Haben wir 40 Jahre verloren?

von Dr. Jos Schnurer
19.04.2012 | Schwerpunkte Kommentare (0)

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Es sind in diesem Jahr 40 Jahre her, dass ein Team von jungen Wissenschaftlern des US-amerikanischen Massachusetts Institute of Technology (MIT) unter der Leitung von Dennis L. Meadows eine Studie mit dem Titel „Dynamics of grouwth in a finite world“ verfassten. Mit ihr zeigten sie einen Trend auf, wie sich die Welt entwickelt, wenn die Bevölkerung weiterhin so wächst, die Rohstoffreserven ausgebeutet werden und die Nahrungsmittel- und Industrieproduktion steigen. Die umfang- und datenreiche wissenschaftliche Studie dampften sie gewissermaßen zu einem rund 170 Seiten umfassenden, populären (blauen) Buch mit dem Originaltitel „The Limits to Growth“ ein. Die zentrale Botschaft lautet: „Weil die Rohstoffvorräte zur Neige gehen, muss die industrielle Produktion schrumpfen; und weil Ackerland und Wasservorräte knapp werden, müssen die Menschen Hunger leiden. Wenn die Entwicklung so anhält, werden die Wachstumsgrenzen im Laufe der nächsten hundert Jahre erreicht“[1]

Der vom italienischen Industriellen Aurelio Peccei 1968 gegründete Club of Rome, als informeller Zusammenschluss von Wissenschaftlern, Industriellen, Wirtschaftlern, Politikern und Humanisten, hat die Studie 1970 in Auftrag gegeben, mit dem Ziel, ein Weltmodell zu erarbeiten, das es ermöglicht, die Entwicklung der Menschheit bis zum Jahr 2100 hochzurechnen. Das Buch „Die Grenzen des Wachstums“, das von Dennis L. Meadows, seiner (ersten) Frau Donella H. Meadows[2] und Jorgen Randers herausgegeben wurde, hat innerhalb kürzester Zeit weltweit Aufmerksamkeit gefunden; es wurde in 29 Sprachen übersetzt und hat der in der Zeit in Europa aufkeimenden Umweltbewegung einen riesigen Anschub gegeben. Die Forscher haben in ihrer Studie 99 miteinander verbundene Regelkreise zwischen den Faktoren Bevölkerungswachstum, Nahrungsmittelproduktion, Industrialisierung, Umweltverschmutzung und Ausbeutung von Rohstoffen erstellt. Damit kommen sie zu ihren Prognosen, dass aufgrund der zunehmenden Rohstofferschöpfung „die industrielle Basis zusammen(bricht) und ( )auch den Dienstleistungssektor und das landwirtschaftliche System mit sich (reißt)“.

In einem Interview, das Fritz Vorholz am 31. 12. 2003 mit Dennis L. Meadows führte, fällt die 30jährige Bilanz nach der Veröffentlichung der Prognosen nicht allzu optimistisch aus; „Es gibt überhaupt keinen Grund zur Entwarnung“; und das World Energy Council, der weltweiten Organisation der Interessenvertretung der Energiemanager, „hält es nicht mehr für ausgeschlossen, dass wir die Erde unbewohnbar machen“[3]. Denn das throughput growth“, das „Durchflusswachstum“ und die Mentalität des „business as usual“, wie dies auch vom Brundtland-Bericht[4] herrscht in den Industrieländern, wie in den Schwellen- und Entwicklungsländern weiterhin vor.

1974 erschien der zweite Bericht an den Club of Rome zur Weltlage[5], mit der deutlichen Mahnung: „Es ist höchst dringlich geworden, die Augen nicht länger vor möglichen Katastrophen zu verschließen, sondern diesen entschlossen entgegenzutreten und nach Alternativen für die zukünftige Entwicklung (der Menschheit) zu suchen“. Der Vorschlag der Forscher, vom „undifferenzierten zum organischen Wachstum“ zu kommen, lässt sich als ein Kompromiss zu den Forderungen nach „Null-Wachstum“ verstehen. Die ja nicht neue Erkenntnis, dass die Bereiche Wirtschaft, Politik, Kultur und Technik lokal und global nicht mehr (weiterhin) als selbständige, voneinander unabhängige Kräfte wirken dürften, sondern aufeinander abgestimmt werden müssten, nimmt Eduard Pestel in seinem weiteren Bericht an den Club of Rome auf[6].

