Kompromiss: Königsweg oder Höllenpfuhl?

von Dr. Jos Schnurer
17.09.2017

Collage: Dr. Jos Schnurer
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Im persönlichen Miteinander, wie im lokal- und globalgesellschaftlichen, politischen Zusammenleben der Menschheit kommt es darauf an, unterschiedliche individuelle und kollektive Meinungen, Auffassungen, Lebensvorstellungen und Weltanschauungen[1] so zusammen zu bringen, dass sie einer „globalen Ethik“ entsprechen, wie sie in der Menschenrechtsdeklaration vorgegeben ist: „Die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte bildet die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt“[2]. Weil die „kreative Vielfalt“ der Menschheit sich dadurch auszeichnet, dass auf der Grundlage von Frieden und Demokratie „die Erweiterung der menschlichen Handlungsfähigkeiten in den ethischen Überzeugungen und Werten eines Volkes wurzelt, die die Grundformen des Alltagsverhaltens bestimmen“[3]. Wird die Fähigkeit, Kompromisse zu schließen zu einem Gute-Lebens- und Überlebensprinzip für die Menschen?[4]

Diese (eigentlich) logische und konsequente Auffassung wird freilich dadurch konterkariert, dass ego- und ethnozentrierte Einstellungen und Verhaltensweisen ein friedliches, gerechtes, gleichberechtigtes und menschenwürdiges Zusammenleben der Menschen auf der Erde so schwierig machen. Mit dem gängigen Schlagwort – „Ich mache keine Kompromisse!“ – kommt zum Ausdruck, dass eine Entscheidung als „fauler Kompromiss“ verstanden wird, wenn in Konfliktsituationen eine Einigung zustande kommt, bei der die Durchsetzung der eigenen Werte- und Normenvorstellungen nicht voll und ganz möglich ist, sondern auch die der Anderen zum Zuge kommen. Es gäbe genug Beispiele, Konzepte und Erfahrungen, in denen deutlich wird, dass ein Kompromiss, wenn er „auf Augenhöhe“ zustande kommt, eine gute Lebensperspektive darstellt; etwa, wenn im antikem „Höhlengleichnis“ (Platon) Fragen nach der Identitätsbildung und Weltsicht gestellt und „Aufklärung“ als ein Humanum verstanden wird; im „Gefangenendilemma“, das als mathematisches Modell in der Spieltheorie zum zweckrationalen, argumentativen ethischen Denken und Handeln anregt[5]; oder mit dem „kategorischen Imperativ“ (Kant), mit dem die sittlich-moralischen Prinzipien beim menschlichen Miteinander festgelegt werden, die sich in dem Sprichwort ausdrücken: „Was du nicht willst, das man dir tu‘, das füg‘ auch keinen andern zu!“.

Der Begriff „Kompromiss“ ist in vielfacher Weise vorbelastet, und die Bedeutung wird bestimmt von ethischen und moralischen, wie von Nützlichkeits-, Zweckmäßigkeitsüberlegungen und egoistischen Prämissen. Nicht zuletzt ist der Kompromiss für den einen „sin Uhl, för den anern sin Nachtigal“, was im Individuellen wie im Kollektiven bedeutet, dass die Betrachtung über den Wert und gar über den Mehrwert eines Kompromisses unterschiedlich ausfällt. Betrachten wir die Alltags-, wie die semantisch-regulative Bedeutung des Begriffs, so merken wir bald, dass wir uns auf ein glitschiges, undurchsichtiges Gebiet von Interpretierbarem und Deutbarem bewegen; für kommunikative Bedeutsamkeiten ein äußerst gefährliches und missverständliches Terrain.

