„Kein Mensch kann ein Volk hassen, von dem er mehrere Einzelmenschen zu Freunden hat“

von Dr. Jos Schnurer
22.04.2014

Collage Collage, zusammengestellt von Dr. Jos Schnurer
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[1] Das Böse, das als „so genanntes“ Böses in der Welt ist, wie auch als „tatsächliches“ daher kommt, wird insbesondere in der Psychologie, der Psychoanalyse, der Pädagogik, der Philosophie und Anthropologie thematisiert. Die Psychoanalytikerin Margarete Mitscherlich (1917 – 2012) fragte: „Müssen wir hassen?“, und sie schaute nach, welches „Verhältnis zwischen der von uns erlebten äußeren und der inneren Realität“ besteht, „also, was wir an bewussten und unbewussten Wünschen, Phantasien, Impulsen mit uns tragen und was nicht nur mit den Forderungen der äußeren Realität in Konflikt geraten, sondern auch ihre Wahrnehmung verzerren kann“ [2]. Böses, wenn es sich als Aggression und physische und psychische Gewalt darstellt, bedarf unserer besonderen Aufmerksamkeit. Sie muss sich einrichten, humane Haltungen zu erzeugen, um Böses zu erkennen, mit Bösem umzugehen, möglichst Böses zu vermeiden, aber auch präventiv zu wirken. 

Globale Ethik

Am 10. Dezember 1948 haben die Vereinten Nationen eine Werteordnung in die Welt gebracht, die es ermöglichen soll, „künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren“ (Charta der Vereinten Nationen) und ein humanes Zusammenleben der Menschen auf der Erde herzustellen. In der Präambel der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ wird deshalb postuliert, dass „die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt bildet“ [3]. Der Anspruch freilich, dass die in der Menschenrechtsdeklaration ausgewiesenen Rechte und Grundfreiheiten als allgemeingültige Werte und Normen für die Menschheit gelten solle, ist bis heute nicht verwirklicht. Relativierungen und ethnische, nationale und kulturelle Vorbehalte verhindern, dass die Menschenrechte als gemeinsame globale Ethik akzeptiert und angewandt werden. Der Soziologe und Sozialphilosoph Hans Joas schreibt eine „affirmative Genealogie des Universalismus der Werte“, indem er erst einmal feststellt: „Ich glaube nicht an die Möglichkeit einer rein rationalen Begründung letzter Werte“. Dabei freilich will er nicht an den Grundfesten und Denkgebäuden rütteln, wie sie in der Philosophie über die Jahrtausende hin gedacht und postuliert wurden; vielmehr geht es ihm darum, auf die Trennbarkeit von Genesis und Geltung im Argumentationsprozess um die Begründbarkeit von Menschenrechten zu verweisen: Es „kann nämlich die Geschichte der Entstehung und Ausbreitung von Werten selbst so angelegt werden, dass sich in ihr Erzählung und Begründung in spezifischer Weise verschränken“. Dabei weist er die seiner Meinung nach unfruchtbare Debatte zurück, ob „die Menschenrechte eher auf religiöse oder auf säkular-humanistische Ursprünge zurückzuführen sind“; vielmehr stellt der Autor fest, dass es eine fundamentale Alternative zu den genannten Positionen gibt: „Sakralität, Heiligkeit…, den Glauben an die Menschenrechte und die universale Menschenwürde als das Ergebnis eines spezifischen Sakralisierungsprozesses aufzufassen…, in dem jedes einzelne menschliche Wesen mehr und mehr und in immer stärker motivierender und sensibilisierender Weise als heilig angesehen und dieses Verständnis im Recht institutionalisiert“ wird. Das mögliche Missverständnis, dass Sakralität vornehmlich als religiös aufgefasst werden könne, räumt er dadurch beiseite, indem er darauf verweist, dass „subjektive Evidenz und affektive Intensität“ die Grundpfeiler eines so verstandenen sakralen Denkens und Handelns darstellen und die „Sakralisierung der Person“ zum Ziel hat [4].

Die welthistorische Paradoxie als Hoffnung?

Der christlich-jüdische Dialog muss sich zu einem Trialog mit dem Islam entwickeln. Diese Auffassung vertritt der Politikwissenschaftler der Universität Erfurt, Kai Hafez. In seiner Vergleichsanalyse zwischen islamischen, islamistischen und fundamentalistischen Entwicklungen mit denen westlicher Demokratien weist er darauf hin, dass „auch der Westen ( ) seinen heutigen Zustand von Wohlstand, Modernität und globaler Macht nicht allein Aufklärung, Wissenschaft und Demokratie zu verdanken (hat), sondern ebenso Glaubenskriegen, Revolutionen und kolonialer Ausbeutung“. Diese Einschätzung ist nun für Kai Hafez keinesfalls Anlass, einer fatalistischen, machtlosen Resignation zu verfallen; vielmehr zeigt er in einer historischen und politischen Nachschau auf, dass der alte, von der Allgemeinheit wie von den Wissenschaften sorgsam gepflegte „Orient-Okzident-Gegensatz“, wonach der „Islam als eine mit Moderne, Demokratie und Zivilisation unvereinbare Gegenwelt“ betrachtet wurde, zumindest in den westlichen Islam- und Politikwissenschaften, längst ad acta gelegt worden ist. Er hegt „die Hoffnung, dass trotz real bestehender Risiken durch Diktaturen, Kriege, Terror und Antisemitismus auch und vielleicht gerade der politische Islam, in all seinen Facetten bis hin zum Fundamentalismus, den Weg für eine politische Inklusion der islamischen Welt in ein größtenteils konsensuales Projekt der Moderne ebnen könnte“. Eine selbstgerechte Weltsicht, die davon ausgeht, dass die westlichen Demokratien das Gute, Vollkommene und Gerechte verkörperten, und der politische und fundamentalistische Islam das Böse und Undemokratische darstellten, führt nicht zu einer Befriedung in unserer Welt. Die Einsicht, dass „politische Gewalt ( ) heute gleichermaßen in der islamischen Welt wie im Westen präsent (ist)“, und dass es einer Verständigung hin zu einem pazifistischen und demokratischen Denken und Handeln bedarf, wäre ein Weg, „heilige Kriege“ zu überwinden und Demokratie im Leben der Menschen zu etablieren: „Weder beseitigen militärisches Handeln die Ursachen des Terrorismus, noch ist die terroristische Gewalt eine ethische oder auch nur erfolgversprechende Strategie der Bewältigung politischer und sozialer Probleme“ [5].

