Zuständigkeitsklärung zwischen den Jugendämtern (manchmal lange) dauert oder es Zuständigkeitswechsel in den Jugendämtern gibt.

Was wurde in den anderen AG‘s diskutiert? Zur Frage, warum die Inobhutnahmezahlen steigen, kamen folgende Erfahrungen und Interpretationen: Herausfordernde Jugendliche kommen aus einer HzE-Maßnahme in die Inobhutnahme und wieder zurück („Drehtüreffekt“ und strukturelles Problem der Jugendhilfe. Es gibt mehr Selbstmelder, z.B. bei Mädchen mit Migrationshintergrund ab 13 Jahren. Die Problemlagen in den Familien haben generell zugenommen. Und nehmen neue (unerfahrene) Mitarbeiter/innen zu schnell in Obhut? Als Gründe für Inobhutnahme von Kindern und Jugendlichen wurde mit Blick auf die Eltern „Überforderung/Gewalt/Krankheit und Klinikaufenthalt/Psychische Erkrankung/Entzug/Sucht genannt. Bei Kindern und Jugendlichen waren Gründe u.a. „Krise in stationärer Einrichtung/ gescheiterte Rückführung aus (Dauer-)Pflegefamilie zu den Herkunftseltern/ Inobhutnahme als Chance für Jugendliche in Krisen als Ablösungsprozess von der Herkunftsfamilie. Wichtige Bedürfnisse Inobhutgenommener: Wird die Perspektive der Kinder und Jugendlichen tatsächlich geklärt? Ist bei Kleinkindern eine stationäre Unterbringung mit Schichtdienst der Betreuer/innen bedürfnisgerecht? Können Geschwisterkinder zusammenbleiben?

„Da müssen wir was anders machen, das geht nicht anders.“ Dieser Satz einer Teilnehmerin kann als erstes Fazit stehen. Konkret genannt wurde u.a., attraktivere Anreize für Pflegefamilien schaffen, sich konkreter damit auseinanderzusetzen, was die jeweils angemessene Verweildauer für unterschiedliche Altersgruppen ist und wann Elternarbeit beginnen sollte (gleich zu Beginn der Inobhutnahme trotz Mitarbeitermangel?). Und mit am wichtigsten: Kinder dürfen nicht orientierungslos gelassen werden.

Vorläufige Inobhutnahme unbegleiteter Minderjähriger: Erfahrungsbericht aus München

Über den „§ 42a SGB VIII - Vorläufige Inobhutnahme von ausländischen Kindern und Jugendlichen nach Einreise - Was sieht der Gesetzgeber vor, wie geht die Praxis (bisher) damit um?“ referierten gemeinsam Caroline Rapp, Sozialreferat, Unbegleitete Minderjährige, und Dr. Jürgen Wurst, Wirtschaftliche Jugendhilfe, Jugendamt der Landeshauptstadt München. Sie berichteten auf der Tagung über ihre weitreichenden Erfahrungen mit der Inobhutnahme, Altersfestsetzung und dem Clearingverfahren der unbegleiteten Minderjährigen. Insbesondere für Jugendämter, die gerade erst dabei sind, Strukturen aufzubauen, war dieser Vortrag eine wertvolle Hilfe. Im Plenum war beiden Referent/innen gegenüber große Wertschätzung spürbar, dass diese zusätzlich zu ihrer bereits länger andauernden hohen Arbeitsbelastung auf der Tagung diesen Erfahrungstransfer leisteten.

Frau Rapp berichtete u.a., dass 90 Prozent der unbegleiteten Minderjährigen, die in sehr großer Zahl in München ankommen, 14- bis 17-jährige Jungen sind, von denen der größte Teil aus Somalia, Eritrea, Afghanistan und Syrien kommt. In München wurde im Vorgriff auf den § 42a SGB VIII und in Anbetracht der aktuellen Situation in Rosenheim und Passau bereits im Juli 2015 begonnen, die Kinder und Jugendlichen bayernweit umzuverteilen. Die meisten dieser Jugendlichen sind „Selbstmelder“ und kommen alleine in dem Ankommenszentrum für unbegleitete Minderjährige an. Die Zahl der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge in der Fallzuständigkeit des Jugendamtes München ist in den letzten zwei Jahren rasant gestiegen. Es wird davon ausgegangen, dass sich dieser Trend auch im Jahr 2016 fortsetzt. Dr. Jürgen Wurst gab anschließend einen Überblick darüber, was der Gesetzgeber mit dem neuen Verfahren nach §§ 42a ff. SGB VIII beabsichtigt und wie München dies praktiziert.

