Jahreswechsel = Perspektivenwechsel

27.12.2020

Alle Jahre wieder … gibt es das Zeremoniell, die Lüste, Laster, Lahmheiten, Langweiligkeiten, Lauheiten, Laxheiten, Leerläufe und Lumpereien auf die Liste von Vorsätzen zu notieren, die im Neuen Jahr angegangen werden sollen. Es sind die Paradigmenwechsel, die im individuellen, persönlichen und kollektiven, gesellschaftlichen Leben Veränderungen bewirken sollen – zumindest ahnend, dass die aus leidvollen Erfahrungen und Vorwürfen entstandenen Entschlüssen in der alltäglichen Wirklichkeit nur sehr schwer oder gar nicht realisiert werden könnten.

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Daraus entsteht, was als Entschuldigung meist schnell zur Hand ist: Der Mensch ist ein unvollständiges, schwaches Lebewesen![i] - bis hin zu den Tröstungen: Aus Fehlern kann man lernen[ii]. Gehen wir aber erst einmal nicht davon aus, dass Verhaltensänderungen bei Menschen nur selten und unvollständig gelingen, sondern betrachten den Perspektivenwechsel als eine zutiefst humane und existentielle Herausforderung, kommen wir ganz schnell zu den Notwendigkeiten und Chancen, die den anthrôpos, den Menschen, auszeichnen: Er ist ein durch seine Zweibeinigkeit charakterisiertes, mit Vernunft begabtes Lebewesen, das in der Lage ist, Allgemeinurteile zu bilden, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, in friedlicher Gemeinschaft mit den Mitmenschen zusammen zu leben und für sich und die Menschheit ein gutes, menschenwürdiges Leben anzustreben[iii]. Im anthropologischen, pädagogischen und psychologischen Diskurs wird deshalb Lernen als Ziel und Möglichkeit zur Verhaltensänderung verstanden[iv]. Die von den Vereinten Nationen eingesetzte Weltkommission „Kultur und Entwicklung“ hat 1995 dazu aufgerufen: „Die Menschheit steht vor der Herausforderung umzudenken, sich umzuorientieren und gesellschaftlich umzuorganisieren, kurz: neue Lebensformen zu finden“[v].

Diese philosophische und anthropologische Betrachtung des Menschseins versetzt uns in die Lage, Veränderungs-und Wandlungsprozesse positiv zu betrachten, und damit Kakophonien zurückzuweisen, die den Menschen als ego-, ethnozentristisches, nationalistisches, rassistisches und populistisches Geschöpf verstehen wollen. Damit begeben wir uns auf ein Terrain, das auf den Grundlagen der Conditio Humana beruht, wie sie in der „globalen Ethik“, der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948, zum Ausdruck kommt: „Die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte bildet die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt“[vi].

Denken heißt vergangenheitsbewusst, gegenwartsbestimmt und zukunftsorientiert zu leben

„Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“; diese Kantische Aufforderung will ja bewirken, dass der Mensch lernt, selbst zu denken und das gute Denken von anderen Menschen in sein eigenes Bewusstsein bewertend und integriert einzugliedern[vii], beziehungsweise als „böses Denken“[viii] zu erkennen und auszusondern. „Alles hat seine Zeit“, so hat Erich Fried (1921 – 1988) in einem seiner Gedichte festgestellt. Diese zu einem Sprichwort gewordene Realität gilt es auch zu bedenken, wenn ein Jahreswechsel stattfindet und wieder eine Zeit vergangen ist. Die Fragen, die sich dabei stellen, rühren am intellektuellen und existentiellen Dasein des Menschen. Es sind Fragen wie: „Wer bin ich?“, und: „Wie bin ich geworden, was und wie ich bin?“; auch: „Wer bin ich – und wenn ja wie viele?“[ix]. Es ist die Dialog- und Kommunikationsfähigkeit, die zum Denken gefordert ist[x].  

