Öffentlichkeit als pädagogische Prämisse

von Dr. Jos Schnurer
23.03.2021

Die Maske als Mittel der Unkenntlichmachung und des Schutzes vor Zudringlichkeit?

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Nicht erst in Zeiten der Gefährdungen und Zumutungen stellt sich die Frage, wie das Individuum sich im Kollektiv darstellen soll: Kenntlich, offen, eindeutig, wahrhaftig, konkret, demokratisch und empathisch oder maskiert, verkleidet, mehrdeutig. Abstrakt. grausam und verstellt? Es sind die Tugenden, die ein harmonisches, verträgliches, humanes Zusammenleben der Menschen lokal und global ermöglichen, und es sind die Untugenden, die dies erschweren oder sogar verhindern.

In den Bildungs-, Erziehungs- und Lebensprozessen der Menschen steht deshalb an oberster Stelle die „globale Ethik“, wie sie sich in der allgemeingültigen, nicht relativierbaren Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 darstellt: „Die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte bildet die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt“[i]. In der demokratischen Gesellschaftspolitik und Philosophie wird Transparenz als Voraussetzung für ein öffentliches Bewusstsein verstanden.

In allen demokratischen Verfassungen werden deshalb die Rechte der freien Entfaltung, von Gleichberechtigung, Meinungs-, Glaubens- und Gewissensfreiheit hervorgehoben. Es sind die Werte, wie sie seit der Aufklärung[ii] zu den grundlegenden Denk- und Handlungsprämissen gehören, den kontroversen nationalen und internationalen Diskurs bestimmen[iii], und sich als „Philosophie des Gemeinsinns“ artikulieren[iv]. Es ist die Fähigkeit des Menschen zu denken, die ihm das Bewusstsein vermitteln: „Ich denke, also bin ich!“. Diese Descartes´sche Erkenntnis äußert sich in den unterschiedlichen Erscheinungsbildern und Existenzen: Laut auftretend, öffentlich und still verbergend. Der Frankfurter Philosoph Wilhelm Weischedel (1905 – 1975) hat dies in seiner „philosophischen Hintertreppe“ so ausgedrückt, dass er das Denken des französischen Philosophen René Descartes (1596 – 1650) als „Philosophie hinter der Maske“ bezeichnete [v].

Damit wären wir bei unserem Thema: Im pädagogischen Diskurs wird der Begriff „Öffentlichkeit“ in vielfacher Weise thematisiert. Es sind Anforderungen, wie sie sich in den Sozialisationsprozessen darstellen. Es geht um Fragen nach Gleichheit, Gerechtigkeit, Privatheit. Und nicht zuletzt stehen im Vordergrund die gesellschaftlichen Anforderungen, die Bildung und Erziehung zu leisten haben[vi]. Grundlegende Aspekte wurden beispielhaft von der Bildungskommission des Deutschen Bildungsrates in den 1960er / 1970er Jahren  diskutiert[vii]. Hier soll es um die Fragen gehen, wie sich Öffentlichkeitsbewusstsein und Publicity in den Zeiten von Shutdown und Lockdown in den schulischen Kommunikations- und Praxisprozessen zeigen und verändern.    

Individualität und Kollektivität

 „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“, diese Enttarnung wird immer wieder herangezogen, wenn es um Fragen geht, wie der Mensch sein Leben gestaltet, wie er den individuellen Anspruch und die kollektive Wirklichkeit zusammenbringt. Der Anspruch Selbst zu sein spiegelt sich in der Anforderung der kollektiven Gemeinschaft als Menschheit: „Lass mich Ich sein, damit du Du sein kannst!“.

Es geht um die Erfahrung, dass eine bewusste, achtsame, selbstfürsorgliche und empathische Haltung Lebenskraft schafft[viii]. „Es geht um die Identität der Menschen, um ihre Individualität und ihre vielfachen, miteinander verwobenen Selbste“.  Der Soziologe Manfred Prisching verweist darauf, dass die  „Denk- und Handlungssysteme, von denen alle Beteiligten wissen, dass es sich um luftige Gebilde handelt, um prekäre Konfigurationen, die man nicht ganz ernst nehmen kann (oder muss), die aber dennoch Rahmen und Vorgaben für das Handeln darstellen, an die man sich halten kann (oder muss)“, leicht zu durschauen sind, jedoch immer wieder benutzt werden, um andere Menschen zu bluffen und zu manipulieren. Es sind Maskierungen, mit denen getäuscht wird.