Was haben Kompromisse im individuellen, regionalen, nationalen und internationalen Zusammenleben der Menschen nicht alles aus- und angerichtet? Welche Verständigungen, Missverständnisse und Tragödien haben sich ereignet zum Nutzen und Schaden der Menschen? Wie zeigen sich die Folgen von Kompromissen in der jeweils aktuellen Situation? Wie in der Vergangenheit? Welche sind für die Zukunft zu erwarten? Dieses Bündel von Fragen wirkt wie ein unentwirrbares Knäuel; oder wie ein Teufels-, oder doch auch ein Engelsgeflecht. Lassen wir die Spekulationen, Unkenrufe und Flötentöne, und wenden uns Konkretem zu: Der israelische Philosoph, Mitbegründer der Friedensbewegung Peace Now und Emeritus der Hebräischen Universität in Jerusalem und von Princeton, Avishai Margalit[6], stellt eine für unsere Selbsteinschätzung erst einmal irritierende These auf: „Wir sollten eher nach unseren Kompromissen beurteilt werden als nach unseren Idealen und Werten“. Dabei geht es ihm nicht in erster Linie um die ethischen und moralischen Vorstellungen, die das Idealbild des Individuums als grundsätzlich gutes, nach Zusammenhalt und einem gerechten Leben strebenden Lebewesen bilden; vielmehr drückt er sein Erstaunen darüber aus, dass in der Moralphilosophie der Begriff „Kompromiss“ kaum in Erscheinung tritt; wenn doch, dann höchstens als negative Haltung oder als ein eher abzulehnender Pragmatismus und schnödem, egoistischem Nützlichkeitsdenken unterworfene Einstellung. Damit sind wir dann auch schon bei der Erkenntnis, dass es sich dabei um einen äußerst mehrdeutigen Begriff handelt, und der „Kompromiss“ vom „faulen Kompromiss“ unterschieden werden muss; und zwar in unserem Fall nicht in erster Linie bei der individuellen, sondern der politischen Betrachtung.

Kompromisse als Mittler zwischen dem unabdingbaren Nein und dem unbedingten Ja gilt es zu suchen, weil es notwendig ist, die Extreme zu erkennen und zu entlarven: Sektierertum auf der einen und Fundamentalismus auf der anderen Seite.

Avishai Margalit gliedert seine Betrachtung über den Kompromiss in sechs Kapitel: Im ersten Teil stellt er zwei Bilder des politischen Kompromisses vor, nämlich dem Verständnis von Politik als Ökonomie und Politik als Religion. Diese Unterscheidung trifft uns ins Mark unseres Kampfes ums Dasein und den Ah- und Bäh-Einstellungen zum guten Leben: Nützlichkeit, Idealismus und Tabu-(brüche). Es gilt also, das Gute und Humane des Kompromisses aufzudecken, ganz im Sinne der ursprünglichen Wortbedeutung als co-promissum, einem auf Vertrauen beruhendem gegenseitigem Versprechen, und den faulen Kompromiss mit einem Tabu zu belegen.

Im zweiten Kapitel benennt er verschiedene Formen von Kompromissen: „Vollblutkompromisse“ und „blutleere Kompromisse“. Es sind wieder Bilder, die der Autor benutzt, um erstere herauszustellen; etwa „sich auf halbem Wege entgegen zu kommen, oder heute würden wir sagen, sich auf „Augenhöhe begegnen“ und sich „ohne Gesichtsverlust“ zu einigen; genauso, wie es die Frage zu diskutieren gilt, ob „faule Kompromisse“ eingegangen werden dürfen, um des Friedens willen, oder eines übergeordneten Wertes und einer Moral wegen.

