Leerer Flaschenboden

Mit Enttäuschung ist zu rechnen

Die achtjährige Sarah lebt bei ihrer Oma. Manchmal wünscht sich Frau M, dass sie einfach nur Oma sein darf. Aber, dass Sarah woanders lebt, als bei ihr, das kann sich die achtundfünfzigjährige ehemalige Polizistin nicht vorstellen. Frau M möchte die Bedürfnisse und die Entwicklungsphasen ihrer Enkelin verstehen und holt sich Unterstützung, bevor sie an ihre Grenzen kommt.

Die erste Familienhilfe wurde gleich nach der Geburt eingesetzt. Weil beide Eltern Drogen konsumierten, sollte die Fachkraft überprüfen, ob das Baby gut versorgt wird und gleichzeitig auch beraten und anleiten, da, wo es erforderlich schien. Wie riskant die Sache war, ist den Beteiligten offensichtlich nicht bewusst gewesen. Eine Familienhilfe ist nicht rund um die Uhr vor Ort, ein Neugeborenes braucht aber eine zuverlässige Betreuung und wer suchtmittelabhängig ist braucht seine Droge. Wenn darüber nicht offen kommuniziert wird, kann kein sicheres Netz geknüpft werden und in diesem Fall war es eher Zufall, dass die kleine Sarah rechtzeitig gefunden wurde.

Seitdem wird das Mädchen von ihrer Großmutter betreut, versorgt und erzogen, wobei sich Frau M die Verantwortlichkeiten mit dem Vormund und dem Jugendamt teilt. Zuerst war sie skeptisch. Doch dann erlebte sie es als große Entlastung, dass sie wichtige Entscheidungen nicht allein treffen muss. Die Eltern-Kind-Kontakte wurden an bestimmte Auflagen geknüpft und sie sagt: „ich allein hätte niemals so streng und klar gegenüber Steven und seiner Frau auftreten können. Bei mir waren Kopf und Bauch damals ständig durcheinander und ich war froh, wenn ich anderen die Verantwortung zuschieben konnte". In den ersten drei Jahren stellten sich die Eltern – mal gemeinsam und mal unabhängig voneinander - in der Suchtberatung vor. Zu einem längeren Beratungs- oder Therapieprozess kam es nie. Die Umgangskontakte zu Sarah waren unregelmäßig, die Verabredungen wurden oft nicht eingehalten und seit fünf Jahren gibt es gar keinen Kontakt mehr zwischen Sarah und ihren Eltern.

Es gibt Zeiten in denen das Mädchen mehrmals täglich nach Papa und Mama fragt und sich das Fotoalbum anschaut und dann vergehen Monate, in denen sie sich überhaupt nicht für die Familie interessiert. Im Juni war Sarah bei einem Zwillingsgeschwistergeburtstag und seitdem fragt sie ständig nach ihrem Halbbruder. Sie weiß, dass der 15-jährige Marvin im selben Mamabauch gewesen ist wie sie, und sie will ihn unbedingt kennenlernen.

Jugendamt und Vormund wurden informiert und nahmen Kontakt mit Marvin bzw. mit Marvins Vormund auf und alle fanden die Idee gut. Die Entscheidung, das Treffen im Gruppenraum des Trägers durchzuführen und nicht in der Wohnung von Frau M war schnell getroffen und Sarah war es wichtig, dass ihre Oma und ich bei dem Kennenlernen dabei sind. Marvin lebt in einer betreuten Wohngruppe. Bei ihm wurde ein FASD diagnostiziert, das auf den Alkoholkonsum seiner Mutter während der Schwangerschaft zurückzuführen ist. Er ist impulsiv und in Stresssituationen ist Marvins „Zündschnur" recht kurz, wie sein Betreuer im Vorgespräch mitteilte. Sarah ist eher in sich gekehrt und knabbert wieder an den Fingernägeln, seit das Treffen geplant wird. Je näher der Tag rückt, desto mehr wird geknabbert und sie pendelt zwischen Neugier und Angst hin und her. Wie sie sich den Ablauf des Treffens vorstellt, konnte sie klar formulieren.

Drei Spiele hat sie ausgesucht, Schokoladenkekse, dunkle Trauben und Wasser haben wir bereit gestellt. Auf dem runden weißen Tisch liegen fünf gelbe Servietten. Es ist 16 Uhr. Sarah muss nochmal zur Toilette. Als sie zurück kommt, stehen Tränen in ihren Augen. Die beiden sollten doch jetzt hier sein. „Geht eure Uhr falsch? Ist eure Klingel kaputt? Stehen Marvin und sein Betreuer vor dem falschen Eingang?" Ich schaue auf mein Diensthandy - keine Nachricht. Es ist ja erst 16:10. Vielleicht haben sie sich nur verspätet. Wir beschließen nach draußen zu gehen. Da kommt ein junger Mann auf uns zu. „Entschuldigung. Es gab einen Konflikt und Marvin ist mir weggelaufen", sagt Herr Jordan. „Ich glaube nicht, dass er noch kommt".

Am 9. September ist übrigens der Tag des alkoholgeschädigten Kindes.

Ihre Katja Änderlich