„Die Spätmoderne ist keine Gesellschaft der Individuen, sondern eine der individualistischen Masken und der allgegenwärtigen Bluffs“. Es ist die Selbststilisierung, und es ist das Auffälligsein, die Bluffs wirksam machen lassen und konsumistische Identitäten hervorbringen: „Ich will alles, sofort und umsonst!“. Es ist die „zweidimensionale Gesellschaft“, die auf den Prinzipen „Geld und Spaß“ gebaut ist und den „Influencer“ als Bluffer herausstellt[ix]. Jeder Mensch verfügt über eine eigene, unverwechselbare und zu schützende Persönlichkeit. Es sind die Haben- und Seinsmodi (Erich Fromm), die Lebensziele, Wünsche und Hoffnungen steuern. Und es sind die Einsichten, dass es zwischen dem fundamentalen menschlichen Beziehungsbegehren und dem Objektbegehren einen Unterschied gibt: Eine komplett verfügbar gemachte Welt wäre nicht nur reizlos, sie wäre auch resonanzlos[x] .Es sind die Singularitäten, die Aussicht auf eine humane Menschheits- und Weltentwicklung signalisieren[xi] .

Individualität und Solidarität

„Ich habe das Gefühl, dass wir angesichts der mit physischen Gegenständen vollgestopften Welt nicht recht wissen, wie wir von materiellen Objekten und Maschinen guten Gebrauch machen können“. Diese Einschätzung nimmt der US-amerikanische Soziologe und Kulturphilosoph Richard Sennet vor. Er setzt sich auseinander mit individuellen alltäglichen und kollektiven gesellschaftlichen Fragen auseinander und zeigt auf, dass rationale und empathische Kooperationen das beste Mittel gegen Egoismen und Egozentrismen sind. Er verweist auf Rituale und Normen, die egoistische Verhaltensweisen überwinden. Sie müssen wiederholbar sein und damit gewissermaßen zur Gewohnheit bei bestimmten Situationen werden; sie müssen sich zu Symbolen entwickeln, die vom Gegenüber erkannt und anerkannt werden; und sie müssen schließlich zur Dramaturgie werden, was bedeutet, dass der dramatische Ausdruck und die Ausübung eines Rituals ernst- und glaubhaft wird.

Es ist das „unkooperative Ich“, das das Individuum zum Egoisten werden lässt.  „Kooperation ist Austausch, von dem alle Beteiligten profitieren“[xii]. Dort wo Phantasielosigkeit zu Pessimismus und Fatalismus wird, wo Menschen in dem Wahn leben, dass früher alles besser war, dass Egoismus besser als Altruismus ist, dass denen zu misstrauen ist, die optimistisch leben – herrscht Trostlosigkeit! Wer sich einschließt, und die Gesellschaft, die sich eingrenzt und einmauert, wird blind für die Welt! Verstand, Emotion und Augen öffnen gelingt nur, wenn Hoffnung und Wille sind, menschenwürdig zu denken und zu handeln. Humanität bildet sich im Dreiklang von Vergangenheitsbewusstsein, lebensweltlicher Kompetenz und Zukunftserwartung.

Fragen, wie es gelingen kann, allen Menschen ein gutes, gelingendes, menschenwürdiges Leben zu ermöglichen, werden gestellt, seit Menschen denken können. Gegenwarts- und Zukunftssituationen werden in vielfältiger Weise gedacht, entworfen, gehofft oder befürchtet. Wenn es nicht Menetekel und utopische Fantasien bleiben, sondern Wirklichkeiten werden sollen, braucht es geistige Stabilität und humane Erwartung. Der Soziologe und Gesellschaftsdenker Harald Welzer plädiert für eine „Realisierung des Utopischen“, für eine Denke des scheinbar Undenkbaren, für einen Einspruch beim Widersprüchlichen, für eine Heterotopie des Utopischen. Wie machen? Menschen- und weltfreundlich! Sich eine Gesellschaft vorstellen, in der es keinen Hass, keinen Rassismus und Egoismus gibt. und zivilisatorische Entwicklung in der Welt nehmen. Sie zu kennen, zu verstehen, zu fördern und mitzumachen, das könnte das neue Motto für eine Neue Welt werden. „Was freie Menschen brauchen, ist schon da“, so verdeutlicht er den Perspektivenwechsel[xiii].

