Objektivität und Subjektivität - Antikeimenon des Lebens
Was macht Objektivität im Leben eines Menschen aus? Dr. Jos Schnurer sucht Antworten darauf, wie wir die Wirklichkeit als vernunfbegabte und verletzliche Wesen begreifen und bewältigen.
„Alle unsere Erkenntniß hebt von den Sinnen an, geht von da zum Verstande und endigt bei der Vernunft, über welche nichts Höheres in uns angetroffen wird, den Stoff der Anschauung zu bearbeiten und unter die höchste Einheit des Denkens zu bringen“i. Objektiv ist, wie im Philosophischen Wörterbuch ausgewiesen, „wie es wirklich ist… und nicht verstellt durch subjektive Wünsche, Absichten, Stimmungen und andere perspektivische Bindungen“ii. Als Objektiv wird etwas verstanden, was Allgemeingültig, Allgemeinverbindlich und Wahrhaftig sein soll. Als Beispiel gilt die „Globale Ethik“, wie sie in der von den Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 proklamierten Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte zum Ausdruck kommt: „Die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte bildet die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt“iii . Mit dem Bild „Objektivismus ist der Spiegel der Natur“ soll verdeutlicht werden, dass der Mensch Einheit von Körper und Geist istiv. Subjektivität als „Dieses-da“ (Aristoteles) ist individuelle und kollektive Meinung als Menschenrechtv.
Das Leben ist eines der schwersten
Es sind die Erfahrungen und Erlebnisse, die im menschlichen Dasein Lust und Frust bewirken, die Wirklichkeiten spiegeln und Wirrnisse erzeugen. Es sind Analysen, Definitionen, Deutungen, Erzählungen, Metapher, Mythen und Visionen, die der Mensch benutzt, um seinen Lebensraum zu begreifen. Der Wissenschaftsjournalist Wolf Lotter zeigt auf, dass Denken die Welt erzeugt und den Menschen als vernunftbegabtes Lebewesen instand setzt, ein gutes, gelingendes, individuelles und kollektives Leben führen zu können. Er verweist auf die Zusammenhänge von Identität und globalem Bewusstsein. „Je komplexer die Welt wird, je mehr Wissen in ihr kursiert, desto wichtiger wird es, dieses Wissen in Netzwerken miteinander zu verbinden, zu öffnen und damit neue Zusammenhänge – und Möglichkeiten – zu schaffen“. Diese Kompetenzen entstehen durch Erwerb von Wissen, das mehr sein sollte als die Anhäufung von Informationen, nämlich kohärentes Denken und Handeln als „Erkennen, dass Zusammenhänge sowohl aus Gefühlen als auch aus Vernunft gemacht sind“. Es ist das Dilemma, auf der einen Seite die Probleme nicht zu verschweigen, die das alltägliche, gesellschaftliche Leben schafft, und andererseits zu hoffen und tätig mitzuwirken, dass es gelingen möge, verfasste und gemachte Perspektiven zu erzeugenvi.
Conditio Humana
Der Mensch ist ein verletzbares, verwundbares, unfertiges und fehlbares Lebewesen. Diese Realität gilt es zu begreifen, um den anthrôpos nicht der Verzweiflung und dem Fatalismus auszuliefern, ihn aber auch nicht übermütig und fehleinschätzend werden zu lassen. Die Sozialpädagogin Angela Janssen fragt, inwiefern Verletzbarkeit als ein Gesichtspunkt der Conditio Humana zu verstehen ist. Bemerkenswert sind dabei unterschiedliche, alltagsrelevante und konstitutive, körperliche und moralisch-ethische Bedingungen, die zur Erkenntnis führen: „Menschliche Verletzbarkeit (ist) nicht aufhebbar oder kompensierbar“; vielmehr ist „Verletzlichkeit eine Bedingung des Menschseins, der nicht zu entkommen ist. Sie stellt ein ambivalentes Phänomen dar, das nicht allein negativ als Verwundbarkeit verstanden werden darf, sondern das allgemeiner als Ausgesetztsein Anderen gegenüber zu verstehen ist“vii . Die zerstörerische, egozentristische Einstellung – „Ich kann alles und will es sofort“ – nimmt der Kultursoziologe Andreas Reckwitz aufs Korn, indem er sich mit dem Allgemeinen und Besonderen auseinandersetzt. Er unternimmt eine kritische Analyse und eine Sensibilisierung „für die Konfigurationen des Sozialen und ihre Geschichtlichkeit zu entwickeln dafür, wie sie zu Strukturen der Herrschaft und der Hegemonie gerinnen, die den Teilnehmern möglicherweise nur schemenhaft bewusst sind“. Er ruft auf zum Perspektivenwechsel, und mit dem „doing generality der Moderne“ fragt er danach, wie „Objekte und Dinge, menschliche Subjekte, Kollektive, Räumlichkeiten und Zeitlichkeiten“ unser Leben bestimmenviii.
