Tasse mit Mandelkeksen
Bild: Mechtild Römer

Wie viel soll ich zeigen?

„Frau Änderlich?“, ruft jemand hinter mir her. Ich drehe mich um und erkenne sie sofort. Frau Rubisch kommt freudestrahlend auf mich zu. Mehr als zehn Jahre ist es her. Sie hat noch immer kastanienbraune Haare, schulterlang, leicht abgestuft, wie damals. „Was machen Sie denn hier? - Auch im Urlaub?“  

Normalerweise komme ich im Spätsommer hier her, nach den Ferien, wenn es wieder ruhiger wird am Strand. Nun habe ich das Deutschlandticket und erlaube mir wieder spontane Kurzreisen. Manchmal fahre ich früh morgens mit dem ersten Zug los, verbringe einen Tag am Meer und komme am Abend wieder zurück.

Dass mir Frau Rubisch noch einmal begegnet, das habe ich mir oft gewünscht. Allerdings jetzt, so privat, mit klatschnassen Haaren und nur mit Handtuch bekleidet, weil ich mich ins kalte Wasser gewagt hatte, ist es mir unangenehm. Sie werde bald Oma, erzählt sie, Ronja sei auch hier und würde sich bestimmt freuen, mich wiederzusehen. Ich soll mich doch zu ihr setzen, in den Strandkorb, lädt Frau Rubisch mich ein.
Ich lehne dankend ab, lüge, dass mein Freund mich an der Seebrücke erwartet, und Frau Rubisch steckt mir ihre Telefonnummer zu. Ich soll mich mal melden.

Frau Rubisch ist eine von den Ehemaligen, an die ich oft denke. Es war eine erfolgreiche Hilfe und trotzdem habe ich das Gefühl, ich bin „noch nicht fertig“ mit ihr. Immer wieder habe ich diese Abschiedsszene vor Augen. Wir waren in den Räumen des Trägers verabredet. Ich hatte Cappuccino und Mandelkekse gekauft. Die gleiche Sorte, die es bei ihr immer gab. Zwei Jahre lang, jeden Mittwoch, wenn ich zum Hausbesuch kam. Ich gebe zu, dass ich mich nicht bei jeder Familie an den Kaffeetisch setze. Bei Frau Rubisch tat ich es gern. Unsere Gespräche waren niemals belanglos, kein Kaffeeklatsch. Wir hatten immer Arbeitsatmosphäre. In den zwei Jahren unserer Zusammenarbeit hatte Frau Rubisch ihr Leben komplett umgekrempelt, es gab geschützten Umgang für die kleine Ronja und ihren Vater, Frau Rubisch war wieder im Job und mit ihrer Mutter hatte sie auch einiges geklärt. Ich hatte das Gefühl, kaum etwas dazu beigetragen zu haben, aber Frau Rubisch meinte, ohne mich hätte sie nichts von all dem auf die Reihe gekriegt. Wir sind nicht immer einer Meinung gewesen, und manchmal fand sie meine Erziehungsansichten „ganz schön schräg“ – doch wir haben weiter gemacht. Und im Abschlussgespräch sagte sie, dass sie sich bei mir immer verstanden gefühlt habe und dass genau dies das eigentlich Hilfreiche gewesen ist. Und dann dieser Satz: „Das kann eigentlich nur jemand verstehen, der das selbst auch erlebt hat“ und dabei sah sie mich an, mit ihren großen braunen Augen, als ob sie genau das von mir wissen will. Ob ich DAS auch selbst erlebt habe. Verunsichert wechselte ich das Thema und legte den Abschlussbericht vor, damit sie ihn gegenlesen konnte, bevor er ans Amt ging.

Bis zum Ablauf des Hilfezeitraums waren noch zwei Wochen Zeit, und ich beschloss, die Frage, ob ich meiner Klientin gegenüber von meiner eigenen Erfahrung erzählen soll, mit in die Supervision nehme. Da es sich um ein sehr persönliches Anliegen handelte, bat ich um eine Einzelstunde. Als die Supervisorin gehört hatte, worum es ging, sagte sie sofort, dass ich auf gar keinen Fall etwas mitteilen soll. Die Klientin würde sonst den Respekt vor mir verlieren. Mein Bauchgefühl sagte etwas anderes, doch ich schwieg. Ein Jahr später trieb mich die Frage immer noch um, und ich nahm sie mit in eine andere Supervisionssitzung. Der Supervisor meinte, ich hätte es ruhig offenbaren können, zumal der Arbeitsprozess ja beendet war. Ich hatte ein schambesetztes Thema öffnen wollen um ihm damit seine quälende Macht zu nehmen.
Seitdem stellte ich mir vor, wie es wäre, wenn Frau Rubisch mir einmal zufällig begegnet. Ich würde noch einmal das Abschlussgespräch aufgreifen und endlich loslassen, dachte ich. Und nun? Im Zug suche ich nach dem Zettel mit ihrer Telefonnummer.

Ihre Katja Änderlich