Individualität und Kommunikation

In der digitalisierten „offenen“ Welt werden Eindrücke und Einstellungen laut, die das Denken und Tun, das Sollen und Wollen „unbegrenzt“ erscheinen lassen[xiv]. Es sind nicht nur die Skeptiker, die bei der Suche nach der Wahrheit weder auf der einen Seite in Euphorie und Positivismus verfallen, aber andererseits auch den Momentanismusa als fatale Einstellung betrachten[xv], sondern auch die Analytiker, die beim Informations- und Kommunikationsprozess der Menschen kritisch und warnend auf die digitale Entwicklung schauen[xvi]. In den Zeiten von Unsicherheiten, Kakofonien und Werteverfall ist guter Rat gefragt. Und es ist notwendig, sich der Gewissheiten zu versichern, die in einer humanen Ethik grundlegend für Menschenwürde und -achtung sind. Mit Rezeptologie und Ideologie freilich ist das nicht zu machen.

Es sind die psychologischen und neurowissenschaftlichen Erkenntnisse, die ein Gebirge von Möglichkeiten und Stoppschildern aufbauen, wie auch Wegweiser bereithalten. Gefragt ist die Kraft der Hoffnung (Heribert Prantl), die für alle Menschen auf der Erde ein gutes, gelingendes Leben ermöglicht. In der Schale der schmackhaften, reifen Früchte den faulen Apfel herauszuklauben – das wäre eine Methode, um das Schlechte los zu werden und das Gute zu erhalten. Bernard Pörksen von der Universität Tübingen und der Psychologe Friedemann Schulz von Thun von der Universität Hamburg gehören zu den Menschen, die auf dieser Hoffnung aufbauen, individuell, lokal und global.

Es ist das digitale Netz, das Freiheit und Gefängnis sein kann, je nach dem Aufklärungs- und Verantwortungsbewusstsein der An- und Eingeschlossenen. Es sind die Umgangsformen und Tugenden, die entweder als Wertschätzung und Respekt, oder als Kommunikationsverweigerung und Aufklärungsunwilligkeit wirken. Die beiden Autoren verstehen ihr Essay als „Wechselspiel aus Zuwendung und Selbstbehauptung, aus empathischem Verständnis und klärender Konfrontation…, die das Miteinander-Reden in eine Schule der Demokratie und des Miteinander-Lebens verwandelt“[xvii].

Individualität und Verhalten

Die aristotelisch-anthropologische, moralphilosophische Charakterisierung einer humanen ethischen Haltung des anthrôpos wird bestimmt von der  Zuordnung zu seinem vernunftbestimmten Denken und Handeln. Der Mensch ist fähig zur Bildung von Allgemeinurteilen und zur Unterscheidung von Gut und Böse. Als Individuum ist er darauf angewiesen, friedlich, gerecht und menschenwürdig in Gemeinschaft mit den Mitmenschen und der Umwelt zu leben. Aristoteles differenziert zwischen „ethos“ (ἔθος), Gewohnheit, und „ethos“ (ἦθος), Charakter und Sitte[xviii]. Im Forschungs- und Praxisgebiet der experimentellen Psychologie hat sich eine Denk- und Handlungsrichtung entwickelt, die als „Verhaltens-Kybernetik“ bezeichnet wird und die „Pragmatische Ethik“ (wieder-)entdeckt als „menschgemäßer eigener Steuerungsmechanismus des Verhaltens“.

Es sind pragmatische Zugänge zu einem offenen, veränderungsbereiten Verhalten und zu einer „ethischen Tüchtigkeit“, die nach Werten und Kompetenzen Ausschau hält, um gesittet zu leben. Der Produkt-Designer, Marketing-Experte, Coach, Kommunikations- und Innovationstrainer Winfried U. Radel unternimmt mit der Studie „Verhaltens-Kybernetik, das ist Ethik“ die theoriebasierte und praxisorientierte Suche danach, wie eine humane Gegenwarts- und Zukunftsethik gestaltet werden kann. Es sind die Denk- und Verhaltensprozesse, die im individuellen und lokal- und globalgesellschaftlichen Leben der Menschen wirksam werden.

