Charlotte Zach

Internalisierter Ableismus

von Charlotte Zach
16.04.2022

 Ich habe diese Geschichte schon einmal erzählt:

Als ich klein war, wohnte im Nachbarhaus ein Junge. Er war ein ganzes Stück älter, als ich und er fuhr mit einem großen Dreirad durch die Spielstraße, in die wir gezogen waren. Am Anfang nach dem Umzug beobachtete ich ihn oft, wie er über den Nachbarhof schlenderte, pfiff oder Seifenblasen machte. Sein Gang fiel mir auf, seine Körperhaltung, während er schlenderte.

Nach kurzer Zeit erfuhr ich, dass der Junge „behindert“ war. Behindert. Genau wie ich. Aber er war ganz anders, als ich. Ich konnte nicht laufen, er schon. Dafür wurde er jeden Morgen von einem Fahrunternehmen abgeholt, um in eine andere Schule gebracht zu werden, während ich die Grundschule im Dorf besuchte. Man erzählte mir, er sei geistig behindert. Ich fragte meine Oma: „Oma, welche Behinderung findest du schlimmer, körperlich oder geistig behindert?“

Meine Oma war völlig überfordert von der Frage und ich weiß auch nicht mehr, was sie geantwortet hat. Wahrscheinlich hat ihre Reaktion mir in der Frage nicht wirklich weiter geholfen. Aber wie auch? Ich war vielleicht 4 oder 5 und der Ableismus war vollständig bei mir angekommen. Ich hatte verstanden, dass diese Welt Behinderung schlecht findet und dass Menschen bewertet und in eine Hierarchie sortiert werden. Je weiter oben man steht, desto besser. Ich konnte zumindest keinerlei Überschneidungen zwischen mir und dem Nachbarsjungen finden, außer dass auch ich einige Jahre später so ein Dreirad bekam und wir beide wohl Seifenblasen ziemlich cool fanden. Ich wollte auf jeden Fall nicht mit ihm in einen Topf geschmissen werden, denn ich merkte schnell, dass die Leute ihn nicht für voll nahmen.

Dies war wahrscheinlich der Startpunkt einer Zeit in meinem Leben, in der ich alles dafür tat, mich möglichst von anderen Menschen mit Behinderungen fernzuhalten. Das hatte verschiedene Gründe. Zum einen wollte ich nicht mit ihnen über einen ableistischen Kamm geschoren werden, denn ich erfuhr bald, dass nicht-behinderte Menschen behinderte Menschen oft als homogene Masse ansahen und pauschalisiert Eigenschaften wie „dumm“, „hässlich“, „nicht für voll zu nehmen“ zuschreiben. Das alles wollte ich aber ganz und gar nicht sein und zu diesem Zeitpunkt (Beginn Grundschule) hatte ich auch ehrlich gesagt keinen Zweifel daran, dass keine dieser Zuschreibungen auf mich zutraf. Ich fand mich ganz hübsch, klug und war sehr davon überzeugt, dass ich was mitzuteilen hätte. Das sollte sich noch ändern.

Doch der Selbstschutz hatte noch eine andere Seite. Als Gegenreaktion dazu, dass mich Menschen mit den typischen Bildern von Behinderung konfrontierten und damit mein Selbstbild in Gefahr brachten, distanzierte ich mich nicht nur von anderen Menschen mit Behinderung, ich versuchte mich auch über sie zu erheben, um mein Selbstbild zu schützen. Das betraf vor allem Menschen mit Lernschwierigkeiten und sogenannten kognitiven Behinderungen. Ich hatte große Angst, so gesehen zu werden wie sie und ich stellte fest, dass sie („die anderen Behinderten“) mir an mancher Stelle einen Spiegel vorhielten, der mir zeigt, wieso Menschen ohne Behinderung vielleicht pauschalisiert oder auf den ersten Blick davon ausgingen, ich hätte auch eine „geistige Behinderung“. Es waren Dinge wie ein offen stehender Mund, eine Haltung, Speichelfluss. Menschen mit Lernbehinderungen machten mir Angst. Angst davor, mich selbst zu sehen.

Da ich meine ganze Schulzeit auf Regelschulen gegangen bin, hatte ich nur vereinzelt Kontakt zu anderen Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen. Beim Rollstuhlsport zum Beispiel oder in der Reha. In der Reha habe ich meine distanzierte Haltung zu anderen das erste Mal stärker aufgegeben, allerdings nur gegenüber andern körperbehinderten Jugendlichen. Meine ersten beiden Rehaufenthalte hatten ein bisschen was von Ferienfreizeit. Wir haben Banden gegründet und zwischen den Therapien Blödsinn gemacht. Allerdings handelte es sich hierbei auch um einen geschützten Raum, in der jede*r eine Behinderung hatte und diese als Merkmal nur selten im Fokus stand. Meine Angst, von außen in der Gruppe als homogene Masse von Behinderten mit entsprechenden Attributen abgestempelt zu werden, ergab sich ja gar nicht, außer wenn wir das Reha-Gelände verließen, um zum Beispiel mal zum Supermarkt zu gehen. In diesen Situationen fühlte ich mich in meinen Erwartungen aber voll bestätigt. Wir waren die Komischen aus der Einrichtung, die im Pulk Ausgangstag hatten.

