Charlotte Zach

Hilfebedarf ist nicht schwarz und weiß!

Stell dir vor, du bist Bergsteiger. Aber eigentlich nur als Hobby. Immer wenn du dich danach fühlst, nimmst du deine Kletterschuhe, dein Sicherheitsgurt und etwas zu trinken mit und gehst in die Berge um zu klettern. (Ja ich weiß in meiner Beschreibung merkt man, dass ich noch nie klettern war. Was für eine Überraschung!) An manchen Tagen hast du aber keine Kraft, um zu klettern. An manchen Tagen weißt du, dass dein Sicherheitsgurt nicht stabil genug wäre. An manchen Tagen hast du keine Zeit, um den langen Weg in die Berge zu fahren. Und an manchen Tagen hast du einfach keine Lust und möchtest deine verbleibende Zeit lieber für etwas anderes nutzen. Meine Bergsteigung ist meine Behinderung. Und ständig wollen wir andere Menschen erzählen, wann ich zu klettern habe.

Menschen ohne Behinderung stellen sich Behinderung immer so vor: Entweder es geht oder es geht nicht. Das ist aber viel zu vereinfacht. Die Frage, ob ich etwas alleine kann, ist keine schwarz-weiß Frage. Natürlich gibt es Dinge, die ich fast immer hinbekomme. Und natürlich gibt es auch Dinge, die ich nie alleine kann. Aber dazwischen gibt es noch ganz viele Dinge, die ich manchmal unter bestimmten Bedingungen bis zu einem bestimmten Perfektionsgrad alleine kann und unter anderen Bedingungen eben nicht. Manchmal habe ich nicht genug Zeit. Manchmal habe ich nicht genug Kraft. Manchmal kann ich ganz persönlich einschätzen, dass es zu riskant wäre, eine bestimmte Sache heute alleine zu machen. Manchmal möchte ich meine Ressourcen einfach für etwas anderes nutzen, das mir wichtiger ist und ich habe einfach keine Lust so viel meiner Kraft und Zeit eine eigentlich nebensächliche Sachen zu stecken. Menschen ohne Behinderung stellen sich auch oft vor, das wichtigste für Menschen mit Behinderung sei, die Sachen alleine hinzubekommen. Das sei die größte Erfüllung. Wie oft wurde mir schon irgendein leidlich hilfreiches Hilfsmittel angeboten oder geradezu aufgedrängt, damit ich dann eine Alltagstätigkeit wie z.B. ein Brot schmieren in der fünffachen Zeit leidlich hinbekommen könnte. Die Menschen konnten nicht verstehen, dass ich daran einfach kein Interesse habe. Es ist nicht praktikabel für meinen Alltag, wenn ich anderthalb Stunden brauche, um mir Frühstück zu machen und danach die Küche aussieht, wie Sau. Das kann am seltenen Tagen Spaß machen und befriedigend sein oder ein lustiges Experiment. An den meisten anderen ist es aber einfach nur nervig und unpraktisch.

Ihr fragt euch jetzt vielleicht: warum erzähle ich euch das so lang und breit? - weil es eine lange Tradition darin gibt, dass andere Menschen ohne Behinderung entscheiden können wollen, was ein Mensch mit Behinderung kann und was nicht. Diese Tradition ist sogar institutionalisiert in jeder Bedarfsermittlung der Pflegeversicherung oder der Eingliederungshilfe. Das Problem dabei ist, dass diese Methoden der Bedarfsermittlung in den meisten Fällen eben nur schwarz und weiß kennen und im Zweifelsfall wird dann stets der Bedarf unterschätzt. Es macht auch einfach keinen Spaß, während einer Bedarfsermittlung haarklein zu erzählen, was man alles nicht kann und dabei immer von der Worst Case Situation auszugehen. Das tut total weh. Nicht gut für das Ego, zu erzählen, welche Routen man alle nicht erklimmt! Aber genau das rate ich meinen KlientInnen immer.

Es ist aber nicht nur die Gefahr der Unterversorgung, die mit dem schwarz-weiß denken über die Fähigkeiten behinderter Menschen einhergeht. Es ist auch eine unglaublich Anmaßung und Grenzüberschreitung, die sich wundervoll in all die anderen Grenzüberschreitungen einreiht, die Menschen mit Behinderung erleben. Ist es von einer fremden Person zu entscheiden, an welchen Tagen ich die Kraft habe eine Bergsteigung zu machen. Wie anmaßend ist es von ihr, entscheiden zu wollen wann ich bereit für welches Risiko bin. Du fragst dich jetzt vielleicht „was für ein Risiko?" - Ich bin neulich alleine mit der Bahn von Hannover nach Berlin gefahren...im Regionalverkehr mit dreimal umsteigen. Neben dem Risiko, irgendwo stecken zu bleiben, weil irgendwelche Fahrstühle nicht funktionieren, hatte ich vor allem große Sorge, auf welche Toiletten ich alleine komme. Da sind manchmal wenige Zentimeter entscheidend, so dass ich dazu übergegangen bin, auf manchen Toiletten einfach die Klobrille hochzuklappen und mich dran drauf zu setzen, einfach weil ich dann drauf gekommen bin. Das kann niemand beurteilen, außer mir. Solche Risiken meine ich. Es gibt Tage, an denen habe ich die Kraft, bis an meine Grenze zu gehen und was Neues zu wagen oder auszuprobieren. Ich weiß aber, dass viele andere Menschen mit Behinderung sich das nicht trauen. Nicht nur weil sie Angst vor ihrem Grenzen haben, so wie jeder Mensch. Sondern auch, weil sie Angst haben zu selbstständig zu sein bzw. als zu selbstständig wahrgenommen zu werden. Denn dann wird Ihnen wichtige Unterstützung weggenommen, weil sie sie einmal vielleicht nicht gebraucht haben. Und wenn sie dann mal einen Tag mit weniger Kraft, weniger Zeit, weniger Abenteuerlust, weniger Geduld oder weniger irgendwas angreift haben, dann sitzen sie auf dem Trockenen und haben ein richtiges Problem. So behindert unser Fürsorgesystem, dass Menschen mit Assistenzbedarf ihr Potenzial voll ausschöpfen. Sie haben an zu vielen Stellen in ihrem Leben bereits die Erfahrung gemacht, sich für offensichtliche Bedarfe rechtfertigen müssen, dass ihnen Schuld eingeredet wird und dass für sie entschieden wird, wo ihre Belastungsgrenze liegt. Deswegen versuchen sie, der Gegenseite keinen Anhaltspunkt für weniger Unterstützungsbedarf zu bieten. Das geht so weit, dass Menschen nicht reisen oder Hobbys nachgehen, weil sie Angst haben dann zu vital zu wirken.

Wir müssen anfangen, Behinderung als etwas dynamisches individuelles, Tagesform abhängiges zu betrachten. Und wir müssen verstehen, dass Selbstbestimmung bei Menschen mit Behinderung vor allem auch bedeutet, dass der Mensch mit Behinderung selbst entscheiden kann wie er seine Ressourcen einteilen möchte und was ihn an diesem Tag in diesem Moment wichtig ist: seine Eigenständigkeit oder ein anderer, von ihm frei gewählter Fokus. Denn das bedeutet Lebensqualität .