Ein gutes Leben in einer demokratischen Gesellschaft

In der antiken, aristotelischen Philosophie wird das Streben eines jeden Menschen nach einem guten, gelingenden Leben (eu zên) gleichgesetzt mit glücklicher Fügung und dem nicht relativierbaren Anspruch, dass ein gutes Leben gutes Denken und Handeln bedingt. Das ist eine Anforderung, die intellektuell erworben werden muss; vor allem in der Bildung und Erziehung der Menschen. Es sind die ethischen und moralischen Ansprüche, die Humanität schaffen, das Gute im Menschen fördern und das Böse verhindern sollen. Hinführend dazu sind Fragen, unter welchen Bedingungen und Voraussetzungen ein gutes Leben ermöglicht werden kann. Die Antwort darauf kann nur sein: In einer geordneten, demokratisch und freiheitlich verfassten Ordnung; weil eine  ist es angebracht, nach dem Sinn eines guten Lebens zu fragen. Dieses Unterfangen verbindet sich „wohlgeordnete“ Gesellschaft sich darin auszeichnet, jeden Menschen die Möglichkeit und Chance zu eröffnen, ein gutes Leben zu erreichen. Im anthropologischen, politischen Diskurs ist das die „Herrschaft des Volkes“, also die Demokratie, in der gleichberechtigte politische Rechts- und Ordnungssysteme vorherrschen[xi]. Weil aber auch in der politischen Verfasstheit und Praxis undemokratische Entwicklungen existieren, bedarf es der Bildung, Aufklärung und Förderung einer kritischen Auseinandersetzung darüber, wie lokale und globale soziale Gerechtigkeit hergestellt werden kann[xii].

Zusammenhänge erkennen – Nach Ganzheit streben!

 „Die Welt ist kompliziert“ – diese Aussage liegt auf den Tischen der Welt, seit der homo sapiens sich aufgemacht hat, sich und sie mit seinem Denken und Handeln zu ergründen. Es sind Analysen, Definitionen, Deutungen, Erzählungen, Metapher, Mythen und Visionen, die der Mensch benutzt, um seinen Lebensraum zu begreifen. Während in der Antike die Menschen in ihrem philosophischen Denken und in ihrem Umgang mit der Welt den Kosmos als einen in sich geschlossenen Raum betrachteten und nach der „Weltseele“ suchten, vollzieht sich in der Neuzeit und Aufklärung ein Perspektivenwechsel hin zu Betrachtungen, die Ordnung der Welt dem Willen und der Macht des Menschen zu unterziehen. Die dabei sich vollziehenden Möglichkeiten und Abhängigkeiten freilich bewirken, dass sich ein Bewusstsein entwickelt, den Menschen entweder eine Allmacht oder eine Ohnmacht zuzuschreiben. Deutlich wird dies z. B. 1854, als die Abordnung von weißen Siedlern mit dem Ansinnen an den Häuptling Sealth der Suquamish-Indianer herantraten, Land seines Volkes kaufen zu wollen; worauf dieser völlig unverständlich und konsterniert erwiderte: „Die Erde gehört nicht dem Menschen, der Mensch gehört zur Erde“[xiii].  Der Wissenschaftsjournalist und Autor Wolf Lotter ist Gründungsmitglied des Wirtschaftsmagazins „Brand Eins“, einer Initiative mit dem Anspruch „Wirtschaft anders zu denken“, nämlich weg von der überholten Industrie-, hin zur Wissensgesellschaft; weg von kapitalistischen, ökonomischen Zielen, hin zu ökologischen, nachhaltigen Entwicklungen. Er ist davon überzeugt: „Denken sortiert die Welt!“. Und aus dem innovativen Denken entsteht ein humanes Tun, mit dem der anthrôpos in der Lage ist, seiner Existenz als vernunftbegabtes Lebewesen gerecht zu werden. Er tritt ein für ein „barrierefreies Denken“[xiv]. Mit dem Begriff der „Kontextkompetenz“ verweist er auf die „Gewebe der Welt“, die sich als individuelle, kulturelle und zivilisatorische Aspekte darstellen und sich in den Fähigkeiten „Zuständigkeit“, „Befugnis“, „Wissen“, „Können und Fähigkeit“, „Erfahrung“ und „Einstellung“ zeigen: „Je komplexer die Welt wird, je mehr Wissen in ihr kursiert, desto wichtiger wird es, dieses Wissen in Netzwerken miteinander zu verbinden, zu öffnen und damit neue Zusammenhänge – und Möglichkeiten – zu schaffen“[xv].