Viele Jahre behielt ich diese Haltung bei. Hinzu kam, dass ich mich gleichzeitig begann, mit meiner Behinderung zu identifizieren und die Erfahrungen, die ich machte als prägend für meinen Charakter anzusehen. Um mich vor ableistischen Annahmen zu meiner Person zu schützen, versuchte ich in meiner Jugend, meine Behinderung zu reframen, ihre Konsequenzen auf meine Entwicklung als positiv umzudeuten „sie ließ mich reifen“- ein Narrativ, dass mir vor allem auch von außen von Personen, die älter waren, als ich, immer wieder angeboten wurde. – dass letztlich aber nur dazu diente, auszugleichen, dass ich an anderer Stelle klar das Gefühl hatte, nicht gleich viel wert zu sein.

Dieses Selbstbild lässt sich auch nur aufrecht erhalten, wenn man sich von anderen behinderten Menschen fern hält und dann die einzige besondere Person mit dieser besonderen Biografie ist. In der eigenen Welt zumindest.

Je mehr ich über die sozialen Medien Personen verfolgt habe, die sich aus der Betroffenenperspektive für Inklusion eingesetzt haben und je mehr ich Behinderung als politische Dimension wahrgenommen habe, desto mehr musste ich auch verstehen, dass all das Teil meiner eigenen verinnerlichten Behindertenfeindlichkeit war. Dass es verschiedene Strategien eines jungen Menschen waren damit umzugehen, dass diese Gesellschaft Menschen wie mir vermittelt, sie seien weniger wert und gleichzeitig Bedingungen schafft, die dafür sorgen, dass wir tatsächlich in vielen Bereichen des Lebens in einer Weise minderwertig erscheinen.

Es war meine Art, mich abzuschirmen vor den Anfeindungen und Erniedrigungen meiner Klassenkamderad*innen, von den Vorwürfen, ich hätte doch nur aus Mitleid gute Noten und mein Nachteilsausgleich bei Klassenarbeiten sei eine unfaire Extrawurst. Von Beschimpfungen wie „Spastificker“, die meinem ersten Freund über den Schulhof nachgerufen wurden. Von den Ratlosigkeit, die mir entgegenschlug, als wir mit der Klasse im Berufsbildungszentrum waren, um eine Zukunftsorientierung zu machen. Vielleicht doch in die Werkstatt?

Die Sonderwelten waren mein Alptraum. In jedem Lebensbereich waren sie das Schreckensgespenst meiner Zukunftsperspektive. Sie bedeuteten Stigma. Endstation. Fremdbestimmung. Und sie waren natürlich eng verknüpft mit dem Gedanken an andere behinderte Menschen. Diese Angst ließ meine Abneigung gegen meine Peers weiter wachsen. Ich wollte nicht Teil des Pulks sein, der Ausgang hatte. Niemals!

Erst in meinen 20ern habe ich begriffen, dass ich mir selbst wehtue, wenn ich nach „unten“ trete, dass ich die Hierarchie und alles, was mit ihr zusammenhängt, mit aufrecht erhalte, solange ich mich in die Reihe mit einfüge und mich freue, nicht die letzte zu sein, anstatt dem System der Wertigkeit an sich zu widersprechen und sich mit allen Menschen mit Behinderung zu solidarisieren.

Was jetzt erstmal recht simpel und nach einem klaren Entschluss klingt, ist in Wirklichkeit ein langwieriger Prozess denn: Ableismus steckt uns tief in den Knochen. Jahrhunderte tief. Man muss den Sozialdarwinismus herausgraben und schauen, was steckt dann noch dahinter. Was ist der Wert eines Menschen? Was definiert mich? Wie möchte und kann ich im sozialen Geflecht stehen, wo ist die Wurzel des Selbstvertrauens, an der man sich festhält? Und was macht man mit der Erkenntnissen der eigenen Verletzlichkeit und Abhängigkeit, die mit der Auseinandersetzung mit der eigenen Behinderung einher gehen, in einer Gesellschaft, die alle Kraft darauf verwendet, die Illusion aufrecht zu erhalten, wir seien unverletzbar, unsterblich und absolut unabhängig?

Die fühlen sich bedroht in ihrem Selbstbild von uns Menschen mit Behinderung.