Logik und Leben

„Ein Tisch ist ein Tisch…“ – in der Kurzgeschichte von Peter Bichsel schreit die Verzweiflung darüber, wie Benennungen und Bezeichnungen sich dann als absurd gestalten, wenn der Mensch nach der Logik fragt, die entweder Logik oder keine ist. Oder wenn Ernst Jandl in seinem Gedicht „lichtung“ meint, lechts und rinks könne man nicht velwechsern, werch ein illtum. Das Spiel mit Paradoxien ist ein bekanntes Abenteuer, Behauptungen ad absurdum zu führen. Im philosophischen Denken, etwa bei Aristoteles, unterliegt die Bezeichnung eines Gegenstandes oder einer Überlegung entweder einer Wahr-Falsch-Dichotomie oder einer Wesensdefinition, die sich als weder wahr noch als falsch darstellt und von daher einer zweiwertigen Logik unterliegt. Um Diskrepanzen und Widersprüche erklären zu können, muss auf „moderne Diskontinuität(en)“ hingewiesen werden. „Wer lebt, muss mit Paradoxien umgehen“, hinter dieser Tautologie steckt eine gehörige Portion Wahrheit und Explosivität. Eine Grenzwanderung von „Unentscheidbarkeit der Wahrheit oder Falschheit von Aussagen“ unternimmt der Mediziner, Soziologe und Organisationsentwickler von der Universität Witten/Herdecke, Fritz B. Simon, mit seinem Buch über Paradoxiemanagement. Dabei nimmt er sich konkrete Situationen vor, wie sie sich im Familienleben, in der Wirtschaft und Politik darstellen. Weil unser individueller Alltag wie unser gesellschaftliches Dasein von hochkomplexen, „logischen“ Paradoxien bestimmt ist, sind wir gefordert, unser Denken und Handeln über einfache „Entweder-Oder-Prinzipien“ hinaus zu entwickeln. Ordnung und Unordnung sind die zwei Seiten derselben Medaille: „Um die Entstehung von Unordnung zu erklären, müssen wir die Entstehung von Ordnung studieren, und um herauszufinden, was eine bestimmte Ordnung herbeiführt, erhält, verändert oder auflöst“. Denn bei der Ordnungssuche wie bei der Unordnungsdetektion wirken Inkognition [6] in gleicher Weise wie Kognition [7]. Es gilt, explizite und implizite Bewusstseinszustände zu bedenken, genetische Zustände zu erforschen, traditionelle und moderne Formen zu analysieren, vitales und kreatives Wirken zu systematisieren, objektive und subjektive Verhaltensweisen zu erkennen und diskursive und hegemoniale Strukturen habhaft zu machen. „Wenn rechts links ist und links rechts“ – diese Aussage kann ja ein Verzweiflungsruf sein, wie auch ein Resignationsparameter, oder auch als strukturalistische Methode ein Ordnungs- und Organisationsprinzip, das Logik von Rationalität unterscheidet. Der Grenzgang lässt sich mit Hilfe der Systemtheorie ermöglichen, auch deshalb, weil „man sowohl Psyche als auch die Organisation als kognitives System betrachten kann“ [8].