Für einen zeitgemäßen Vernunftgebrauch
Im intellektuellen, verhaltens- und sprachwissenschaftlichen Diskurs wird immer wieder die Frage gestellt: „Wie wirklich ist die Wirklichkeit?“ (Paul Watzlawick). Die modernen, medialen und virtuellen Entwicklungen bewirken, dass die Einschätzung und der alltägliche, lokale und globale Umgang mit Fakten, Realitäten, Tatsachen und Wahrheiten allzu oft bei Einstellungen und der Suche nach einfachen Ja-Nein-Antworten landet. Die daraus entstehenden Fake News ignorieren und missachten, dass ein humanes, verantwortungsbewusstes, ethisches Dasein immer auch bestimmt wird von Unberechenbarkeiten, Zufälligkeiten, Widersprüchen und Widerständen. Nur wenn es gelingt, diese Unwägbarkeiten zu erkennen und mit ihnen umzugehen, kann ein gutes, gelingendes Leben stattfinden – und Denken als Vergegenwärtigung des Existentiellen verstanden werden. Die Philosophin Rebekka Reinhard plädiert dafür, funktionales und empathisches, spontanes und geplantes Denken und Handeln zusammen zu bringen. Es geht um waches Denken. Sie setzt dummen und bösen Einstellungenix ein aufgeschlossenes Denken entgegen, und zwar mit der Sinnsuche und der Erkenntnis: „Das Leben lässt sich nicht per Joystick steuern. Auf seiner Bühne vermischen sich Erfolg und Scheitern, Echt und Fake, Person und Maske, Subjekt und Objekt“. Und es hilft, über den individuellen, innergesellschaftlichen, kulturellen Gartenzaun zu schauen, hin zu anderem, kulturellem Denken und Handeln, „weil auf diesem Planeten nichts isoliert existiert… Sondern alles mit allem verwoben und in seiner Freiheit und Verletzlichkeit auf anderes angewiesen ist“. Beim Wagnis des Lebens ist es hilfreich, den Gewissheiten die Möglichkeiten, den Haltepunkten die Hindernisse, dem Selbstverständlichen das Absurde zuzuordnen: „Das Absurde ist kein Hindernis für ein gutes Leben, sondern sein vielleicht wichtigstes Element“; weil „Sie, ich, wir alle befinden uns in einer kontingenten Welt… Was jetzt so und so ist, könnte auch ganz anders sein. Zufällig. Überzeugend. Bunt“x.