Im Jahr 1980 erhielten zwei weitere Berichte eine weltweite Aufmerksamkeit: Die vom US-amerikanischen Council on Environmental Quality vorgelegte, gewichtige Studie „The Global 2000 Report for the President“[7], mit der die Verfasser prognostizieren: „Wenn sich die gegenwärtigen Entwicklungstrends fortsetzen, wird die Welt im Jahr 2000 noch übervölkerter, verschmutzter, ökologisch noch weniger stabil und für Störungen anfälliger sein als die Welt, in der wir heute leben“ (eine Prognose, deren Bestätigung wir direkt in Augenschein nehmen können!). Und der Bericht der Unabhängigen Kommission für Internationale Entwicklungsfragen, der so genannten „Nord-Süd-Kommission“ unter der Leitung von Willy Brandt[8]. Der Bericht nimmt insbesondere die gemeinsame Verantwortung für eine friedliche, gerechte Welt in den Blick, und formuliert die gemeinsamen Interessen, wie auch die ungerechte Verteilung der Güter auf der Erde.

Zehn Jahre später,1990, antwortet darauf die Süd-Kommission unter der Leitung des tansanischen Präsidenten Julius K. Nyerere[9]. Mit der Feststellung, dass zum Zeitpunkt des Berichtsdatums drei Viertel der Weltbevölkerung in den Entwicklungsländern leben, die mehr als zwei Drittel der Erdoberfläche einnehmen, stellen die Autoren der Studie aus Ägypten, Brasilien, China, Indien, Senegal, West-Samoa... fest, dass in ihren Ländern „die Vorzüge des Wohlstandes und des Fortschritts weitgehend vorbeigegangen sind (und) sich in einer Randlage zu den entwickelten Ländern des Nordens (befinden)“. Sie plädieren für eine Veränderung „von der Abhängigkeit zur Interdependenz“ und postulieren: „Die Verantwortung für die Entwicklung des Südens liegt beim Süden“.

1992 hat die Konferenz der Vereinten Nationen für Umwelt und Entwicklung festgestellt, dass „die Menschheit an einem entscheidenden Punkt ihrer Geschichte (steht). Wir erleben eine zunehmende Ungleichheit zwischen Völkern und innerhalb von Völkern, eine immer größere Armut, immer mehr Hunger, Krankheit und Analphabetentum, sowie eine fortschreitende Schädigung der Ökosysteme, von denen unser Wohlergehen abhängt“, und sie fordert in der Agenda 21 eine „globale Partnerschaft, die auf eine nachhaltige Entwicklung ausgerichtet ist“[10].

In dramatischer Weise formuliert der Bericht der Weltkommission „Kultur und Entwicklung“ 1995: „Die Menschheit steht vor der Herausforderung umzudenken, sich umzuorientieren und gesellschaftlich umzuorganisieren, kurz: neue Lebensformen zu finden“[11].

Die jährlichen Berichte des New Yorker World Watch Institute bringen eine Katastrophenwarnung nach der anderen: Im Bericht zur Lage der Welt 2009 wird deutlich, dass durch egoistische und kapitalistische Wachstumspolitik die bedrohliche Erwärmung der Erdatmosphäre voranschreitet und  sich die globale Durchschnittstemperatur bis Ende des Jahrhunderts um rund 6 Grad Celsius erhöht, wenn wir so weiter leben wie bisher[12]., dass nachhaltiges Denken und Handeln bei den Individuen beginnen müsse, indem sie ihre Lebensgewohnheiten und –ansprüche ändern, insbesondere die Wohlhabenden in der Welt[13]; und im Bericht 2011 die Bestandsaufnahme zur Lage der Welt ein äußerst deprimierendes Bild des Hungers in der Welt bringt[14].

