Männerphantasien

von Dr. Jos Schnurer
14.12.2019

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„Der Körper ist das Schlachtfeld“

Der Mensch ist Körper und Geist. Ein „beseelter Körper“, das wussten schon die antiken Philosophen, „ist das Vermögende“ (Materie), dessen Aktualität die Seele ist“[1] (R.A.H.King, in: Otfried Höffe, Aristoteles-Lexikon, 2005, S. 525ff). In einer eigenartigen, egozentristischen Weise ist im Bewusstsein der Menschen der eigene Körper different zu anderen menschlichen Körpern. Die Gedichtstrophe – „Lass mich Ich sein, damit du Du sein kannst“ – drückt ja aus, dass die Körperlichkeit des Individuums gleichzeitig Kollektiv ist; weil der anthrôpos ein auf eine humane Gemeinschaft angewiesenes Lebewesen ist. In der Psychologie und Psychoanalyse wird der Zusammenhang von Körper und Bewusstsein als Grundlage der Therapie verstanden. Das „Zwischenland von Körper und Psyche“ ist ein Gebirge, das zu überqueren Seilschaften und funktionsfähige Ausstattung benötigt. „Das Somatische stellt einerseits eine Bedingung für psychisches Erleben dar, wird aber andererseits kontinuierlich durch psychische Prozesse geformt“[2]. Vom italienischen Psychoanalytiker Eugenio Gaddini (1916 – 1985) kommt die Erkenntnis, dass das Ich des Menschen vor allem ein körperliches ist[3]. Im medialen, momentanistischen Zeitalter hat Körperlichkeit eine durchaus janusköpfige Ausprägung. Das „Körpermaß“ stilisiert sich gewissermaßen zum Idealbild beim Umgang der Menschen miteinander. Körper zeigen und Körper verhüllen unterliegen gesellschaftlichen, kulturellen und weltanschaulichen Werte- und Normensetzungen[4]. Die Leiblichkeit ist Anlass zum anthropologischen und ontologischen Nachdenken darüber, dass „wir Menschen nicht ein Sein vor(finden), sondern wir erschaffen innerhalb des Kreislaufs von Erkennen und Handeln miteinander unsere eigene Welt“. Im Selbst ist Welt![5]

„Männerphantasien“

Nach dieser weiter ausholenden Betrachtung über Körperzeig und –zeug kommen wir zu einer Situation, die in den 1960er und 1970er Jahren die Community in Deutschland und Europa in Aufregung und zum Perspektivenwechsel bewegt hat. Es waren die gesellschaftlichen Emanzipationsbewegungen, die auch Fragen nach Geschlechtergerechtigkeit stellten[6]. Der Literaturwissenschaftler und Gesellschaftskritiker Klaus Theweleit publiziere 1977/78 ein zweibändiges Werk, dem er den Titel „Männerphantasien“ gab. Es war eine, als Dissertation gedachte Forschungsarbeit, in der er am Beispiel der Freikorps-Bewegungen vom 18. – 20. Jahrhundert in Deutschland und Europa die männlichen, faschistischen, militaristischen und Gewaltphantasien aufzeigte. Er analysiert darin bestimmte Formen von Gewalt, die er (fast) ausschließlich Männern zuordnet. In einem vom Deutschlandfunk am 17. November 2019 ausgestrahltem Interview betont er: „Bestimmte Formen von männlicher Gewalt sind ja nicht verschwunden. Sie sind in unserer Gesellschaft zwar gemildert gegenüber den Situationen 1919/20, die ich beschreibe, und auch gegenüber den 30er-, 40er-Jahren, aber weltweit hat Gewalt an vielen Stellen eher zugenommen, auch gerade eine bestimmte Sorte männlicher Gewalt“[7]. Angesichts der weltweit zunehmenden faschistischen, rechtsradikalen und populistischen Entwicklungen, in denen das hierarchische, patrimoniale Menschenbild propagiert wird. Das umfangreiche Buch mit dem provozierenden Titel wird deshalb gerade vom Berliner Verlag Matthes & Seitz, mit einem ausführlichen Nachwort des Autors neu herausgebracht: „Eine der Erkenntnisse des Buches ist ja nicht, dass Faschismus ein Konglomerat von Ideen ist, die bestimmte Männer haben, sondern dass dass das Körperzustände sind. Leute … die Angst vor dem eigenen Inneren, die Angst vor dem Fremden, … vor dem Fremden in einem selbst“ haben. Es ist die faschistische Befürchtung vor Existenz- und Körperauflösung. In der Kritik an den traditionalistischen Rollenerwartungen und –zuschreibungen wird deutlich, dass es eines Perspektivenwechsels weg von Herrschafts- und Gewaltphantasien und hin zu einer offenen, imperativen Gesellschaft mit dem Ziel braucht: „Der menschliche Mensch in einer humanen, der menschlichen Würde angemessenen Gesellschaft“[8].