Im dritten Kapitel geht es um die uralte und immer wieder neue Auffassung, ob und wenn ja, bis zu welchem Grad und welchem ideologischem, politischem oder historischem Maß Kompromisse um des Friedens willen geschlossen werden dürfen. Es wundert nicht, dass der israelische Pazifist und Friedensbefürworter Margalit dabei immer wieder konkrete Beispiele von Kompromissen und faulen Kompromissen im israelisch-palästinensischen (arabischen) Konflikt heranzieht, wenn er die Ausprägungen des historischen (und aktuellen) Irredentismus in verschiedenen Szenarien diskutiert. Interessant dabei das dem Irredentismus, vor allem in der Form der Politik des Heiligen (Religiösen), innewohnende besondere Verhältnis zwischen Frieden und Gerechtigkeit, wonach es gerechtfertigt erscheint, „um eines dauerhaften Friedens willen auch dauerhaft gewisse Ungerechtigkeiten hinzunehmen“ – ein Gedanke, der zweifellos den gängigen, philosophischen und staatsrechtlichen Theorien widerspricht. Mit der fiktiven Geschichte, in der der Raubtierstaat Overdog das Land Underdog überfällt und annektiert (unverkennbar eine Replik auf Israel und Palästina), spielt der Autor drei Szenarien durch, bei denen sich Sequenzen und Konsequenzen dieser Sichtweise verdeutlichen.

Im vierten Kapitel nimmt Avishai Margalit den Gedanken von Kompromissen und politischen (pragmatischen und/oder verfassungsgemäßen, völkerrechtlichen) Notwendigkeiten aufs Korn und verdeutlicht die Gradwanderung von Kompromissen und faulen Kompromissen am Beispiel der Beschlüsse der Konferenz von Jalta vom Februar 1945. In den Wirkungen, wie sie sich in der historischen Reflexion darstellen – und in den Überlegungen und Notwendigkeiten, wie sie sich angesichts des totalen Krieges und den Unbedingtheiten einer totalen Kapitulation des nationalsozialistischen Regimes ergaben – erhält die Prämisse – „Du sollst um keinen Preis faule Kompromisse eingehen“ – eine schier unlösbare Bedeutung.

Wie moralisch sind faule Kompromisse, angesichts der Option, solche niemals einzugehen – oder doch? Das fünfte Kapitel beschäftigt sich mit der scheinbar abstrusen Unterscheidung zwischen Moral und Ethik im Sinne von tribalistischen (persönlichen, nahen) und menschheitsbezogenen (fremden, globalen) zwischenmenschlichen Kontakten. Der Autor führt dazu, mit Blick auf die faulen Kompromisse, zwei unterschiedliche theoretische Betrachtungen ein: Die Theorie des Richtigen und die Theorie des Guten: Ersteres „sagt uns, dass faule Kompromisse unter keinen Umständen gerechtfertigt sind, gleich welche Folgen sie für die den Kompromiss schließenden Parteien besitzen“, während die zweite Theorie bedeutet, „dass faule Kompromisse zwar niemals zu rechtfertigen sind, dass es aber, je nach den Folgen dieser Kompromisse Raum für Vergebung oder zumindest für Verständnis gibt“. Denn es sind die „guten Gründe“, ob notwendige, staatsrechtliche oder souveräne, die Kompromisse erfordern und faule Kompromisse wohlfeil machen. Von den tragischen Einstellungen, wie sie sich im israelisch-palästinensisch-arabischen Konflikt als ideologisch-fundamentalistisch darstellen, bis hin zu den sektiererischen Kompromissen, die von der Sozialdemokratie in verschiedenen Ländern eingegangen wurden – es sind Wägungen, die an die Wurzeln politischer Moral reichen.

Es ist die Infragestellung und der Angriff auf das gemeinsame Menschsein, wie wir es in der von den Vereinten Nationen 1948 proklamierten Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte als Menschenwürde postulieren, die das „radikal Böse“ kompromissunfähig macht.