Es sind nicht zuletzt die konträr verlaufenden Entwicklungen, dass sich auf der einen Seite Demokratisierungs- und Freiheitsbestrebungen überall in der Welt regen, andererseits sich gleichzeitig nationale Schließungsprozesse[15] vollziehen, die Egoismen und Macht hervorrufen und zu unkalkulierbaren Konflikten – und letztlich auch zur Behinderung zum Vollzug des notwendigen ökonomischen, ökologischen und humanen Perspektivenwechsels führen. Alle diese Analysen, Bestandsaufnahmen und Prognosen zeigen ziemlich eindeutig, dass auch die globalen Entwicklungsziele, wie sie mit den Millenniumsbeschlüssen der Vereinten Nationen im Jahr 2000 getroffen wurden, nämlich bis 2015 extreme Armut und Hunger in der Welt zu halbieren, nicht erreicht werden[16].Die US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftlerin Elinor Ostrom hat 2009 für ihre ökonomischen Erkenntnisse, dass „Mehr wird, wenn wir teilen“[17] und wir ein deutlicheres Augenmerk auf die Gemeingüter richten müssen, den Nobelpreis erhalten. Insbesondere in den angelsächsischen Ländern hat sich eine Forschungsrichtung etabliert, die der Frage nachgeht, was Menschen zufrieden macht, die Glücksforschung. Die bisher vorliegenden Ergebnisse sind ziemlich eindeutig. Obwohl in den Industrie- und Schwellenländern der materielle Wohlstand von Jahr zu Jahr steigt, sind die Menschen nicht zufriedener, sondern sie vermissen, bei zunehmender Wohlhabenheit Werte, die nicht cash erworben werden können: Sicherheit, Beständigkeit, Freiheit, intakte Umwelt. Die Ökonomen, Ökologen, Soziologen und Politikwissenschaftler haben deshalb einen Index entwickelt, der nicht mehr in erster Linie die Produktion und das Wirtschaftswachstum misst, sondern Zufriedenheit. In Großbritannien z. B. arbeitet die New Economics Foundation mit dem Happy Planet Index; und die internationale Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung , OECD, hat ein Messinstrument erstellt, mit dem die Unterschiede zwischen Umweltzerstörung und Lebensqualität ermittelt werden[18]. Der Deutsche Bundestag hat 2011 eine Enquête-Kommission eingerichtet, die Wachstum, Wohlstand und Lebensqualität in Deutschland analysieren und dabei die bisherige Auffassung korrigieren soll, dass mehr ökonomisches Wachstum etwas mit guter Entwicklung zu tun hat.

Wie ein „gutes Leben“ der Menschen überall in der Welt aussehen könnte, wird in der Philosophie[19] in gleicher Weise thematisiert, wie in der Gesellschafts[20]-, Kapitalismus[21]- und Systemkritik[22]. Es geht darum, den sich überall in der Welt entstehenden „Täusch-Gesellschaften“ und den herrschenden Gier-, Betrugs- und Egoismusmentalitäten[23] einen humanen Widerstand entgegen zu setzen, mit Ächtung der Fehlentwicklungen und der Veränderung des homo oeconomicus hin zum homo empathicus[24].

Beim Mix aus Euphorie, Optimismus und Pessimismus, der unser privates und öffentliches Bewusstsein kennzeichnet und sich in Stimmungen ausdrückt, wird den Deutschen oft nachgesagt, sie seien Miesepeter und Kritikaster und ließen die Portion Zuversicht vermissen, die notwendig sei, damit die Menschheit überleben und sich weiter entwickeln könne. Die „Leichtigkeit des Seins“ wird nicht selten überdeckt durch die (gefühlte und wirkliche) „Bürde der Alltagslast“. Es ist die Last und die Lust, die uns Menschen hin- und her reißt, die uns, wie Aristoteles in seiner Nikomachischen Ethik zum Ausdruck gebracht hat, „sich freut, woran man soll, und hasst, was man soll“. Philosophen, Anthropologen und Zukunftsforscher haben sich immer wieder an diesem Popanz gerieben und haben dafür oder dagegen ihre eigenen Fragen nach dem Sinn des Lebens der Menschen gestellt. Die vielfältigen und kontroversen Antworten jedoch bündeln eine Gewissheit, die in der Alltagsbewältigung oft genug zu kurz kommt, um pessimistische oder gar fatalistische Gedanken zu überdecken: Der Mensch ist ein wandelbares Wesen! Er ist in der Lage und fähig, sich zu (ver)ändern, körperlich, geistig und sozial[25].

Das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung hat soeben eine neue Studie veröffentlicht, in der das Autorenteam Klaus Töpfer und Reiner Klingholz mit den Entwicklungswerten – Bevölkerungswachstum, Energieverbrauch, Klimawandel – „Das Trilemma des Wachstums“ verdeutlichen und aufzeigen, wie sich die drei großen Wachstumsprobleme – „Die Menschheit hat ihre Zahl in den letzten 44 Jahren verdoppelt. Ihr Energieverbrauch hat sich im gleichen Zeitraum verdreifacht. Und auch der Ausstoß  an Treibhausgasen ist schneller gewachsen als die Zahl der Menschen“ – auf die gegenwärtigen und zukünftigen Lebensbedingungen der Menschen in der (Einen?) Welt auswirken, und, falls nicht schnellstens und radikal dagegen gesteuert wird, einen wachsenden Teils der Menschheit bedrohen[26].