Der neue (alte) Mann

Sind es die neuen (alten) Männerphantasien, die sich als Humpel- oder Kumpeltypen, als Paschas oder Softies, als Machos oder Chauvis, als Starost oder Deyka, als Hierarchen oder Solidare, darstellen und so signalisieren, dass es endlich Zeit sei, sich zu ändern, oder Gewissheit heischend behaupten: Das haben wir schon immer so gemacht! – Das haben wir noch nie so gemacht! – Da könnte ja jede (r) kommen! Sind es die „Hafermilchmänner“, die den notwendigen, individuellen und gesellschaftlichen Veränderungsprozess einleiten? Ist es „sein eigener Körper, schlankheitsintervallgefastet und pflanzenbasiert ernährt…, der strahlt?“. Hopla – da melden sich (weibliche) Stimmen, die die High Achiever des Silicon Valley auf die Schippe nehmen, die eine „Geschlechterstudie“ vorlegen, die nur so trieft vor Ironie[9]. Ist es die Vermutung, dass es „vielleicht … einfach nur normal (ist), dass ein Mann abhebt, ausrastet, in dessen Leben eigentlich nichts mehr normal ist“, wie dies Cathrin Gilbert (beinahe bedauernd) feststellt, wenn Sie über die Befindlichkeiten und Verhaltensweisen des Super-Trainers Jürgen Klopp von FC Liverpool sinniert[10]. Es sind jedenfalls – und das könnte ein Hoffnungsschimmer sein – die zahlreichen Auseinandersetzungen, Pro- und Contra-Diskussionen und Gegenpositionen zu den Theweleitschen „Männerphantasien, die sich mit differenziert mit den Begründungszusammenhängen der Studie auseinandersetzen und deren Wahrnehmungsidentitäten kritisch betrachten: Da ist erstens die Sichtweise vom „entleerte(n) Platz“, der eine gewaltsame, männliche Herstellung von Klarheit, Ordnung, Sauberkeit und Übersichtlichkeit notwendig macht; zweitens der „blutige Brei“, der die weibliche Bedrohung und Sexualität hervorruft, und deshalb gewaltsam verhindert werden muss: und drittens der „black out“, der nur durch Abhärtung und Straffung des eigenen Körpers zu überwinden ist[11].

1977 / 2019

Die Neuherausgabe des Buches „Männerphantasien“ sollte drei Erwartungen erfüllen: Da ist zum einen die Chance, das Buch als Zeitdokument neu zu lesen, wie in den Aufbruchzeiten der 1960er / 1970er Jahre eine Faschismusdeutung vorgenommen wurde. Zweitens könnte der Zeitpunkt gekommen sein, die ambivalenten, geschichtswissenschaftlichen Deutungen und Entgegnungen in einem neuen Dialog zu führen und die „Male Fantasies“, wie der Titel des Buches im geschichtswissenschaftlichen, US-amerikanischen Diskurs eingebracht wurde (1987/89) im globalen Maßstab zu lesen. Und drittens wäre es aus heutiger Sicht notwendig, eine geschlechtergerechte Entwicklung unter den Gesichtspunkten des Menschenrechts, der Menschenwürde und der Gleichberechtigung von Mann und Frau vorzunehmen.

So darf man gespannt sein, ob und wie die Neuherausgabe des Buches „Männerphantasien“ den allgemeinen und wissenschaftlichen Diskurs beeinflusst.

 


[1] R.A.H.King, in: Otfried Höffe, Aristoteles-Lexikon, 2005, S. 525ff

[2] Bernd Traxl / Frank Dammasch, Hrsg., Körpersprache, Körperbild und Körper-Ich. Zur psychonanalytischen Therapie körpernaher Störungsbilder im Säuglings-, Kindes- und Jugendalter, 2016, www.socialnet.de/rezensionen/22874.php

[3] Eugenio Gaddini, „Das Ich ist vor allem ein körperliches“. Beiträge zur Psychoanalyse, 2015, www.socialnet.de/rezensionen/19463.php

[4] Elke Grittmann, u.a., Pater (Hrsg.): Körperbilder – Körperpraktiken. Visualisierung und Vergeschlechtlichung von Körpern in Medienkulturen, 2018, www.socialnet.de/rezensionen/25145.php

[5] Werner Vogd, Selbst- und Weltverhältnisse. Leiblichkeit, Polykontexturalität und implizite Ethik, 2018, www.socialnet.de/rezensionen/22874.php

[6] Bruno Heidlberger, Wohin geht unsere offene Gesellschaft? „1968“. Sein Erbe und seine Feinde, 2019, www.socialnet.de/rezensionen/26116.php

[7] Liane von Billerbeck im Gespräch mit Klaus Theweleit, DLF, 17.11.2019

[8] Johannes Schwarte, Die Plastizität des Menschen. Ergebnisoffenheit und Beeinflussbarkeit der Persönlichkeitsentwicklung, 2015, www.socialnet.de/rezensionen/20282.php

[9] Nina Pauer, Die Hafermilchmänner, in: DIE ZEIT, Nr. 46 vom 7.11.19, S. 67

[10] Cathrin Gilbert, Nicht mehr normal, in: DIE ZEIT, Nr. 47 vom 14.11.19, S. 32

[11] Sven Reichardt, Klaus Theleweits „Männerphantasien“ – ein Erfolgsbuch der 1970er Jahre, 2006; https://zeithistorische-forschungen.de/3.2006/4650