Grenzen und Grenzüberschreitungen in der Kommunikation

Es sind die verschiedenen, individuell und (inter-)kulturell modifizierten Formen der sprachlichen und nonverbalen Auseinandersetzung, die das Werden des Menschen bestimmen. Die Fähigkeit zu sprechen und sich kommunikativ mit anderen Menschen auseinanderzusetzen, basiert auf der anthropologischen, abendländischen Definition des Logos, der Sprache, wie es Aristoteles in seiner Metaphysica (λόγος) zum Ausdruck bringt und behauptet, dass nur der Mensch, über Logos verfüge, während Tiere lediglich eine Stimme (phônê) hätten. Grenzen beachten, das kann bedeuten, die von der Gemeinschaft gesetzten Werte- und Normenvorstellungen zu akzeptieren und einzuhalten. Es kann aber auch bewirken, Einstellungen und Verhaltensweisen zu zementieren und damit notwendige Veränderungsprozesse zu verhindern: „Das haben wir noch nie so gemacht!“. Wo stößt Kommunikation an Grenzen? Und wie, wann und wo werden Grenzen von Kommunikation deutlich? Es gibt ja die beunruhigende und irritierende Erfahrung, dass – aus welchen Gründen und Ursachen auch immer – Menschen nicht ansprechbar sind. Dabei geht es zum einen um krankheitsbedingte Symptome, zum anderen um persönlichkeits- und psychologisch bedingte Einstellungen, die sich als Egozentrismus oder menschenfeindliche Einstellungen darstellen: „Ich bin mir selbst genug! Ich brauche keine anderen Menschen!“. Die Auseinandersetzung mit den verschiedenen Formen der Kommunikation stellen sich als differenzierte, interdisziplinäre Herausforderungen dar. Es sind die innovativen, kreativen und aktiven Auffassungen, dass die Welt dort draußen nicht darauf wartet, entdeckt zu werden, sondern dass wir aufgefordert sind, sie Tag für Tag mit kommunikativen Aktivitäten neu zu schaffen. Dadurch ändere sich die Wirklichkeit tagtäglich und mit ihr auch die soziale Ordnung und die Normen und Werte, die unser Denken und Handeln bestimmen. Es ist somit der immer wieder geforderte, gegenwartsbestimmte und zukunftsorientierte Perspektivenwechsel, der schließlich auch zum Leitbild einer humanen, existentiellen und intellektuellen Kommunikation wird. Es sind kommunikationssoziologische, kulturanthropologische, psychologische und mediale Zugänge zu der Auffassung: „Kommunikatives Handeln und Tun ist ein Handeln mit Zeichen … (und) der gesamte Prozess der Verständigung“. Menschenwürdige Kommunikation ist ein „Werkzeug zur Handlungsabstimmung“. Wer kommuniziert, denkt! Damit sind Gedanken- und Meinungsaustausch grundlegende existenz- und identitätsbildende Lebensmittel[xvi].