Das Dilemma zwischen Souveränität und Menschenrechten

„Wir, die Völker der Vereinten Nationen (sind) fest entschlossen, … unseren Glauben an die Grundrechte des Menschen, an Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit, an die Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie von allen Nationen, ob groß oder klein, … zu bekräftigen“. So steht es u. a. in der Präambel der Charta der Vereinten Nationen vom 26. Juni 1945, als verpflichtende Vereinbarung - „da Kriege im Geiste der Menschen entstehen, auch die Bollwerke des Friedens im Geiste der Menschen errichtet werden müssen“, wie dies in der Präambel der Verfassung der UNESCO vom 16. 11. 1945 postuliert und in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 ausdrücklich darauf hingewiesen wird -  dass die „Verkennung und Missachtung der Menschenrechte zu Akten der Barbarei“ führen. Damit haben wir die formalen und rechtsverbindlichen Normen für eine friedliche, gerechte und humane (Eine) Welt benannt. In der sich immer interdependenter entwickelnden Welt, die wir gerne und euphorisch als EINE WELT bezeichnen, lassen sich Menschenrechtsverletzungen nicht mehr so einfach in den Grenzen eines Staates und einer Gesellschaft „verstecken“. Die Frage nach den Menschenrechten ist eine global-öffentliche geworden. Gleichzeitig aber wird das Dilemma zwischen dem Souveränitätsanspruch von Staaten und der Ethik der Menschenrechte in aller Deutlichkeit und an vielen Orten in der Welt deutlich. Menschenrechtsverletzungen werden, wenn es die nationale oder hegemoniale Macht erfordert, formalrechtlich und machtpolitisch schön geredet oder sogar als Fakt geleugnet. Claas Christophersen beantwortet mit dem Buch „Kritik der transnationalen Gewalt“ das Problem, wie die fundamentalen Probleme des menschlichen Zusammenlebens auf der Erde gelöst werden können; dazu müsse sich die Weltgemeinschaft im Sinne einer transnationalen Demokratie weiter entwickeln, bei der die gesellschaftliche und politische Partizipation aller Menschen gewährleistet ist. Wir brauchen eine neue Demokratie, so seine Forderung, und die optimistische Erwartung – Eine andere Demokratie ist möglich! – konkretisiert seine Vorstellungen. Dabei ergibt sich in der politikwissenschaftlichen Analyse der Konflikte und Kriege, wie sie sich im Laufe der letzten hundert Jahre ereignet haben, dass weder ein national definiertes und auf die Souveränität von staatlichem Handeln basierendes „Recht des Stärkeren“, noch auf dem rein normativen Verständnis von staatlicher Macht gründende Machtverhältnisse Wege aus der unbefriedigenden und unakzeptablen Alternative „Entweder Souveränität oder Menschenrechte“ zu finden. Mit der an Hannah Arendt angelehnten Frage „Wie wollen wir zusammenleben?“, als Individuen und als Menschheitsfamilie, ordnet Christophersen seine Reflexionen zur Überzeugung, dass eine andere Welt möglich ist, trotz oder gerade wegen der Interdependenzen in der Welt [9].

Der Terrorismus als Weltrisiko

Spätestens seit dem 11. September 2001, als der Terror eines seiner hässlichen Gesichter brutal, plakativ und weltweit zeigte, hat die Diskussion um den globalen Terrorismus einen festen Platz in unserem kollektiven Gedächtnis. Bedrohung, Angst und Unsicherheit bestimmen dabei sowohl die individuellen, als auch die lokal- und globalkollektiven Gefühle und Einstellungen der Menschen. Der Terrorist, als Feind der Menschlichkeit, hat Auffassungen ausgelöst, die scheinbar bei der friedliebenden Mehrheit der Menschheitsbevölkerung als verschwunden, zumindest als kontrollierbar galten: Xenophobie, Rassenhass, Diskriminierung des Fremden. Der Feind in der Gestalt der Terrororganisation Al-Qaida wurde in einer kollektiven Ablehnung der Muslime gefunden. An der Friedrich-Schiller-Universität in Jena  wurde ein Forschungsprojekt durchgeführt, das als „Jenaer Terrorismus Studie“ bekannt geworden ist. Vom Juli 2007 bis November 2009 hat sich eine Gruppe des  Instituts für Kommunikationswissenschaften damit auseinander gesetzt, ob und welche Wirkungen die mediale Berichterstattung auf die Einstellungen der (deutschen) Bevölkerung zum Terrorismus haben. Dabei haben die Autorinnen und Autoren über einen Zeitraum von 551 Tagen die Hauptnachrichten der öffentlich-rechtlichen und der privaten Fernsehanstalten aufgezeichnet und analysiert, in welchem Maße Informationen über Terroranschläge, Terrorismus und Anti-Terror-Maßnahmen gesendet wurden. Die Ergebnisse sind überraschend und bemerkenswert gleichzeitig: Weder ARD noch ZDF, aber auch nicht RTL und Sat.1, berichten in nennenswerter Weise über die Ursachen des Terrorismus. Im Gegensatz dazu jedoch nehmen Berichte über Anti-Terror-Maßnahmen einen breiten Raum ein. Zwar informieren die Privatsender tendenziell weniger über Terrorismus, wenn sie aber darüber berichten, geschieht dies in erheblich stärkerem Maße dramatisierend als bei den Öffentlich-Rechtlichen. In einem zweiten Forschungsteil wollten die Forscher herausfinden, wie sich diese jeweilige, unterschiedliche Informationsaufnahme auf die Einstellungen der Fernsehzuschauer zu den Sicherheitsempfindungen und –erwartungen auswirken. Der informierte und wache Leser wird es ahnen: Diejenigen, die überwiegend ihre Informationen über Privatsender aufnehmen und die sowieso schon eine größere Tendenz zu Fremdem zeigen, empfinden stärkere Bedrohungen durch den Terrorismus als die Fernsehzuschauer der öffentlich-rechtlichen Anstalten; vor allem wohl deshalb, weil die Privaten mit stärker ausgeprägten Dramatisierungsstrategien arbeiten.: „Die Nutzung des Privatfernsehens als wichtige Informationsquelle, ablehnende Einstellungen gegenüber Muslimen, verstärktes Bedrohungserleben und die Unterstützung massiver Anti-Terror-Maßnahmen stehen in einem sich wechselseitig verstärkenden Zusammenhang“. Das differenziert aufgebaute und ausgreifend untermauerte, mehrjährige Forschungsprojekt liefert eine Vielzahl von Daten, Argumenten und Denkanstößen, die für die Erforschung und Bewältigung der globalen Terrorismusbedrohung eines anmahnt – nicht nur den Blick auf die terroristischen Auswirkungen und deren Abwehr zu richten, sondern auch die Ursachen zu analysieren, die Terrorismus möglich machen [10].

