„Ja, ich arbeite noch“
„Arbeiten Sie noch?“, fragt mein neuer Frisör.
„Sehe ich schon so alt aus?“, frage ich mich und antworte. „Ja, und ich bin sogar noch erwerbstätig“.
Viele meiner Bekannten sind mit der Pflege ihrer alten Eltern beschäftigt und/ oder mit der Betreuung der Enkelchen, kaum, dass die eigenen Kinder aus dem Haus sind. Diese ganze Care-Arbeit und die ehrenamtlichen Einsätze sind ja auch Arbeit, nur eben ohne Gehalt.
So habe er das gar nicht gemeint, sagt mein Frisör. Er findet nicht, dass ich so rentnerinnenmäßig aussehe, aber viele würden ja schon ab Mitte Fünfzig aus der Erwerbstätigkeit aussteigen. Er selbst hofft auf ein Grundeinkommen. Jeden Monat macht er mit bei der Verlosung, und wenn er gewinnen würde, dann würde er trotzdem weiterarbeiten, und dann könnte er auch Menschen, die kein Geld haben, verwöhnen.
Wir schauen beide in den Spiegel, er knetet meine Haare, und ich frage, ob er was gegen das Grau machen würde.
„Aber nein, schauen Sie, auch ich trage Grau. Sie haben sehr schöne Haare“.
Mein Anliegen ist rasch geklärt, und wir gehen zum Waschbecken. Die Wassertemperatur ist genau richtig, nicht zu heiß und nicht zu kalt. Ich kann mich entspannen und genieße die sanfte Kopfmassage. Kein einziges Tröpfchen Nass fließt oder spritzt in mein Ohr. Das rechne ich ihm hoch an, und das sage ich ihm auch.
Ja, das habe ich mir angewöhnt, immer wenn mir etwas gefällt oder jemand mir guttut, dann sage ich das. Und die Menschen freuen sich. Mein Frisör freut sich auch, und er fragt, was ich arbeite.
„Interessant“, findet er das, was ich da in der sozialpädagogischen Familienhilfe so mache, und er findet auch, dass wir vieles gemeinsam haben. Er arbeitet schon seit siebzehn Jahren in seinem Beruf, und er interessiert sich sehr für die Menschen, denen er da körperlich so nah kommt. So viele Geschichten hört er sich an, ein Buch könnte er schreiben, und ich erzähle ihm von der Fußpflegerin, die tatsächlich ein Buch geschrieben hat, mit den Geschichten, die sie bei ihrer Tätigkeit aufnimmt, und dass auch ich die Geschichten aus meiner Arbeit weitererzähle.
„Oh, wir könnten ein gemeinsames Schreibprojekt machen“, sagt er, „Oder eine Lesung im Friseursalon“, antworte ich.
„Sonst bin ich ja nicht so redselig beim Frisör“, gebe ich zu und dass mein Besuch hier zu meinem Selbstfürsorgeprogramm gehört. Sonst war ich immer bei Cut&Go, und zu Hause musste ich nachschneiden. Jetzt wollte ich mir mal was richtig Gutes gönnen. Ich hatte mir am Morgen gerade die zweite Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung abgeholt. Mein Arzt meinte, ich solle mal richtig runterschalten. Eine Entspannungsgruppe hat er mir empfohlen und angedeutet, dass mein chronisch frühes Aufwachen ein Hinweis auf eine funktionale Depression sein könnte. Selbstfürsorge braucht Zeit, habe ich verstanden, und dass es nicht reicht, wenn man in der Pause zwischendurch mal ein paar Dehnungsübungen macht.
Sein Job sei ideal, schwärmt mein Frisör. Er arbeitet abwechselnd im Stehen, im Sitzen, im Gehen sogar. Die Wege zwischen Waschbecken und Frisierstuhl erfordern es, Schritte zu machen. Außerdem könne er Musik hören, wenn er mag und was er mag, und für sein Augenwohl sorgen die Bilder, die er auswählt, für die Wände, und eins ist sogar an der Decke.
Nach etwa einer Stunde verlasse ich den Salon, fühle mich wohl am Kopf und im Kopf und bin heiter gestimmt. Beim Hinausgehen entdecke ich die Box mit den Flyern und greife zu. Ich habe das Programm des Kiezchores in der Hand. Singen kann er also auch, mein Frisör, und ich habe Lust, ihn wiederzuhören.
Ihre Katja Änderlich*
*Pseudonym der Autorin