Mahlzeit: Essen hält Leib und Seele zusammen

von Dr. Jos Schnurer
08.08.2019

Mit dem bayrischen Gruß „Mahlzeit“ wird ausgedrückt, dass es langsam Zeit wird, Mittagspause zu machen. Es ist ein Wunsch, der meist nebenbei und ohne besondere Absicht ausgedrückt wird, eher nicht als Aufforderung oder Einladung zum gemeinsamen Essen verstanden.

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Vielmehr ist es eine Floskel und eine oberflächliche Zuwendung gemeint ist, wie etwa im Ostfriesischen das „Moin Moin“, das nicht nur als Morgengruß, sondern als oberflächliche Aufmerksamkeit den ganzen Tag über benutzt werden kann, so wie „Hallo“, oder die meist nicht allzu ernst und Antwort erfordernde  Frage: „Wie geht’s?“. Der „Mahlzeit“-Gruß sei sogar, wie dies die FAZ-Journalisten Mona Jaeger und Eckart Lohse in einem Streitgespräch äußern, „unsere tägliche Unabhängigkeitserklärung“ im Trubel und Stress des Alltäglichen[i].

Diese mentalitätsbestimmte, landsmannschaftliche Gewohnheit soll zu einer Frage hinführen, die kürzlich von einem Autorenteam der Wochenzeitung DIE ZEIT mit der Behauptung formuliert wurde, dass nichts Menschen so verbinde wie das gemeinsame Essen; ein wohl ausgesuchtes und vorbereitetes gemeinsames Mahl sogar beitragen könne, bei internationalen Verhandlungen als „Waffe der Diplomatie“ eingesetzt  und Konflikte entschärft oder gar gelöst werden könnten[ii].

Es wundert nicht, dass im wissenschaftlichen Diskurs Psychologen, Soziologen, Politik-, Kulturwissenschaftler und Berater dem öffentlichen gemeinsamen Essen eine große Aufmerksamkeit widmen. In Berichten, Geschichten, Erzählungen, Krimis und Filmen wird geschildert, welche positiven und verbindenden, aber auch negativen und trennenden Kontakte bei Tisch auftreten können. Da wird ein Dilemma deutlich: Weltweit stellen Forscher fest, dass immer weniger Menschen sich zu gemeinsamen Mahlzeiten zusammenfinden, während sich Trends zeigen, gemeinsame Essens-Events zu veranstalten, die Kochsendungen im Fernsehen zunehmen und beliebt sind, die Buch- und Medienauflagen von Koch- und Rezeptliteratur steigen. Ein „Aber“ ist angebracht: Der Autor schaut gelegentlich in die an mehreren Stellen aufgestellten öffentlichen Bücherschränke, stellt eigene Bücher hinein und nimmt auch welche heraus. Auffällig ist, dass immer mehr neue, unbenutzte Kochbücher zu finden sind! 

Die berühmte, nicht unumstrittene „Willkommenskultur“, die sich in Deutschland im Herbst 2015 bildete und die willige Aufnahme von Flüchtlingen kennzeichnete, drückte sich nicht selten in gemeinsamen Essenstafeln aus. Es sind Rituale, die ansteckend oder abschreckend wirken können. Die Bedeutung der Nahrungsaufnahme und der gesunden, ausreichenden Ernährung wird bereits in der antiken Philosophie als „Basisfunktion alles Lebendigen“ ausgewiesen und als Fortpflanzungsfähigkeit benannt[iii].  „Sag‘ mir, was und wie du isst, und ich sage dir, wer du bist“ – dieser Spruch drückt ja aus, dass die Art und Weise, wie der Mensch Nahrung zu sich nimmt, sein Sein und Verhalten bestimmt. Es sind die in der jeweiligen Kultur entstandenen Sitten und Normen, die das Essen kennzeichnen.

Zwei Geschichten des Essens und Kochens

Der französische Soziologe von der Pariser Sorbonne, Jean-Claude Kaufmann, hat eine „Soziologie des Kochens und Essens“ geschrieben. Dabei stellt er fest, dass es nicht nur eine Geschichte des Essens und des Kochens gibt, sondern zwei!  "Essen ist auch eine Sache der Kultur und des Gefühls". Mit dem Ausflug in die Geschichte der Menschheit zeigt er auf, dass sich verschiedene Praktiken entwickelt haben: Religiöse Normen, in denen festgelegt wurde, was der Mensch essen darf und was nicht; gesellschaftliche Differenzierungen, wie gegessen werden soll; und schließlich Geschmacksentwicklungen. Damit sind wir bei den Modellen und Wirklichkeiten der Ernährungssituationen im Nahen und Fernen. Die vom Autor prognostizierte "Übergewichtsepidemie", das "Martyrium der Dicken", genauso wie das der Magersüchtigen, ist geprägt vom Kampf der Esser "gegen sich selbst, gegen alles, was verführerisch ist, was Genuss verspricht, den er sich versagen muss", nicht zuletzt vom "Kreuzfeuer unendlich vieler Einflussnetze". Diesen Einflüssen ist der Esser in umso größerem Maße ausgeliefert, je mehr er sich weg von bisher gepflegten Bräuchen, wie der gemeinsamen Mahlzeit mit der Familie, dem immer bedeutungsloser werdenden "Kraft"-Zentrum "Küche" und hin zum individuellen Esser entwickelt: Vom genussvollen Esser zum ökonomischen Konsumenten, zur "Kühlschrank"-,  "Mikrowellen"- und "Fast-Food"-Kultur.

