Ich bin aber nicht dankbar
In der Woche vor Ostern konnten wir wieder einen Familiennachmittag veranstalten. Es gab verschiedene Spiele, einen Basteltisch und Herr K gab eine kleine Zaubershow zum Besten. Er ist Schauspieler, die anderen Eltern kennen ihn nicht, weil die meisten unserer Klient*innen keine Theaterbesucher*innen sind und Herr K sowieso in einer anderen Stadt arbeitet. Sein Gesicht ist also nicht auf den Veranstaltungsplakaten in unseren Straßen zu sehen, und ich kannte ihn auch nicht, bis ich die Erziehungsbeistandschaft für seine 15-jährige Tochter Anna übernahm.
Herr K war im letzten Jahr wegen einer depressiven Episode in der Klinik, dann in der Reha, nun macht er mit seiner Frau eine Paartherapie, und bei den Proben für die nächste Theateraufführung ist er auch wieder dabei.
„Früher sind wir immer zu Oma und Opa gefahren“, sagt Anna. „Also zu den Eltern meines Vaters, aber jetzt will er nicht mehr dahin, und alleine habe ich auch keine Lust. Dreimal hat meine Oma mich angerufen in den letzten Wochen, und versucht mich zu überreden. Dass wir drei, also Mama, Papa und ich, lieber für eine Woche nach Italien fahren wollen, können sie nicht verstehen“.
Ich frage, warum die Kommunikation zu den Familienreisen über Anna und nicht über die Eltern läuft.
„Naja, weil ich ans Telefon gehe und mein Vater nicht“, antwortet Anna.
„Meine Mutter erdrückt mich mit ihren Erwartungen“, bringt Herr K sich nun ein.
„Immer soll ich dankbar sein. Ich bin aber nicht dankbar! Was kann ich denn dafür, dass sie mich unter Schmerzen geboren hat?“
„Sagt sie das wirklich so?, frage ich nach. Denn Herr K ist fast fünfzig (ein später Vater), seine Mutter dürfte so um die siebzig sein.
„Ja!. Unermüdlich. Jedesmal.“
Ich hatte nicht erwartet, dass sich beim Familiennachmittag so ein Gespräch ergibt, nun mischen sich auch zwei andere Mütter in die Diskussion ein. Die eine meint, dass die Kinder ihren Eltern und insbesondere den Müttern grundsätzlich immer dankbar sein sollen, weil Mütter so viele Opfer bringen, die andere meint, dass Kinder ihren Eltern gar nichts schulden. Ich stimme der Zweiten zu und sage, dass kein Kind seine Eltern darum gebeten hat, auf die Welt zu kommen. Das haben allein die Erwachsenen zu verantworten. Die Entscheidung, ein Kind zu bekommen, ist keine selbstlose Handlung sondern ein egoistischer Akt, aber hier scheint es noch um etwas anderes zu gehen. Denn nur wer gerne lebt, kann auch dankbar für das Leben sein. Und wenn ich an Herrn K’s Depression denke, frage ich mich, wie es um seine Lebensfreude bestellt ist. Das möchte ich allerdings nicht in dieser offenen Runde ansprechen, doch Herr K hat keine Scheu. Er spricht frei über seine Erkrankung und erzählt, dass er das Leben schon immer als eine anstrengende Aufgabe empfindet, auf die er auch hätte verzichten können. Ernsthafte Suizidpläne habe er zwar nie gehabt, aber dass er nie geboren worden wäre, das habe er sich schon oft gewünscht. Bis zur Geburt von Anna. Seit es Anna gibt, sei sein Leben erfüllt, und seine größte Freude sei, dass Anna gerne lebt und viele Zukunftspläne habe. Er sei also seiner Tochter dankbar, von ihr würde er niemals einen Dank erwarten.
Meine Kollegin, die Familientherapeutin, hat auch mitgehört. Sie findet, dass sich ein paar Mehrgenerationen-Gespräche bestimmt lohnen würden. Das sagt sie mir zum Glück erst nach der Veranstaltung und unter vier Augen. Mal schauen, wie es weitergeht.
Ihre Katja Änderlich*
*Pseudonym der Autorin