Eine bewusste, achtsame und selbstfürsorgliche Haltung schafft Lebenskraft
Der freie, selbstbestimmte Wille ist grundlegender Bestandteil des Lebensxi. Es sind philosophische, anthropologische, erziehungs- und kulturwissenschaftliche, psychologische, biologische, soziologische und gesellschafts-politische Positionen, die jeweils den Fokus darauf richten, wie das Selbst des Menschlichen individuell und gesellschaftlich wirkt und als Erkenntnisprozess zum Ausdruck kommt. „Mit Selbststeuerung lässt sich im Leben vieles, ohne sie nichts erreichen“. Mit dieser apodiktischen Feststellung wird gewissermaßen eine Menschen- und Weltschau mit dem Blick auf die Entwicklungen und Verwicklungen des menschlichen Selbst(bewusst)Seins eingeleitet: „Freiheit durch Selbststeuerung“. Der Freiburger Arzt, Neurobiologe und Psychotherapeut Joachim Bauer richtet den Blick auf die neuen Erkenntnisse aus der Neurobiologie, wenn er dazu auffordert, sich wieder den Fähigkeiten zuzuwenden, die uns als anthrôpos gegeben sind, nämlich „unser Leben in Einklang mit längerfristigen Zielen und Wünschen zu bringen“, und Abstand vom „Momentanismus“ zu nehmen. Es sind keine Wolkenkuckucksheime und kein Utopia, mit denen der Autor darstellt, dass Selbststeuerung Selbstfürsorge bedeutet und dies anhand von neurobiologischen Grundlagen „für triebhafte, spontan und überwiegend automatisch ablaufende(n) Verhaltensweisen“ aufzeigt. Weil soziale Erfahrungen die Gehirnentwicklung des Menschen formen, kommt es darauf an, Selbststeuerung nicht als ein Glücks- oder Zufallsprodukt zu verstehen, sondern als eine Bildungs- und Lernherausforderung zu begreifen. Bauer setzt sich dabei mit einer Reihe von Experimenten und Versuchen auseinander, wie Selbstkontrolle und Selbststeuerung gelernt und erfahren werden kann. Wenn die Kompetenz zur Selbststeuerung also weder in den Genen liegt, noch von sonst woher geliefert werden kann, sondern gelernt und erworben werden muss, kommt natürlich der Bildung und Erziehung in der familiären, schulischen und Erwachsenenbildung eine besondere Bedeutung zu. Es geht um Bewusstes und Unbewusstes, um Situationen und Gelegenheiten, die auf der Straße liegen, und um Ereignisse, die sich ungewollt vollziehen. Dazu nimmt der Autor das „Hoheitsgebiet der Selbststeuerung: Die persönliche Gesundheit“ in den Blick. Er geht er nicht in erster Linie auf die Möglichkeiten und Defizite im Gesundheitssystem ein, sondern verweist auf die Freiheitsgrade, die Menschen haben und die es ihnen ermöglichen (können), „durch die Gestaltung unserer persönlichen Lebensgewohnheiten Einfluss auf die Gesundheit zu nehmen“, und zwar sowohl im gesunden, als auch im kranken Zustand. Dazu gehören sowohl selbst auferlegte, als auch gegebene und verordnete Stressoren, Süchte und Überforderungen. Bauer plädiert dabei für ein evidenzbasiertes Bewusstsein, das ermöglicht, Risikofaktoren einzuschätzen, aber auch Krankheiten als Chance für Veränderungen wahrzunehmenxii.
Es ist, wie es ist?
Das klingt wie Fatalismus, Aussitzen und Schicksalsertragen: „Da kann man nichts machen!“. In den Auseinandersetzungen der Menschen mit den Lebensläufen, -erfahrungen und Imponderabilien haben sich Ratschläge, Analysen und Sprichwörter gebildet, die als Halteseile oder Fallgruben wirken; etwa, wenn es im 14. Jahrhundert hieß: „Yt in ys neyt anders“; wenn es im Kölschen Dialekt heißt: „Et kütt, wie et kütt!