Das Stadtjugendamt München hat sich nun organisatorisch mit unterschiedlichen Maßnahmen auf die Betreuung von unbegleiteten Minderjährigen vorbereitet. Gemeinsam mit freien Trägern wurden 2014 innerhalb kurzer Zeit in einem Trägerverbund sogenannte „Dependancen“ der Jugendhilfe für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge eingerichtet. Seit dem 1. April 2015 gibt es ein Sozialpädagogisches Ankommenszentrum speziell für unbegleitete Minderjährige (medizinisches Screening, Erstversorgung, Alterseinschätzung im Tandem, Inobhutnahme) mit freien Trägern. Etabliert wurde eine Fachabteilung nur für den Bereich unbegleitete Minderjährige mit den entsprechenden Aufgaben (Alterseinschätzung, Vermittlung an andere bayrische Jugendämter/Anschlusshilfen, Bestellung des Vormundes, Kostenerstattung, Hilfeplangespräche etc.). Ebenso soll dort eine Weiterentwicklung von Standards der Betreuung und Versorgung der unbegleiteten Minderjährigen in enger Abstimmung mit der Heimaufsicht erfolgen. Geplant ist ab 01.11.2015 eine eigene Organisationseinheit für die Umsetzung des Verfahrens nach § 42a SGB VIII, bestehend aus Verwaltungsfachkräften, Pädagog/innen, psychologischem Dienst, Mediziner/innen und Mitarbeiter/innen der Kreisverwaltungsbehörde.

Erste Erfahrungswerte sind laut Dr. Jürgen Wurst die schnelle Weitervermittlung aus den Ankommenszentren München, da diese eine kurze Verweildauer und Vermeidung von Rückkehren bewirkt und dass insgesamt ein Bewusstsein für diese bundesweite Aufgabe geschaffen wurde. „Am Anfang sprachen die anderen Jugendämter stets von ‚euren‘ Jugendlichen. Darüber gab es manche Reibereien und Streitigkeiten mit den Landratsämtern. Relativ schnell hat sich das Bewusstsein durchgesetzt, dass es sich nicht um die Jugendlichen der Stadt München handelt, sondern es sind die Jugendlichen, die nach Deutschland kommen und für die alle gleichermaßen verantwortlich sind. Es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.“ Die Bewältigung dieser Aufgaben wäre nicht so gut gelungen, wenn es einerseits nicht diesen großen politischen Rückhalt gegeben hätte und andererseits nicht einen sehr unkomplizierten Umgang mit der Trägerlandschaft in München, aus dem ein großes solidarisches Miteinander entstanden ist.

Darüber reden wir gleich …

Der zweite Tag begann mit Kurzvorstellung der „Best-Practice-AGs“ im Plenum durch die Moderator/innen. Zur Wahl standen folgende sechs Arbeitsgruppen:

  • Task-Force „Inobhutnahme“ - Wenn am Wochenende oder nachts was passiert …
  • „Kinderkrise“ - Inobhutnahme von Kleinstkindern
  • ·„Krisenintervention“. Erkennen und Umgang mit Trauma und selbstschädigenden Verhalten von Kindern und Jugendlichen in der Inobhutnahme-Einrichtung/ Partizipation
  • Inobhutnahme von Flüchtlingskindern. Inobhutnahme, Altersfeststellung, Clearing bei UMA
  • Kultur- und religionssensibler Umgang bei Inobhutnahme. Worauf muss der Notdienst vorbereitet sein?
  • Runder Tisch „Inobhutnahme“ als offener Erfahrungsaustausch

