Globale Gesundheit und Corona

von Dr. Jos Schnurer
26.11.2020

Ist globale Gesundheit eine Illusion oder Vision?

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Nach der Definition der von den Vereinten Nationen 1948 gegründeten „World Health Organisation“ (WHO) ist Gesundheit ein „Zustand des völligen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur das Freisein von Krankheiten oder Gebrechen“. Ziel der WHO ist es, „einen möglichst guten Gesundheitszustand für alle Menschen  ohne Unterschied der Rasse, der Religion, der politischen Anschauung und der wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Stellung zu erreichen“[i]. „Global Health“ als anzustrebende, humane und globale Herausforderung, gehört ja wieder zu den Menschheitszielen, wie sie von den Vereinten Nationen als „Seventeen Goals“ propagiert werden:

Keine Armut / Kein Hunger / Gesundheit und Wohlergehen / Hochwertige Bildung / Geschlechtergerechtigkeit / Sauberes Wasser und Sanitäreinrichtungen / Bezahlbare und saubere Energie / Menschenwürdige Arbeit und Wirtschaftswachstum / Industrie, Innovation und Infrastruktur / Weniger Ungleichheiten / Nachhaltige Städte und Gemeinden / Nachhaltige/r Konsum und Produktion / Maßnahmen zum Klimaschutz / Leben unter Wasser / Leben an Land / Frieden, Gerechtigkeit und starke Institutionen / Partnerschaften zur Erreichung der Ziele[ii] .

In allen Bestandsaufnahmen zur Lage der Welt, angefangen von den Berichten an den Club of Rome, bis hin zu den Berichten der Weltkommissionen wird die existentielle, globale Bedeutung der Werte Menschenwürde, Freiheit und Gerechtigkeit mit den gesellschaftlichen und staatlichen Aufgaben einer Gesundheitspolitik verbunden. „Es geht nicht mehr nur um einzelne prioritäre Gesundheitsprobleme, sondern es gilt, in allen Ländern der Welt universell zugängliche Gesundheitssysteme aufzubauen“. Durch die sich immer interdependenter und entgrenzender entwickelnde (Eine?) Welt erhält die Bedeutung von Public Health als bevölkerungs- und wohlstandsbezogene Aufgabe mit Global Health eine neue Dimension. Sie stellt sich als internationale Perspektive und Herausforderung nicht nur für Professionen in den Gesundheits- und Sozialdiensten dar, richtet sich nicht nur an in globalen Entwicklungszusammenhängen Tätige, sondern fordert Aufmerksamkeit von allen, denen die Schaffung einer gerechten, sozialen und humanen Weltzivilisation ein Anliegen ist. In allen Analysen wird deutlich und dringend empfohlen, dass die Menschen in ihrem Denken und Tun einen Paradigmenwechsel vollziehen sollen, weg vom „Business as usual“ und hin einer humanen Kultur der Entwicklung: „Die Menschheit steht vor der Herausforderung umzudenken, sich umzuorientieren und gesellschaftlich umzuorganisieren, kurz: neue Lebensformen zu finden“[i].

Die Gesundheitswissenschaftler Oliver Razum von der Universität Bielefeld, Hajo Zeebvon der Universität Bremen, Olaf Müller und Albrecht Jahn von der Heidelberger Ruprecht Karls Universität geben einen Sammelband heraus, in dem sie wissenschaftliche, interdisziplinäre Expertinnen und Experten und Fachleute aus internationalen Organisationen zu Wort kommen lassen. Der Lichtzeiger für eine gerechtere, sozialere, friedlichere humane (Eine?) Welt lautet: „Hilfe zur Selbsthilfe“, also weg von den eurozentrierten Potenzen und „Weissseins“-Dominanzen, hin zu einer globalen Ethik, wie sie in der Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte formuliert wird: „Die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Gesellschaft innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte bildet die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt“. Der Sammelband vermittelt eindrucksvoll und prägnant die vielfältigen Wertevorstellungen, die mit dem Lebensgut „Gesundheit“ einen Anker haben und deutlich machen, dass der ganzheitliche, humane Blick notwendig ist, um dem neuen Paradigma der globalen Gesundheit zur Verwirklichung (mit) zu verhelfen. Die wissenschaftlichen Zugänge orientieren sich dabei an der Überzeugung, dass eine soziale und gerechte Welt möglich ist; aber nur dann, wenn es gelingt, die Synergien zu bündeln in einer globalen, gleichberechtigten Kooperation auf Augenhöhe[i].