Als ob die Lettern, die Margalit über Kompromisse und faule Kompromisse schreibt, leuchten wollten in den heutigen Tag und unsere Wirklichkeit hinein, erscheint der Bericht über das Konzert Daniel Barenboims im Gaza-Streifen, bei denen der Maestro sich an das begeisterte Publikum wendet – „Wie ihr wisst, bin ich ein Palästinenser“ (Beifall brandet auf). „Ich bin aber auch ein Israeli“ (und tatsächlich wird wieder geklatscht). „Ihr seht also, es ist möglich, beides zu sein“[7], als ein aktuelles Exempel für die Anwendung eines politischen Kompromisses zum Wohle von Völkern. Auch wenn  Margalit in seiner Auseinandersetzung über Kompromisse und faule Kompromisse nichts von den Kontroversen und (An-)Fragen wissen konnte, die sich durch die Erschießung von Osama bin Laden durch ein US-Antiterror-Kommando aktuell ergeben – „die Tötung des Terroristen schafft nicht den Terror aus der Welt“[8], bleibt die Herausforderung aktuell wie je: „Entweder wir fühlen uns den Prinzipien des Rechtsstaats verpflichtet, egal, welche Straftat ein Individuum verübt hat, oder wir nehmen, wie es Bin Laden und seine terroristischen Komplizen getan haben, die pragmatische Sichtweise ein, dass das Ziel die Mittel heiligt und jeder das Recht in seine eigene Hände nehmen kann“ (Ed Jeremey).

In der sich immer interdependenter, entgrenzender und kapitalistisch, neoliberalistisch, fundamentalistisch und populistisch entwickelnden Welt gilt es, den menschenunwürdigen und unakzeptablen Zeitläuften die Fähigkeiten entgegen zu setzen, gute und legitime Kompromisse eingehen zu können und faule, illegitime und unzulässige Kompromisse zu erkennen und zu vermeiden. Denn das ist der Erinnerung wert: Der Mensch als zôon politikon ist in der Lage, kraft seiner Vernunft, seiner Fähigkeit, Gutes von Bösem unterscheiden zu können und seines Bewusstseins, dass ein gutes, gelingendes, gerechtes und menschenwürdiges Leben für alle Menschen auf der Erde nur möglich ist durch die Anerkennung und des Strebens nach Menschlichkeit[9]. Die Kompetenz, die richtigen, humanen Kompromisse einzugehen, wird den Menschen nicht in die Gene, auch nicht in die Wiege gelegt. Vielmehr kommt es darauf an, Kompromissfähigkeit zu lernen und zu erfahren. Beispiele, wie aus Utopien Wirklichkeiten werden können, liegen zwar nicht auf der Straße; aber sie sind vorhanden, und es lohnt, sie zu suchen[10].     

 

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Dr. Jos Schnurer
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jos2@schnurer.de



[1] Tali Sharot, Die Meinung der Anderen. Was unser Denken und Handeln bestimmt – und wie wir der kollektiven Dummheit entkommen können, 2017, https://www.socialnet.de/rezensionen/22651.php

[2] Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948, in: Deutsche UNESCO-Kommission. Menschenrechte. Internationale Dokumente, Bonn 1981, S. 48

[3] Deutsche UNESCO-Kommission, Unsere kreative Vielfalt. Bericht der Weltkommission „Kultur und Entwicklung“, 2. erweit.Ausg., Bonn 1997, 76 S.

[4] Hans Lenk / Gregor Paul, Transkulturelle Logik. Universalität in der Vielfalt, 2017, https://www.socialnet.de/rezensionen/22702.php

[5] Rudolf Schüßler, Kooperation unter Egoisten, De Gruyter-Odenbourg-Verlag, München1997, 178 S.

[6] Avishai Margalit, Über Kompromisse - und faule Kompromisse, 2011, https://www.socialnet.de/rezensionen/11536.php

[7] Peter Münch, Mozart als Blockadebrecher, in: SZ, Nr. 102 vom 4.5.2011

[8] Matthias Drobinski: „Das Teuflische im Guten“, SZ vom 4.5.2011

[9] Hans-Jürgen Jakobs, Wem gehört die Welt? Die Machtverhältnisse im globalen Kapitalismus, 2016, https://www.socialnet.de/rezensionen/22284.php

[10] Heribert Prantl, Was ein Einzelner vermag. Politische Zeitgeschichten, 2016, https://www.socialnet.de/rezensionen/22702.php; Carlo Strenger, Abenteuer Freiheit. Ein Wegweiser für unsichere Zeiten, 2017, https://www.socialnet.de/rezensionen/22486.php