Exemplarisch und wegen der besonderen Aktualität des Themas hier noch ein kurzes Blitzlicht auf Karlsruhe. Stephan Weismann, Gruppenleiter einer Bezirksgruppe des Sozialen Dienstes für die Inobhutnahme unbegleiteter minderjähriger Ausländer (UMA), Karlsruhe, gestaltete die Arbeitsgruppe zur „Inobhutnahme von Flüchtlingskindern“, die sich auch mit den Aspekten Altersfeststellung und Clearing auseinandersetzte. Auch im Jugendamt Karlsruhe liegen hierzu ebenfalls viele Erfahrungswerte vor. 6 Mitarbeiter/innen im Jugendamt befassen sich mit Flüchtlingskindern. Für 2015 rechnet man mit ca 1.000 Inobhutnahmen, die von Karlsruhe aus landesweit verteilt werden. Intensiv wurde in dieser Arbeitsgruppe über die Frage und das Verfahren der Altersfestsetzung der ankommenden Flüchtlinge diskutiert. In Karlsruhe geschieht diese Alterseinschätzung mit Hilfe eines Fragebogens und einer qualifizierten Inaugenscheinnahme. Hierbei wurden bisher 60% der Jugendlichen als minderjährig eingeschätzt, 40% als volljährig. Letztere werden dann an die Sozialberatung verwiesen. Einer Feststellung des Alters mit medizinischen Verfahren stehen die Karlsruher Kollegen eher kritisch gegenüber, da nachgewiesenermaßen hier eine Spanne von 1,5 Jahren auftreten kann und nicht nur das medizinische, sondern auch das soziale Alter berücksichtigt werden sollte. Es gelte das Prinzip: Im Zweifel für den Minderjährigen, da sich sonst seine Startbedingungen in Deutschland erheblich verschlechtern könnten. Weitere Fragen waren, auf welcher Grundlage eine Entscheidung für oder gegen eine Unterbringung von UMF bei Bekannten und Verwandten erfolgt, wie mit der Bestellung eines Amtsvormundes umgegangen wird und welche Kriterien der „Verteilfähigkeit“ für Jugendliche es gibt. Faktoren für eine erfolgreiche Bewältigung all dieser Aufgaben sind nach Auffassung von Herrn Weismann u.a. neben der langjährige Erfahrung im Bereich der UMA und einer pragmatischer und kreativer Vorgehensweise, die Verantwortung anzunehmen, „mit den freien Trägern und anderen Kooperationspartnern (JGH, Suchtberatungsstellen, Polizei) partnerschaftlich zusammenzuarbeiten, Inobhutnahmestellen und Wohngruppen frühzeitig und stetig auszubauen, sich fachlich auszutauschen sowie eine positive und offensive Öffentlichkeitsarbeit.“

Mit dem Blick einer Familienrichterin …

... auf die Praxis der Inobhutnahme von Kindern und Jugendlichen sprach Dr. Jessica Kriewald, Richterin am Amtsgericht Frankfurt am Main, darüber, welchen Handlungsbedarf es aus familienrichterlicher Sicht gibt. Zunächst verdeutlichte sie aber, wann das Gericht überhaupt „ins Spiel kommt“, wie der Ablauf des familiengerichtlichen Verfahrens aussieht und was der Entscheidungsmaßstab für Inobhutnahme ist, um anschließend Schlussfolgerungen für die Zusammenarbeit zu ziehen. Letztere sollen hier abschließend stichpunktartig vorgestellt werden. Als wichtigste Voraussetzung nannte Frau Dr. Kriewald die Verantwortungsgemeinschaft von Jugendamt und Gericht, die folgende Kriterien erfüllen sollte:

  • Oberstes gemeinsames Ziel ist und bleibt ein effektiver Kinderschutz
  • Eigenständige Verantwortungsbereiche von Jugendamt und Gericht unter Beachtung des gesetzlichen Richtervorbehalts; Keine „Fraternisierung“
  • Kenntnis von der Arbeits- und Denkweise der jeweils anderen Profession.

Eine Unterstützung des Gerichts bei einer möglichst schnellen Klärung der Lebensperspektive des Kindes sollte auf der Mitteilung aller für die Gefährdungseinschätzung des Jugendamts relevanten Tatsachen (d.h., konkreter Tatsachen, nicht nur eine „Zusammenfassung“ oder Wertung), der Quellen sowie der Übersendung von Hilfeplänen, Berichten der Helfer und Betreuungspersonen und Arztberichten beruhen. Denn: Das Jugendamt ist der wichtigste Tatsachenlieferant, um eine gute Entscheidung im Interesse des Kindes zu treffen.

Autorin
Kerstin Landua,
Leiterin der Arbeitsgruppe Fachtagungen Jugendhilfe im Difu
Kontakt: landua@difu.de