Positive Subversion

Die Suche hält an, wie es gelingen kann, die Herausforderungen und Zumutungen der Covid-19-Pandemie zu bewältigen. Da sind die einen, die darauf vertrauen, dass die wissenschaftlichen Erkenntnisse und Forschungen vorankommen, Mittel gegen Sars-CoV-2 zu entwickeln. Da geht es darum, die staatlichen und gesellschaftlichen Einschränkungen, die sich in der Abwehr-Anweisung AHA-L ausdrücken, zu befolgen. Da werden technische Apparaturen entwickelt, wie in Innenräumen die CO²-Konzentration so geregelt werden kann, dass die Luftströmungen und der Luftaustausch funktionieren und damit die Aerosolbelastung nicht ansteigt. Da wird mit Hochdruck und mit ungeheuren finanziellen und personellen Aufwänden daran gearbeitet, dass möglichst schnell und wirksam Impfstoffe zur Verfügung stehen. Es werden umfangreiche Informationssysteme in Gang gesetzt, um die Menschen über Ursachen, Wirkungen, Gefahren und Hilfen bei der Epidemie aufzuklären. Da sind auf der anderen Seite die Leugner und Ignoranten, die Corona als eine Erfindung und Verschwörung halten; die sich mit obskuren Mitteln, wie z. B. Stanniolpapier-Hüten, vor Ansteckungen schützen wollen; die den Virus als Strafe Gottes gegen die Sünden der Menschen ausgeben und den richtigen Glauben und Gebete als einziges Mittel dagegen anempfehlen; da sind die Ideologen, die in der „Corona-Krise“ politische, konspirative Mächte im Spiel sehen.

Dagegen gibt es nur die Kantische Aufforderung: „Sapere aude -  Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“[i], also selbst zu denken und nicht von anderen denken zu lassen[ii]. Bei der Suche nach Argumenten und Kompetenzen, wie dies möglich ist, kommen wir zu Hans A. Pestalozzi (1929 -2004), der sich vom Kapitalisten zum Friedens-, Menschenrechts- und Umweltaktivisten veränderte und mit seinem Buch „Nach uns die Zukunft“ (1979) zur „positiven Subversion“ aufforderte[iii]:

Wo kämen wir hin

wenn alle sagten

wo kämen wir hin

und niemand ginge

um einmal zu schauen

wohin man käme

wenn man ginge.

Und wir schauen noch weiter zurück. In die griechische Mythologie, in der wir auf den tragischen Helden Sisyphos stoßen, der im anthropologischen, philosophischen, abendländischen Denken als Sinnbild für Aussichtslosigkeit, Mühseligkeit und Verzweiflung verstanden wird. Die Geschichtenerzähler der Welt haben sich an der Gestalt des Sisyphos abgearbeitet und versucht herauszufinden, ob sich in dem Dilemma nicht auch Positives und Begreifliches finden lasse.