Das Gedächtnis des Westens ist hegemonial

Der Schweizer Soziologe, Politiker und Autor Jean Ziegler ist einer, der sich immer wieder einmischt in die Turbulenzen der Welt und mahnend unbequeme Fragen zum Zustand auf unserem Planeten stellt. Er weist auf die „Zwickmühle zwischen der Doppelzüngigkeit des Westens und dem Hass der südlichen Völker“ hin, indem er aufzeigt, wie der „Wirtschaftskrieg“ bewirkt, dass der für die Entwicklung einer besseren und gerechteren Welt unverzichtbare Dialog der Völker miteinander zu verstummen droht, weil das Podium dafür, die Vereinten Nationen, durch die betonierten (wirtschaftlichen und hegemonialen) Machtpositionen des Westens zusammenbricht und dadurch eine Weltkatastrophe heraufbeschworen wird. Wie kann man den Westen dazu bringen, Verantwortung zu übernehmen und seine eigenen Werte zu respektieren? – so fragt Jean Ziegler eindringlich. Die „sozialen Explosionen“, die sich in vielen Ländern des Südens der Erde wegen der ungerechten Verteilung der lebensnotwendigen Güter anbahnen und ausbrechen, sind Zeichen der Verzweiflung der Menschen in der südlichen Hemisphäre. So beendet Jean Ziegler auch sein Buch nicht mit einem optimistischen Blick, schon gar nicht mit dem der Selbstgerechtigkeit der Satten, sondern als dringende Aufforderung an die Menschheit, mit den Worten Bertrand Russels: „Wir wenden uns als Menschen an Menschen: Denkt an eure Menschlichkeit und vergesst alles andere! Wenn ihr das könnt, ist der Weg frei für eine neue Gesellschaft. Wenn nicht, droht der universelle Tod“. Die haitianische Schriftstellerin Kettly Mars, die bei uns mit ihrem preisgekrönten Roman „Fado“ bekannt geworden ist, schreibt im Feuilleton der Wochenzeitung DIE ZEIT, dass ihr Land, aus Feuer, Eisen und Blut geboren, seit Jahrhunderten eine schwere Bürde hinter sich herschleppe: „Dieses Erdbeben trifft uns bereits auf den Knien, mit der Nase im Dreck, in völliger Hilflosigkeit“. Doch sie hofft, dass die Katastrophe auch eine Chance ist und ihren Landsleuten die Kraft gibt, die Augen zu öffnen und zu erkennen, „wer wir sind“. Alleine werden das die Haitianer nicht schaffen. Sie brauchen dafür die menschliche Solidarität, wie sie Jean Ziegler in seinem Buch anmahnt\. Es wäre gut, wenn möglichst viele Menschen, Politiker und Menschen wie du und ich, die Ursachen von Armut und Hass erkennen würden [11].

Transnationalismus und Transkulturalismus

Durch die sich immer interdependenter und entgrenzender entwickelnde Welt sind globalisierte Vernetzungs- und Verflechtungszusammenhänge auf allen Gebieten des menschlichen Daseins entstanden. Zwar hat es wirtschaftliche, kulturelle und politische Austauschbeziehungen und Einflüsse von einem Kultur- und Lebensraum der Menschen zu anderen Räumen schon immer gegeben, genauso wie Wanderungen; doch in den Zeiten der Globalisierung haben sich Prozesse des Austauschs von Gütern aller Art, wie auch von Verflechtungen, Begegnungen und Einflüssen von Mensch zu Mensch verstärkt. Das Phänomen von zunehmenden internationalen Bewegungen von Gütern, Menschen und Informationen wird in der wissenschaftlichen Forschung als Transnationalismus bezeichnet und als Teilprozess der Globalisierung verortet. Insbesondere benutzt wird der Begriff im Zusammenhang mit ökonomischen Aspekten, die sich durch die Globalisierung ergeben. Dass auch soziale Interaktionen transnational wirken und sich vollziehen, ist eine Entdeckung, die in den Sozialwissenschaften neu diskutiert wird. Der Blickpunkt liegt dabei darauf, dass transnationale Kontakte und Verbindungen auf ökonomischen, politischen, sozialen, religiösen und kulturellen Gebieten, neue, komplexe Identitäten schaffen. Die dabei entstehenden Phänomene und Konflikte zu analysieren, dazu bedarf es einer interdisziplinären Forschung. Der Germanist und Politikwissenschaftler Willi Jasper hat, in Zusammenarbeit mit der ZEIT-Stiftung, der Heinrich-Böll-Stiftung und der Bildung on demand GmbH im Oktober 2008 ein Symposium organisiert, bei dem renommierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Europa, den USA und Israel darüber diskutiert haben, wie die verschiedenen Konzepte und Perspektiven der Transnationalismus-Forschung interdisziplinär zusammen geführt werden können. Kultur-, Literatur-, Sozial- und Sprachwissenschaftler diskutierten, wie eine „gemeinsame wissenschaftliche Orientierung, die auf Modifikation und Transformation gesellschaftlicher Kategorien wie Identität, Raum, Sprache, Literatur und Kultur im Zeitalter der Globalisierung“ zielt, zustande kommen kann [12].