“; oder wenn Michel Foucault zum Ausdruck bringt: „Es gibt im Leben Augenblicke, da die Frage, ob man anders denken kann als man denkt, und auch anders wahrnehmen kann, als man sieht, zum Weiterschauen und Weiterdenken unentbehrlich ist“xiii. Der Schriftsteller Erich Fried gibt in seinem Gedicht „Was es ist“ (1979) die eine, richtige, humane Antwort: Es ist Menschenliebe und Menschenwürde! Der Psychologe und Risikoforscher Gerd Gigerenzer fragt in seiner Studie, wie man – angesichts der lokalen und globalen Unsicherheiten – die richtigen, humanen Entscheidungen fällen kann. Er zeigt auf, dass Risiken zum Leben der Menschen gehören, und der anthrôpos in der Lage ist, den Umgang mit Risiko und Ungewissheit lernen kann. Es ist die Förderung von Risikokompetenz und die Einsicht, dass Fehler machen vor allem dann ein Problem darstellt, wenn sich der Mensch nicht damit auseinandersetzt und aus Fehlern lerntxiv. Der Psychologe und Nobelpreisträger Daniel Kahneman, der Unternehmensberater Olivier Sibony und der Verhaltensökonom Cass R. Sunstein bringen mit dem Begriff „Noise“ in den Diskurs ein, wie Lebensentscheidungen verzerrt und auf falsche Fährten gebracht werden: „Wenn wir Urteilsfehler verstehen wollen, müssen wir sowohl Bias – die systematische Abweichung, die Verzerrung – als auch Noise – die Zufallsstreuung, das störende Rauschen – verstehen“. Sie kommen dabei zu einer zweigeteilten, konträren Auffassung: „Noise ist ein Problem“. Und zwar im gesellschaftlichen und sozialen Miteinander der Menschen. „Noise ist kein Problem, das auffällt“, weil die Einflüsse und Wirkungen von Bias unterschätzt , und die Kompetenzen zur aktiven, selbsthinterfragenden Identitätsbildung bei den Menschen nicht gerade en vogue sindxv.
Fazit
Die Auseinandersetzungen mit den Antikeimena „Objektivität und Subjektivität“ begeben wir uns auf das intellektuelle Feld der Vergewisserung unserer Conditio Humana. Es sind alltägliche, individualisierte und konstitutive Nachschauen über das Sosein: „Wer bin ich?“, und die Kantische Aufforderungen zum „Sapere aude“ – Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!.
i Karl Kehrbach, Hrsg., Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, 2., verbesserte Auflage, Leipzig 1878, S. 264; sowie: Oskar Negt, Politische Philosophie des Gemeinsinns. Band 2: Philosophie und Gesellschaft: Immanuel Kant, 2020, www.socialnet.de/rezensionen/27114.php
ii Martin Gessmann, Philosophisches Wörterbuch, 23., vollständig neu bearbeitete Auflage, Stuttgart 2009, S. 527f
iii Deutsche UNESCO-Kommission, Menschenrechte, Bonn 1981, S. 48
iv Richard Rorty, Philosophie als Kulturpolitik, Ffm 2008, 357 S.
v Tali Sharot, Die Meinung der Anderen. Wie sie unser Denken und Handeln bestimmt – und wie wir sie beeinflussen, 2017, www.socialnet.de/rezensionen/22651.php
vi Wolf Lotter, Zusammenhänge. Wie wir lernen, die Welt wieder zu verstehen, 2020, www.socialnet.de/rezensionen/27036.php
vii Angela Janssen, Verletzbare Subjekte. Grundlagentheoretische Überlegungen zur conditio humana, 2018, www.socialnet.de/rezensionen/25043.php
viii Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, 2017, www.socialnet.de/rezensionen/23620.php
ix Jos Schnurer, Hass, 23.9.21, https://www.sozial.de/hass.html
x Rebekka Reinhard, Wach denken. Für einen zeitgemäßen Vernunftgebrauch, 2020, www.socialnet.de/rezensionen/27037.php
xi Antonio Damasio, Selbst ist der Mensch. Körper, Geist und die Entstehung des menschlichen Bewusstseins, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/13124.php
xii Joachim Bauer, Die Wiederentdeckung des freien Willens, 2015, www.socialnet.de/rezensionen/18891.php
xiii Katja Nicodemus, Der Menschenzusammenbringer (Rosa von Praunheim, in. DIE ZEIT, Nr. 4 , vom 18. 1. 2018, S. 47
xiv Gerd Gigerenzer, Risiko. Wie man die richtigen Entscheidungen trifft, www.socialnet.de/rezensionen/15271.php
xv Daniel Kahneman u.a., Noise, Was unsere Entscheidungen verzerrt – und wie wir sie verbessern können, 2021, www.socialnet.de/rezensionen/28371.php