Autor
Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Fussnoten

[1] Ute Watermann, Ein Szenario zum Erschrecken, in: DIE ZEIT, 5. 1. 2000

[2] siehe auch: Donella Meadows, Wenn die Welt ein kleines Dorf mit nur 1001 Einwohnern wäre...:, 1992, sowie: Josef Nußbaumer, Andreas Exenberger, Hrsg.. Unser kleines Dorf. Eine Welt mit 100 Menschen, Kufstein 2010, in: socialnet Rezensionen, Rezension

[3] „Wir haben 30 Jahre verloren. Mehr Schulen, weniger Autos...“, DIE ZEIT, Nr. 2 vom 31. 12. 2003, S. 20

[4] World Commission on Environment and Development, Our Common Future, Oxford 1987; Volker Hauff, Unsere Gemeinsame Zukunft. Der Brundtland-Bericht der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung, Greven 1987, 421 S.

[5] Mihailo Mesarović / Eduard Pestel, Menschheit am Wendepunkt, Stuttgart 1974, 184 S.

[6] Eduard Pestel, Jenseits der Grenzen des Wachstums, Stuttgart 1988, 208 S.

[7] Global 2000. Der Bericht an den Präsidenten, Zweitausendeins, Frankfurt/M., 1980, 1.437 S.

[8] Interdependent Commission on International Development Issues, Hrsg., North-South: A Programme for Survival / Das Überleben sichern. Gemeinsame Interessen der Industrie- und Entwicklungsländer. Bericht der Nord-Süd-Kommission, mit einer Einleitung des Vorsitzenden Willy Brandt, Köln 1980, 381 S.

[9] Stiftung Entwicklung und Frieden (SEF), Hrsg., Die Herausforderung des Südens. Der Bericht der Südkommission. Über die Eigenverantwortung der Dritten Welt für dauerhafte Entwicklung, Bonn – Bad Godesberg 1991, 430 S.

[10] Bundesumweltministerium, Agenda 21. Konferenz der Vereinten Nationen für Umwelt und Entwicklung im Juni 1992 in Rio de Janeiro, Bonn, o. J., 289 S.

[11] Deutsche UNESCO-Kommission, Unsere kreative Vielfalt. Bericht der Weltkommission „Kultur und Entwicklung“ (Kurzfassung), 2., erweit. Ausgabe, Bonn 1997, S. 18

[12] Worldwatch Institute, Hrsg., Zur Lage der Welt 2009. Ein Planet vor der Überhitzung, Münster 2009, 318 S.

[13] Worldwatch Institute, Hrsg., Zur Lage der Welt 2010. Einfach besser leben. Nachhaltigkeit als neuer Lebensstil, München 2010, 316 S.

[14] Worldwatch Institute, Hrsg. Zur Lage der Welt 2011. Hunger im Überfluß : Neue Strategien im Kampf gegen Unterernährung und Armut, München 2011, 302 S.

[15] Philip Thelen, Vergleich in der Weltgesellschaft. Zur Funktion nationaler Grenzen und die Globalisierung von Wissenschaft und Politik, Bielefeld 2011, 376 S., Rezension 

[16] de.wikipedia.oef/wiki/Millenniumsziele/

[17] Elinor Ostrom, Was mehr wird, wenn wir teilen. Vom gesellschaftlichen Wert der Gemeingüter, München 2011, 128 S., Rezension

[18] Petra Pinzler, Immer mehr ist nicht genug! Vom Wachstumswahn zum Bruttosozialglück, Berlin 2011, 320 S.

[19] Wolfgang Kersting, Macht und Moral. Studien zur praktischen Philosophie in der Neuzeit, 2010, Rezension

[20] Manfred Geier, Aufklärung. Das europäische Projekt, 2012, Rezension

[21] Tomáš Sedláček, Die Ökonomie von Gut und Böse, München 2012, Rezension

[22] Eberhard Straub, Zur Tyrannei der Werte, 2010, Rezension

[23] Tilmann Moser, Geld, Gier & Betrug. Wie unser Vertrauen missbraucht wird – Betrachtungen eines Psychoanalytikers, 2012, Rezension

[24] Jeremy Rifkin, Die empathische Zivilisation. Wege zu einem globalen Bewusstsein, 2010, Rezension

[25] Matthias Horx, Das Buch des Wandels. Wie Menschen Zukunft gestalten, 2009, Rezension 

[26] www.berlin-institut.org