Utopie ist erhoffte Wirklichkeit

Der englische Staatsmann, Diplomat und Humanist, Lordkanzler des englischen Königshauses, Thomas More, hat bereits 1516 mit seiner „Utopia“ ein Land und eine Gesellschaft erdacht, in der es gerecht zugehen sollte, frei von Unterdrückung und in dem Frieden herrschte. Die Mächtigen jener Zeit sahen in diesem Denken denn auch eine Gefahr und lieferten ihn kurzerhand ans Fallbeil. Krieg und Frieden, Abhängigkeit und Freiheit, Fremd- und Selbstbestimmung, das sind von jeher unversöhnliche Paare. „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren“; dieser aufklärerische Leitsatz aus der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948, ist Utopie und Drängen nach Wirklichkeit zugleich. Er ist Programm und Wegweiser für eine bessere, friedliche und gerechte Welt. Utopie in diesem Denken ist dabei nicht Illusion, sondern bestimmt von dem Bewusstsein, dass utopisches Denken die Fesseln des Gewohnten sprengt und den Menschen als vernunftbegabtes Lebewesen erkennt. Der Slogan „Frieden schaffen ohne Waffen“ hat national und international eine neue Strategie des friedlichen Zusammenlebens der Menschen auf der Erde in Gang gebracht. Die Wirklichkeit des Unfriedens auf der Erde, lokal, regional und global, individuell und gesellschaftlich, ist virulent! Deshalb sind und bleiben Friedenswil1e, -sicherung und –forschung wichtige Herausforderung, damit Friedfertigkeit zu einer selbstverständlichen und dauerhaften Konstante humanen Denkens und Handelns wird. Schüler, Freunde und Wegbegleiter des Friedensforschers Reiner Steinweg haben ihm eine Festschrift gewidmet, die im wahrsten Sinne des Wortes zu einer „Ermutigung zur Arbeit an der Utopie“ geworden ist [13].

Aggressionen und Gewalt – und kein Ende?

Die Medien sind voll von Berichten über Aggressions- und Gewaltverhalten von Kindern und Jugendlichen – in der Familie, im Kindergarten, in der Schule und in der Freizeit. Die Reaktionen der Erwachsenen darauf sind unterschiedlich, wenn auch im allgemeinen wenig differenziert. Den Forderungen von Politikern nach härteren Strafen, ja sogar nach „Erziehungscamps“, stehen die mit pädagogischen und erzieherischen Ansprüchen gegenüber, etwa von Verhaltenstraining und Anpassungsübungen. Weil aber aggressive Auffälligkeiten und destruktives Verhalten, vor allem von Kindern und Jugendlichen, das Bild einer „heilen“ Gesellschaft stören, werden – das ist auffallend und immer wieder zu beobachten – bei Fällen von Gewaltausübungen von den für die öffentliche Sicherheit und Ordnung Zuständigen meist „schnelle“ Programme aufgelegt, in der Hoffnung, etwa mit einem auf ein paar Monate begrenztes Streetworkerprojekt das Problem „in den Griff zu bekommen“. Selten wird dabei bedacht, dass „die Störungen in der Integration aggressiver Verhaltensweisen und Persönlichkeitsanteile oftmals Ausdruck einer sehr langen misslungenen Entwicklung sind, die einen langen therapeutischen Prozess auf dem Weg hin zu einer besseren Umgehungsweise mit und Integration der Aggression erfordern und keine schnellen Lösungen anbieten können“. Der hessische Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeut Jochen Raue zeigt anhand von ausgewählten Fallbeispielen analytische Psychotherapien mit Kindern und Jugendlichen auf. Damit will er deutlich machen, „wie sich aggressives Verhalten als Ausdruck einer Aggressionsstörung – genauer: einer Aggressionsentwicklungsstörung – oder als Folge unintegrierter Aggression in psychoanalytischen Behandlungen gestaltet“; gleichzeitig aber bringt er in seinen Fallschilderungen zum Ausdruck, dass eine Therapie nicht nur gelingen, sondern auch scheitern kann [14].

