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„Hätte – Hätte – Fahrradkette“

Meine Kollegin soll eine Einschätzung zur Kindeswohlgefährdung machen. Sie hatte schon die obligatorische Beratung mit unserer Kinderschutzfachkraft, hat Fragebögen ausgefüllt und weil sie immer noch nicht ruhig schlafen kann, bringt sie den Fall in die Supervision ein.

Es geht um ein Geschwisterpaar, Leon ist sieben Jahre alt und Svenja ist neun. Die beiden wohnen mit ihren Eltern in einer Gegend, in der wir nicht oft unterwegs sind. In den Schaufenstern der Geschäfte ist hochwertiges und hochpreisiges ausgestellt, die Spielplätze und Parks sind sauber und gepflegt, da liegen keine Kippen und schon gar keine Spritzen herum und die Hunde werden grundsätzlich an der Leine geführt.

Seit Sommer letzten Jahres ist Sabine bei Familie C eingesetzt. Herr C ist Anwalt und Frau C hat früher auch in einer Kanzlei gearbeitet, dann wurde sie krank und jetzt hat sie eine Rente beantragt, erzählt Sabine. Dabei ist Frau C erst 43 Jahre alt.

Die Familienhilfe wurde eingesetzt, als Frau C in der Klinik aufgenommen wurde. Es war mit einer mehrmonatigen Behandlungsdauer zu rechnen und die Sozialarbeiterin der Klinik hatte gefragt, wer sich in dieser Zeit um Leon und Svenja kümmert. Wegen Corona war die Alltagstruktur der Kinder zusammengebrochen, die beiden konnten nicht mehr zum Tennis und auch nicht zur Musikschule. Gewünscht war eine kompensatorische – keine sozialpädagogische - Unterstützung. Sabine ist staatlich anerkannte Familienpflegerin und war froh, dass sie zur Abwechslung mal kein Haushaltsorganisationstraining machen soll und in Zeiten der Pandemie war es ihr lieber in einem großen Haus arbeiten zu können als in einer engen Wohnung. Ich ärgere mich trotzdem – und zwar weil der Unterschied zwischen kompensatorischer und sozialpädagogischer Hilfe oft nicht deutlich gemacht wird. Ich finde die SPFH sollte dringend an ihrem Profil arbeiten, aber darum geht es hier nicht. Oder doch?  

Wenn es eine Hilfeplankonferenz gegeben hätte und wenn der Unterstützungsbedarf der Familie nach der Entlassung von Frau C genau überprüft worden wäre … und wenn auch die Schule befragt worden wäre … und wenn jemand mit den Kindern über die Krankheit der Mutter gesprochen hätte …  und wenn .. . Der Supervisor bremst mich aus. Mit „Hätte - Hätte – Fahrradkette“ kommen wir hier nicht weiter.

Er will, dass Sabine gut aus der Supervision heraus geht. Sie quält sich mit Gewissensbissen, weil sie nichts gemerkt hat. Aber Leon und Svenja haben ihr nichts erzählt, sie wollten die unbeschwerte Spielzeit mit Sabine genießen und das war ja auch ihr Auftrag. Sabine wusste nichts von den vielen Fehlzeiten, weil die Kinder schon lange vor Corona oft zuhause blieben wenn es der Mama nicht gut ging. Die Schule sah keinen Anlass für eine Schulversäumnisanzeige, weil es ja immer ein Entschuldigungsschreiben gab. Die Schule hatte Verständnis, wenn der Vater nicht zum Elternabend kam, weil er ja eine kranke Frau zuhause hatte. Dass Svenja und Leon kurz vor den Klassenreisen wegen akuter Erkrankung wieder abgemeldet worden sind war schade - aber was soll man da tun? Die Kinder waren angepasst und freundlich, und als sie von Sabine erzählten, war die Schule komplett beruhigt. Bis vor zwei Wochen. Da hat Leon auf dem Schulhof Tabletten verkauft - und zwar die Medikamente seiner Mutter. Der neue Mathelehrer hat ihn erwischt und ein langes Gespräch mit Leon geführt und auch Svenja dazu geholt. Danach hat er die beiden nach Hause begleitet. In der Zwischenzeit hat die Schulleitung die Polizei angerufen und das Jugendamt und auch Frau C und dabei richtig Dampf abgelassen und mit einer Kindeswohlgefährdungsanzeige gedroht. Mit dem jungen Mathelehrer war das so nicht abgesprochen, Herr Böhme wollte eigentlich auch mit den Eltern reden. Aber die haben ihn nicht ins Haus gelassen. Sabines Termine wurden auch abgesagt. Und in die Schule gehen die Kinder auch wieder nicht. Das Jugendamt möchte von Sabine eine schriftliche Einschätzung zur Kindeswohlgefährdung und ich ärgere mich, weil ich denke, das hätte alles anders laufen können.

„Hätte- hätte“ nutzt jetzt nichts? - Ich finde doch! - Eine Fehlerauswertung kann nicht schaden. Und wenn es regelhaft interdisziplinäre Fortbildungen zum Kinderschutzverfahren und zur Situation von Kindern kranker Eltern – egal ob körperliche oder psychische Krankheiten  – gäbe und wenn Kinder immer in Entscheidungsprozesse einbezogen werden würden und wenn die Kinderrechte im Grundgesetz festgeschrieben wären und warum triggert mich das alles so?  - Ich werde mir ein Einzelcoaching gönnen.   

 

Ihre Katja Änderlich