Fazit

Um Wirklichkeiten erkennen und sie als Wahrheiten oder Fake News identifizieren zu können, braucht es die Schulung und Entwicklung des Denkens! Die Philosophin Rebekka Reinhard nennt diese Fähigkeit: Wach selbst denken! „Das Leben lässt sich nicht per Joystick steuern. Auf seiner Bühne vermischen sich Erfolg und Scheitern, Echt und Fake, Person und Maske, Subjekt und Objekt“. Und es hilft, über den individuellen, innergesellschaftlichen, kulturellen Gartenzaun zu schauen, hin zu anderem, kulturellem Denken und Handeln; „weil auf diesem Planeten nichts isoliert existiert… Sondern alles mit allem verwoben und in seiner Freiheit und Verletzlichkeit auf anderes angewiesen ist“. Beim Wagnis des Lebens ist es hilfreich, den Gewissheiten die Möglichkeiten, den Haltepunkten die Hindernisse, dem Selbstverständlichen das Absurde zuzuordnen: „Das Absurde ist kein Hindernis für ein gutes Leben, sondern sein vielleicht wichtigstes Element“; weil „Sie, ich, wir alle befinden uns in einer kontingenten Welt… Was jetzt so und so ist, könnte auch ganz anders sein. Zufällig. Überzeugend. Bunt“[xvii].

Wir landen bei der ja gar nicht überraschenden Erkenntnis, dass Perspektiven- und Paradigmenwechsel sich nicht nur zum Jahreswechsel vollziehen solle, sondern als permanente, lebenslange Herausforderung begriffen werden muss! Deshalb: Ein gutes Neues Jahr!



[i] Angela Janssen, Verletzbare Subjekte. Grundlagentheoretische Überlegungen zur conditio humana, 2018, www.socialnet.de/rezensionen/25043.php

[ii] Manfred Prisching, Bluff-Menschen. Selbstinszenierungen in der Spätmoderne, 2019, www.socialnet.de/rezensionen/26229.ph

[iii] Otfried Höffe, Hrsg., Aristoteles-Lexikon, Stuttgart 2005, 640 S.

[iv] siehe u.a. auch: Heinrich Roth, Hrsg., Begabung und Lernen, Stuttgart 1968

[v] Deutsche UNESCO-Kommission, Unsere kreative Vielfalt, 2., erweit. Ausgabe, Bonn 1997, S. 18

[vi]  a.a.o., Menschenrechte. Internationale Dokumente, Bonn 1981, S. 48ff

[vii] Rainer Lambrecht, Denken, 2018, www.socialnet.de/rezensionen/24789.php; sowie: Karl Bühler / Achim Eschbach, Hrsg., Sprache und Denken, 2015, www.socialnet.de/rezensionen/18418.php  

[viii] Bettina Stangneth, Böses Denken, 2016, www.socialnet.de/rezensionen/23593.php  

[ix] Richard David Precht, 2007, www.socialnet.de/rezensionen/9462.php 

[x] Christian Schüle, Wir haben die Zeit. Denkanstöße für ein gutes Leben, 2017, www.socialnet.de/rezensionen/22088.php; sowie: Jürgen Stock, Das wäre doch gedacht! Wie wir uns aus der Falle eingefahrener Denkmuster befreien, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/11725.php 

[xi] Max Fuchs, Das gute Leben in einer wohlgeordneten Gesellschaft. Bildung zwischen Kultur und Politik, 2019, www.socialnet.de/rezensionen/26614.php

[xii] David Großmann/Fabian Scheidler, Hg., Der Kampf um soziale Gerechtigkeit, 2019, www.socialnet.de/rezensionen/26334.php

[xiii] MAB, Der Mensch und die Biosphäre, Bonn 1990, S. 10

[xiv] Wolf Lotter, Innovation. Streitschrift für barrierefreies Denken, 2019, www.socialnet.de/rezensionen/25046.php

[xv] ders., Zusammenhänge. Wie wir lernen, die Welt wieder zu verstehen, 2020, www.socialnet.de/rezensionen/27036.php 

[xvi] Jo Reichertz, Hrsg., Grenzen der Kommunikation – Kommunikation an den Grenzen, 2019, www.socialnet.de/rezensionen/26175.php

[xvii] Rebekka Reinzhard, Wach denken. Für einen zeitgemäßen Vernunftgebrauch, 2020, www.socialnet.de/rezensionen/27037.php