„Die Gewalt ist proteisch“,

also unzuverlässig und wandelbar in den Erscheinungsformen; so jedenfalls sieht es der Philosoph und Medientheoretiker der Karlsruher Staatlichen Hochschule für Gestaltung, Byung-Chul Han. Die Erscheinungsformen der Gewalt verändern sich  „vom Sichtbaren ins Unsichtbare, vom Frontalen ins Virale, vom Brachialen ins Mediale, vom Realen ins Virtuelle, vom Physischen ins Psychische, vom Negativen ins Positive…“. Dabei sieht er das Problem, dass „die martialische Gewalt ( ) derzeit einer anonymisierten, entsubjektivierten, systemischen Gewalt (weicht), die sich als solche verbirgt, weil sie mit der Gesellschaft in eins fällt“. Mit dieser Einschätzung schließt er an den Diskurs an, wie er sich zur Thematik „Rassismus“ mittlerweile artikuliert, dass nämlich Rassismus (Gewalt) nicht von den Rändern, sondern aus der Mitte der Gesellschaft kommt (Wilhelm Heitmeyer). In der „Erklärung von Sevilla“, die anlässlich des Internationalen Jahres des Friedens (1986) von 20 internationalen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern verfasst und von der UNESCO als Bestandteil ihrer Friedensbemühungen in der Welt übernommen wurde, heißt es u.a.: „Gewalt ist kein Naturgesetz … Biologisch gesehen ist die Menschheit nicht zum Krieg verdammt…“ [15]. Die Analyse von Byung-Chul Han über Gewalt, wie sie sich heute darstellt, sichtbar und unsichtbar, ist mehr als eine intellektuelle Fleißarbeit, mehr auch als eine Auseinandersetzung mit den diskursiven, historischen und aktuellen Theorien und Konzepten zur Macht- und Gewaltthematik; es ist ein intelligenter und bemerkenswerter Versuch einer Gesellschaftsanalyse, angesichts der Infragestellung von bisher national und kulturell gültigen Wertevorstellungen in einer globalisierten (Einen?) Welt. Es ist ein Aufruf, gegen die lokal und global deutlichen Zerfallsprozesse des Sozialen, des Gemeinsamen und des Gemeinschaftlichen zu opponieren, um den scheinbar unaufhörlichen und unauflösbaren Prozess der Ermächtigung von egoistischen, antidemokratischen und konsumtiven Gewalttätigkeiten zu befreien und dem menschlichen Leben das zu geben, was es als Humanum ausmacht, nämlich das bloße Leben als heilig zu betrachten [16].

Erkennen, dass uns die jeweils andere Geschichte unterschiedlich gemacht hat

Ich bin anders, weil ich Ich bin! Die von den Vereinten Nationen im Rahmen der Weltdekade für kulturelle Entwicklung (1988 – 1997) etablierte Weltkommission für Kultur und Entwicklung hat in ihrem Bericht „Unsere kreative Vielfalt“ (1995) eine globale Ethik für eine humane Weiterexistenz und –entwicklung der Menschheit gefordert und dafür als Grundlage „das Ethos der universalen Menschenrechte“ benannt: „Alle Menschen werden mit gleichen Rechten geboren und haben Anspruch auf diese Rechte, unabhängig von Klasse, Geschlecht, Rasse, Gemeinschaft oder Generation“. In den in der Menschheitsgeschichte immer wieder aufflammenden Konflikten über Anderssein, Dominanz, Höherwertigkeitsvorstellungen und Unterdrückung, wird genau diese Ethik missachtet und außer Kraft gesetzt. Die Ursachen und Schwierigkeiten von Ausgrenzung und der Definition, wer zu einer Gesellschaft gehören soll und darf und wer nicht, gründen ja immer wieder in den irrigen Vorstellungen, wie sie Ethnozentrismus und Rassismus hervorbringen. Der britische Soziologe Stuart Hall, Mitbegründer der Cultural Studies, hat dies in einem einleuchtenden Satz so formuliert: „Ich kann nicht so tun, als sei ich du. Ich weiß nicht, welche Erfahrungen du gemacht hast. Ich kann mir nicht deinen Kopf zerbrechen…“. In einem Gedicht heißt das: „Lass mich ich sein!“ Würden du und ich, Politiker, Ideologen und „Gesellschaftswisser“ dies stärker bedenken, wären die Positionen zu Integration, Assimilation, Anpassung … erträglicher, als sie sich – auch Hier und Heute – darstellen. Es würde auch die Erkenntnis wachsen können, dass menschliches Zusammenleben, kulturell und interkulturell, immer von Konflikten umgeben ist und damit der „Konflikt“ als ein ganz natürlicher und elementarer Zustand und Prozess eines friedlichen menschlichen Zusammenlebens darstellt, ja „Konflikt als paedagogicum“ anzusehen ist (vgl. dazu: Heinz Dedering, Hg., Konflikt als paedagogicum. Bestandsaufnahme und Weiterentwicklung konfliktorientierter Didaktik, 1981). Kulturbegriff und Kulturpraxis in einer Gesellschaft dürfen nicht als statisch, als einmal von wem auch immer formulierten Grundsätzen verstanden werden (z. B. steht hinter dem neuerdings wieder unreflektiert benutzten Begriff der „Leitkultur“ genau diese statische Auffassung); sie bedürfen der Erkenntnis, dass Kulturen miteinander agieren, sich verändern und weiter entwickeln. „Kultur kann im weitesten Sinn als Bedeutungssystem aufgefasst werden, das sich je nach historisch-spezifischem Kontext über unterschiedliche Praktiken auf allen Ebenen der Lebensweise spezifischer gesellschaftlicher Gruppen ausdrückt„; was bedeutet: Individuelles und gesellschaftliches Denken und Handeln als kulturgeprägte Verhaltensweisen und Orientierungsmuster zu begreifen. Nur so nämlich ist zu verstehen, dass „Kultur … untrennbar mit dem Gesellschaftlichen und Politischen verknüpft“ ist. An der österreichischen Alpen-Adria-Universität in Klagenfurt arbeitet ein interdisziplinäres und fakultativübergreifendes Netzwerk zusammen, um die kulturellen Dimensionen von Konflikten in den Blick zu nehmen, die Bedeutungszusammenhänge zu analysieren und an den Beispielen der Funktionsweisen von Kultur nach humanen Lösungsmöglichkeiten Ausschau zu halten. Das Forschungsnetzwerk „Kultur & Konflikt“ führt Workshops und Konferenzen durch in der Erkenntnis, dass „Wissenschaft nicht nur die Aufgabe (hat), die Welt zu interpretieren, sondern auch, sie zu verändern“. Aus diesen Forschungszusammenhängen ist der Sammelband „Kulturelle Dimensionen von Konflikten entstanden“ [17].