Und es sind die intellektuellen Herausforderungen, eine Balance zwischen Anpassung und Widerstand, Utopie und Vision, dem Selbstdenken und Denken lassen zu finden: „Nur die engagierte Bereitschaft zum Verhandeln bedingt, dass Abstand von aggressiven Vorgehensweisen genommen wird, dass miteinander auf Augenhöhe gesprochen wird, um gemeinsam friedensstiftende Ziele zu formulieren“.  Es sind die „10 Ethischen Gebote“, die dies zustande bringen sollen: Achte alles wie Dich Selbst! - Zeige immer Dein Engagement! - Gehorche Deiner Verantwortung! - Prüfe Deine Einstellung, die Du besitzt oder entwickeln musst! - Bilde immer Vertrauen! - Suche Deine Identifikation mit dem Gemeinwohl! - Entwickle immer Konzepte gemeinwohlorientiert! - Gehorche Deiner Gesinnung und bewahre die Normen! - Bewahre Deine gerechte Gesinnung! - Sei immer bereit zu Korrekturen Deines Verhaltens![xix]

Fazit

Öffentlichkeit ist Bedingung und hat existentielle Bedeutung im individuellen und kollektiven Leben der Menschen. Öffentliche Wahrnehmung und Präsenz sind demokratische, freiheitliche Werte, die es zu entwickeln, zu pflegen und zu verteidigen gilt. Coram publico und Public Relations sind Verhaltensweisen, die – in richtigem, moralischem und ethischem Maße gehandhabt – die Identität eines Menschen bestimmen. Dort, wo sie ego-, ethnozentrisch, rassistisch und populistisch ausgeübt werden, verstoßen sie gegen die Menschenwürde und die Menschenrechte.



[i] Deutsche UNESCO-Kommission, Menschenrechte, Bonn 1981, S. 48

[ii] Manfred Geier, Aufklärung. Das europäische Projekt, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/13289.php

[iii] Steffen Martus, Aufklärung. Das deutsche 18. Jahrhundert – ein Epochenbild, 2015, www.socialnet.de/rezensionen/20253.php

[iv] Oskar Negt, Politische Philosophie des Gemeinsinns, Bd. 1: Ursprünge europäischen Denkens. Die griechische Antike, 2019, www.socialnet.de/rezensionen/26023.php; ders., Bd. 2: Moral und Gesellschaft. Immanuel Kant, 2020, www.socialnet.de/rezensionen/27114.php 

[v] Wilhelm Weischedel, Die philosophische Hintertreppe. 34 große Philosophen in Alltag und Denken, dtv 30020, München 1966/1995, S. 114ff

[vi] Jos Schnurer, Echo. Die Reziprozität menschlicher Beziehungen, in: Pädagogische Rundschau, 3/2019, S. 281ff; ders., Theorie und Praxis in der Pädagogik Hier und Heute, a.a.o., 5/2020, S. 481ff 

[vii] Heinrich Roth, Hrsg., Begabung und Lernen,  4. Aufl. 1969, 594 S.

[viii] Joachim Bauer, Selbststeuerung. Die Wiederentdeckung des freien Willens, 2015, www.socialnet.de/rezensionen/18891.php

[ix] Manfred Prisching, Bluff-Menschen. Selbstinszenierungen in der Spätmoderne, 2019, www.socialnet.de/rezensionen/26229.php

[x] Hartmut Rosa, Unverfügbarkeit, 2018, www.socialnet.de/rezensionen/25302.php

[xi] Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, 2017, www.socialnet.de/rezensionen/23620.php

[xii] Richard Sennett, Zusammenarbeit. Was unsere Gesellschaft zusammenhält, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/14034.php

[xiii] Harald Welzer, Alles könnte anders sein. Eine Gesellschaftsutopie für freie Menschen, 2019, www.socialnet.de/rezensionen/25575.php

[xiv] Jo Reichertz, Hrsg., Grenzen der Kommunikation – Kommunikation an den Grenzen, 2019, www.socialnet.de/rezensionen/26175.php

[xv] Heinz von Foerster / Bernhard Pörksen, Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. Gespräche für Skeptiker, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/13980.php 

Heinz von Foerster/Bernhard Pörksen, Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. Gespräche für Skeptiker, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/13980.php

[xvi] Bernhard Pörksen / Andreas Narr, Schöne digitale Welt. Analysen und Einsprüche von Richard  Gutjahr, Sasche Lobo, Georg Mascolo, Miriam Meckel, Ranga Yogeshwar und Juli Zeh, 2020, www.socialnet.de/rezensionen/26586.php

[xvii] Bernhard Pörksen / Friedemann Schulz von Thun, Die Kunst des Miteinander-Redens. Über den Dialog in  Gesellschaft und Politik, 2020, www.socialnet.de/rezensionen/26707.php

[xviii] Otfried Höffe, Hrsg., Aristoteles-Lexikon, 2005, S. 212ff

[xix] Winfried U. Radel, Verhaltens-Kybernetik, das ist Ethik. Pragmagische Ethik im Alltag für mehr Gemeinwohl & Wert-Schöpfung, 2019, www.socialnet.de/rezensionen/26312.php