Diese Philippika dient dem Autor nicht dazu, "die Welt von den Ernährungsunarten, die überall lauern, zu erretten"; sondern verstehen zu lernen, was sich beim Kochen und Essen in unseren Alltagssituationen ereignet, als Mahlzeit in der historischen Entwicklung, den Tisch- und Essenssitten, und nicht zuletzt den Zwängen, die Gemeinschaft schaffen und verhindern. Da  geht es um Meinungs- und Machtauseinandersetzungen[iv], Empfindlichkeiten[v] und Aggressionen[vi]. Der Ort des Geschehens: Der Herd. In der Küche hat die Hausfrau, die Köchin das Sagen; in Ausnahmefällen und mehr als Event zelebriert, der Koch. Ist diejenige, die das Essen zubereitet, eher eine Macherin als eine Künstlerin? Geht es dabei um "lustvolles" oder um "lästiges" Tun? Überwiegt die Mühe der Zubereitung oder ist Kochen eine Leidenschaft? Eine Quelle der Zufriedenheit oder eine Qual? Ein "höllisches Rennen mit der Zeit" oder ein planvolles, wohl vorbereitetes Engagement? Der Gang durch die Küchen der Vergangenheit und Gegenwart gleicht einem Schlingerkurs mit großer Rutschgefahr, aber auch vorher markierten, festen Standpunkten[vii].

Nahrung als Menschenrecht

„Jedermann hat das Recht auf einen für die Gesundheit und das Wohlergehen von sich und seiner Familie angemessenen Lebensstandard, einschließlich ausreichender Ernährung…“,   so heißt es in Artikel 25 der globalen Ethik,  der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948. Und gleich im darauffolgenden Artikel wird das Recht auf Bildung proklamiert. Ausreichende Ernährung wird somit mit der Notwendigkeit und dem Bedürfnis nach Bildung gleichgesetzt. Und doch: In großen Teilen der Welt fehlt es an beidem. Bei der von den Vereinten Nationen 2015 proklamierten, globalen Agenda 2030 stehen  ganz vorne die Beseitigung des Hungers in der Welt und das Recht auf Bildung für alle Menschen. So ist es nur logisch, dass Nahrung und Bildung als kongruente Lebensmittel gedacht werden müssen.  „Über das Geben und Nehmen von Nahrung werden Bedürfnisse artikuliert, erfolgt Partizipation und vollzieht sich Fürsorge und Versorgung. Es werden soziale Beziehungen und Verhältnisse gebildet sowie Abgrenzungen und Möglichkeiten der Intervention geschaffen“.  Es sind Gaben und Begabungen, über die jeder Mensch verfügt und die jedem Menschen zustehen.  Der interdisziplinäre, anthropologische Diskurs um „Nahrung als Bildung“ verweist auf ein bisher im pädagogischen Bildungs- und Erziehungsdiskurs eher vernachlässigtes Feld humaner Entwicklung. Das existentielle Verlangen nach Nahrung als Befriedigung von physiologischen Grundbedürfnissen zum Leben verlangt zwangsläufig nach der ebenso bedeutsamen Erkenntnis, dass Nahrungsaufnahme eine immanent soziale Bedeutung hat und „(Essens)Gaben für Bildung und Bildungsprozesse bedeutsam sind“[viii].

Rituale, Identitätshilfen oder symbolische Ordnungszeichen?