„Der Andere könnte ich selber sein“,

so hat der zweifache Oskar-Preisträger und UNICEF-Botschafter Sir Peter Ustinov (1921 – 2004) in seinen Lebenserinnerungen 2003 für Toleranz und Respekt gegenüber anderen Menschen plädiert. Vorurteile sind Denk- und Verhaltensweisen, die sich in Ablehnung, Antipathie, Diskriminierung, Stigmatisierung, Fremdenfeindlichkeit oder rassistischer Haltung gegenüber Individuen und Gemeinschaften zeigen. Diese von Gordon W. Allport formulierte Begriffsbestimmung ordnet Vorurteile und Stereotypenbildung als negative Einstellungen ein, die es zu erkennen und zu revidieren gilt; zuallererst in der Erziehung und Bildung der Menschen und als Anforderung für eine „vorurteilsbewusste Bildung“ [18]. Der Politikwissenschaftler der Central European University in Budapest und Direktor des Instituts für Konfliktforschung an der Universität Wien, Anton Pelinka, hat, zusammen mit Karin Bischof und Karin Stögner das „Handbook of Prejudies“ (New York 2009) herausgebracht. Pelinka legt nunmehr als Herausgeber die überarbeitete deutsche Ausgabe, unter Mitarbeit von Birgit Haller, vor. Es kommt darauf an zu erkennen, dass „es Vorurteile und Vorurteile gibt“ und die komplexe Typologie von Vorurteilen und Stereotypen zu verdeutlichen; denn „Vorurteile sind das Produkt einer bestehenden Gesellschaft“. Sie werden also weder in die Gene noch in die Wiege gelegt. Damit wird gleichzeitig deutlich, dass es Aufgabe des Aufgabe des zôon politikon, des politischen Lebewesens Mensch (Aristoteles) ist, sich der negativen Ausprägungen von Vorurteilsbildungen bewusst zu sein. Die wissenschaftliche Vorurteilsforschung liefert Hinweise dafür, dass es nicht darauf ankommt, Vorurteile zu negieren oder aus der Welt schaffen zu wollen, sondern „Wege zu finden, mit Vorurteilen umzugehen, sie zu reduzieren und ihre explosiven, ihre mörderischen Potentiale zu kontrollieren“. Um dies wirksam werden zu lassen, bedarf es keiner Rezepte, sondern eines ganzheitlichen Blicks, der sich – interdisziplinär – in der Form eines Handbuchs weitet und objektive Maßstäbe zur Bewertung und zum Umgang mit Vorurteilen liefert [19].

Vertrauen

Der Philologe, Literaturwissenschaftler, Essayist und politische Publizist Jan Philipp Reemtsma ist sich bewusst, dass wir Menschen, Hier und Heute dazu neigen, die Katastrophe zu verrätseln, „um uns unsere Normalität nicht als permanente Irritation zumuten zu müssen“. Weil der Mensch das Ensemble seiner historischen Zustände ist, der vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen, ist in ihm immer auch das Böse wie das Gute gegenwärtig. Mit seiner Studie „Vertrauen und Gewalt“ weist er darauf hin,  dass es  „für Vertrauenswürdigkeit nicht allein von Belang (ist), dass einer tut, was er sagt, sondern auch, dass er bestimmte Dinge nicht sagt und nicht tut“. Dies aber bedürfe nicht nur der Einsicht und eines gesellschaftlichen Perspektivenwechsels, sondern „Vertrauen bedarf der ständigen und stetigen Bekräftigung, sonst schwindet es“. Das bedeutet, dass nicht „blindes Vertrauen“ das lokale und globale gesellschaftliche Miteinander bestimmen dürfe, auch nicht ein „sakrales Vertrauen“, das eigenes Handeln durch Gebote und Gesetze bestimmt, sondern „von Vertrauen sollte erst dann gesprochen werden, wenn es eine soziale Praxis des Misstrauens gibt“. Jan Phillip Reemtsmas Reflexionen über „Vertrauen und Gewalt“ sind intellektuelle und gleichzeitig alltagstaugliche Gedanken „die die Beleuchtung ändern, gleichsam die Scheinwerfer auf ein bekanntes Terrain neu ausrichten und auf diese Weise Areale herausheben wollen, die vorher im Dunkeln lagen...“. Die Zugänge dazu findet der Autor in den antiken Erzählungen wie in den aktuellen gesellschaftlichen Zuständen. Die zahlreichen Analysen über historische, politische, literarische und philosophische Entwicklungen von der Antike bis in unsere Gegenwart weisen auf bekannte Fragestellungen hin und graben neuartige Aspekte aus, die in der Tat als „besondere Konstellation der Moderne“ in den immer wichtiger und für die Menschheit existenzieller werdenden Daseinsbedingungen gelten können [20].

Kritischer Geist

„Unabhängigkeit des Denkens“, die Wunschvorstellung des zôon politikon, zeigt sich im historischen, philosophischen und aktuellen Diskurs eher als Ausnahme denn als Regel. Darauf verweist der Bielefelder Literaturwissenschaftler Karl Heinz Bohrer, wenn er dazu aufruft, selbst zu denken, statt denken zu lassen [21]. Und der Sozialwissenschaftler Rainer Lehmann animiert dazu, die Fähigkeit zu entwickeln, Alternativen zu denken und damit gewissermaßen den scheinbar logischen Politiken und Imponderabilien andere Lösungsansätze entgegen zu setzen. Sein Plädoyer für Ungehorsam stellt sich dadurch nicht als Chaos und Nihilismus dar, sondern als ein Menschenrecht und eine Menschenpflicht; denn „Gehorsam bedarf zwingend einer Begründung, Ungehorsam einer Erklärung, die auch die Notwendigkeit von Tabubrüchen, Regelverletzungen und ... von Gesetzesübertretungen vermittelt“ [22].  Die Spannweite kritischen Denkens reicht ja hin bis zu autonomen, solidarisch-anarchischen Konzepten, wie sie der französische Soziologe Pierre-Joseph Proudhon (1809 – 1865) in den philosophischen Diskurs brachte, als anspruchsvolle und verantwortungsbewusste Herausforderung, eine staatskritische Haltung gegen Hierarchien und undemokratische Strukturen zu entwickeln [23]. Autor
Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Fussnoten

[1] Konrad Lorenz, Das sogenannte Böse. Zur Naturgeschichte der Aggression, Wien 1963 (1970), S. 358

[2] Margarete Mitscherlich, Müssen wir hassen? Über den Konflikt zwischen innerer und äußerer Realität, München 1972, S. 7

[3] Deutsche UNESCO-Kommission, Menschenrechte. Internationale Dokumente, Bonn 1981, S. 48

[4] Hans Joas, Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte, 2011, zur Rezension

[5] Kai Hafez, Heiliger Krieg und Demokratie. Radikalität und politischer Wandel im islamisch-westlichen Vergleich, 2009, zur Rezension

[6] David Eagleman, Inkognito. Die geheimen Eigenleben unseres Gehirns, 2012, zur Rezension

[7] Daniel N. Stern, Ausdrucksformen der Vitalität, 2011, zur Rezension

[8] Helmut Junker, Intersubjektivität und implizites Gedächtnis. Intersubjektivität und implizites Gedächtnis. Reflexionen veränderter therapeutischer Praxis, 2013, zur Rezension,

[9] Claas Christophersen, Kritik der transnationalen Gewalt. Souveränität, Menschenrechte und Demokratie im Übergang zur Weltgesellschaft, 2009, zur Rezension

[10] Wolfgang Frindte / Nicole Haußecker, Hrsg., Inszenierter Terrorismus. Mediale Konstruktionen und individuelle Interpretationen, 2010, zur Rezension

[11] Jean Ziegler, Der Hass auf den Westen. Wie sich die armen Völker gegen den wirtschaftlichen Weltkrieg wehren, 2009, zur Rezension

[12] Willi Jasper, Hrsg., Wieviel Transnationalismus verträgt die Kultur? 2009, zur Rezension

[13] Marcel M. Baumann / Hanne Birckenbach / Volkhard Brandes / Sandra Dieterich / Hans U. Gundermann / Ulrike Suhr, Hrsg., Friedensforschung und Friedenspraxis. Ermutigung zur Arbeit an der Utopie, 2009, zur Rezension

[14] Jochen Raue, Aggressionen verstehen. Psychoanalytische Fallstudien von Kindern und Jugendlichen, 2008, zur Rezension; sowie: Roland Bertet / Gust Keller, Gewaltprävention in der Schule. Wege zu prosozialem Verhalten, 2011, zur Rezension; auch: Wolfgang Melzer / Wilfried Schubarth / Frank Ehninger, Gewaltprävention und Schulentwicklung, 2011, zur Rezension

[15] Die Erklärung von Sevilla, in: Deutsche UNESCO-Kommission, Internationale Verständigung, Menschenrechte und Frieden als Bildungsziel. Drei Texte der UNESCO, 2. Aufl., Bonn 1992, S. 44ff, vgl. auch: Peter Schlotter, Simone Wisotzki, Hrsg., Friedens- und Konfliktforschung, 2011, zur Rezension

[16] Byung-Chul Han, Topologie der Gewalt, 2011, zur Rezension

[17] Wilhelm Berger / Brigitte Hipfl / Kirstin Mertlitsch / Viktoria Ratkovic, Hrsg., Kulturelle Dimensionen von Konflikten, 2010, zur Rezension

[18] Sir Peter Ustinov Institute, Hrsg., Kompetenz im Umgang mit Vorurteilen. Lehrbehelf und Materialien für die Sekundarstufe I, Schwalbach/Ts., 2011, zur Rezension

[19] Anton Pelinka, Hrsg., Vorurteile. Ursprünge, Formen, Bedeutung, 2012, zur Rezension

[20] Jan Philipp Reemtsma, Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne, 2008, zur Rezension; siehe auch: Cornelia Muth / Annette Nauerth, Hrsg., Vertrauen gegen Aggression. Das dialogische Prinzip als Mittel der Gewaltprävention, zur Rezension; sowie: Markus Weingardt, Hrsg., Vertrauen in der Krise. Zugänge verschiedener Wissenschaften, 2011, zur Rezension

[21] Karl Heinz Bohrer, Selbstdenker und Systemdenker. Über agonales Denken, 2011, zur Rezension

[22] Rainer Lehmann, Aufforderung zum Ungehorsam, 2013, zur Rezension

[23] James  C. Scott, Applaus dem Anarchismus. Über Autonomie, Würde, gute Arbeit und Spiel, 2014, zur Rezension