Wie bei allen Formen und Anlässen zur Suche von anständigen, angemessenen und menschenwürdigen Verhaltensweisen für ein gedeihendes, lokales und globales  Zusammenleben der Menschen ist Aufklärung nötig! Weil sich im Prozess der geschichtlichen und kulturellen Entwicklung Einstellungen und Verhalten ändern, kommt es darauf an, zwischen Traditionen und Traditionalismus zu unterscheiden: "Solange du deine Füße unter meinen Tisch stellst…", das autoritäre und hierarchische Diktat muss in einer demokratischen, freiheitlichen Gesellschaft  relativiert werden.  Besonders in der Ritual- und Mentalitätsforschung kommt es darauf an, Familien- und Gemeinschaftsformen zu überprüfen und Rituale in einem lokalen und globalen Zusammenleben zu entwickeln. Die Erziehungswissenschaftlerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Arbeitsbereich Anthropologie und Erziehung der Freien Universität Berlin, Kathrin Audehm, befasst sich in ihrer Dissertation mit solchen konstitutiven Elementen. Wenn es richtig ist, "dass Familien darauf angewiesen sind, sich in Ritualen und Ritualisierungen immer wieder neu als Einheiten interagierender Personen hervorzubringen", also als soziale Institution zu bestehen, dann kommen zweifelsohne Aktivitäten zum Tragen, die von allen Familienmitgliedern erkannt und akzeptiert werden. Die Frage nach der Zukunft der traditionell verstandenen Familie, als ein Verbund von Verwandten aus mindestens zwei Generationen, wird immer deutlicher beantwortet mit alternativen, pluralen Familienformen. Die klassische (Klein)Familie - Vater, Mutter, Kind(er) - wird im vermehrtem Maße abgelöst durch 1-Eltern-Familien,  Stieffamilien, gleichgeschlechtlichen Verbindungen und anderen Formen von eheähnlichen Lebensgemeinschaften. Ein Strukturwandel der Familie ist in vollem Gange. Dabei steht im Vordergrund der Menschenrechtsanspruch auf individuelle Autonomie. Wenn also Tischrituale mehr sein sollen als eine alltägliche "Abspeisung" und die Befriedigung von physiologischen Bedürfnissen, muss die Aufmerksamkeit gerichtet werden auf angemessene Formen von Autorität und Disziplin, auf partnerschaftliche und dialogische Einstellungen. Auf die Frage: "Wie erziehen Rituale?", kann es keine alleingültige Antwort geben. Es kommt darauf an, Formen und die Praxis von Tischritualen "nicht als erstarrte, stereotype Vollzugspraxen festgefrorener Gemeinschaften (zu erkennen), sondern als flexible und anpassungsfähige kollektive Handlungskomplexe, in denen die Familien ihre Differenzen aufführen" - und zu bewältigen versuchen. Dadurch werden Autoritäten und Grenzüberschreitungen nicht als postulierte unumstößliche Normen diktiert, wie dies in einigen "pädagogischen Ratgebern", wie etwa in "Lob der Disziplin" (Bueb) versucht wird, sondern sie werden ausgehandelt[ix].

Fazit

Es sind Fragen und Aufforderungen zum tugendhaften, menschenwürdigen Verhalten beim friedlichen und gerechten Zusammenleben der Menschen, die sich auch beim gemeinsamen Essen stellen[x]. Die beobachtbaren, lokal  und global um sich greifenden egoistischen, ethnozentristischen und populistischen Tendenzen machen auch bei den Ess- und Tischsitten nicht Halt. Ihnen gilt es durch Aufmerksamkeit und Empathie entgegen zu treten. Das muss gelernt, eingeübt und erfahren werden, in der Familie, in der Gemeinde, im Freundeskreis und in der Schule!



[i] Mona Jaeger / Eckart Lohse, in: F.A.Z. Magazin vom 14. 5. 2018, https://www.faz.net/aktuell/stil/leib-seele/mahlzeit...

[ii] Harro Albrecht / Stefani Kara / Caterina Lobensein: Zu Tisch!, in: DIE ZEIT, Nr4. 32 vom 1. 8. 2019, S. 27f

[iii] J. Althoff, „trophê“, in:Otfried Höffe, Hrsg., Aristoteles-Lexikon, 2005, S. 609f

[iv] Tali Sharot, Die Meinung der Anderen. Was unser Denken und Handeln bestimmt – und wie wir der kollektiven Dummheit entkommen können, 2017, www.socialnet.de/rezensionen/22651.php 

[v] Christine Kanz / Ulrike Stamm / Friedrich Schorb, u.a., Hrsg., Anerkennung und Diversität, 2018, www.socialnet.de/rezensionen/25033.php 

[vi] Wolfgang Benz, Hrsg., Ressentiment und Konflikt. Vorurteile und Feindbilder im Wandel, 2014, www.socialnet.de/rezensionen/18371.php

[vii] Jean-Claude Kaufmann, Kochende Leidenschaften. Soziologie vom Kochen und Essen, 2006, www.socialnet.de/rezensionen/4394.php

[viii] Birgit Althans, u.a., Hrsg., Nahrung als Bildung, 2014, www.socialnet.de/rezensionen/18385.php

[ix] Kathrin Audehm, Erziehung bei Tisch. Zur sozialen Magie eines Familienrituals, 2007, www.socialnet.de/rezensionen/5562.php

[x] Reimer Gronemeyer: Tugend. Über das, was uns Halt gibt. 2019, www.socialnet.de/rezensionen/25272.php