Der französische Denker Albert Camus (1913 – 1960) gilt als „Philosoph des Absurden“. Mit dem 1942 / 2004 erschienenem Buch „Der Mythos des Sisyphos“ verweist er darauf, dass sich der Mensch in seinem Sein und Tun in einer absurden Situation befinde. Er dürfe die Absurdität seines Daseins nicht verleugnen oder ignorieren, sondern müsse sie annehmen und sich damit auseinandersetzen. Dann nämlich könne es gelingen, Sisyphos nicht als einen Versager und Ignoranten zu begreifen, sondern als einen Glücklichen zu verstehen: „Darin besteht die verborgene Freude des Sisyphos. Sein Schicksal gehört ihm. Sein Fels ist seine Sache... Darüber hinaus weiß er sich als Herr seiner Tage. In diesem besonderen Augenblick, in dem der Mensch sich seinem Leben zuwendet, betrachtet Sisyphos, der zu seinem Stein zurückkehrt, die Reihe unzusammenhängender Handlungen, die sein Schicksal werden, als von ihm geschaffen, vereint unter dem Blick seiner Erinnerung und bald besiegelt durch den Tod. Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen“. Der Mensch als ein „unfertiges“ Lebewesen ist nur dann in der Lage, im Sinne der Conditio Humana zu leben[i], wenn es ihm gelingt, seine individuelle Existenz und sein kollektives Dasein als Eingebundensein in das Ganze der Menschheit und des Kosmos zu begreifen[ii].

Corona – eine Sisyphos-Herausforderung?

Es sind die Erregtheiten, Aufgeregtheiten, Sorgen und Ängste, die sich durch die globale Corona-Epidemie ergeben. Sorgen darüber, das Erreichte zu erhalten, wie auch die Befürchtungen, vom Virus angesteckt zu werden. Wir wenden uns dem 1931 geborenen Schriftsteller Erasmus Schöfer zu, der 1969 den "Werkkreis Literatur der Arbeitswelt" mitbegründete, als Kommunist und linker Aktivist über Jahrzehnte hinweg sich immer wieder mit Büchern, Radiobeiträgen, Hörspielen und als freier Schriftsteller zu gesellschaftlichen Missständen bis heute zu Wort meldet. Mit der Romantetralogie "Die Kinder des Sisyfos" setzt er sich mit den Zielen, Perspektiven, Erfolgen und Misserfolgen während der gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen seiner Generation auseinander. Mit der Titelung seines erzählenden Geschichtswerks verweist er auf die Gewissheiten und Irrungen und macht deutlich, dass dieses Sisyphos-Bemühen sinnvoll, notwendig und nützlich ist[i]. Der Schritt zum Heute, den Zeiten der Unsicherheiten, der Gefährdungen und vielfältigen Wandlungsprozesse mündet in die Frage: Wie soll unsere demokratische Gesellschaft nach Corona aussehen und sich weiterentwickeln? Es sind die Herausforderungen, die sich durch die Bewältigung der zahlreichen Krisen ergeben: Wir sind Sisyphos! Der Jenenser Lyriker und Sächsische Landesbeauftragte zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, Lutz Rathenow, formuliert in der Sammlung seiner Kurzgeschichten, die er mit dem Titel „Sisyphos“ herausbringt, in der Erzählung „Lieblos Leben“ den Satz: „Perversion ist die normale Art, auf den alltäglichen Wahnsinn zu reagieren[ii]. Wenn wir den Begriff nicht als abartige Tätigkeit, sondern im Sinne einer diskursanalytischen Betrachtung (Michel Foucault) verwenden, kommen wir damit dem sisyphosischem Denken und Handeln näher, als Mut und Kraft, scheinbar unmögliches zu wagen und zu vollbringen.

Fazit

Die Gedankenexperimente, wie wir sie im Sinne der positiven Subversion vorgenommen und gewissermaßen Begriffe gedreht haben, führen uns zum Selbstdenken und zum notwendigen Perspektivenwechsel, der nicht Selbstläufer wird, sondern Anstrengung, Zuversicht und aktives, selbstbewusstes, demokratisches Tun erfordert!



 

[i] Angela Janssen, Verletzbare Subjekte. Grundlagentheoretische Überlegungen zur conditio humana, 2018, www.socialnet.de/rezensionen/25043.php

[ii] Wolf Lotter, Zusammenhänge. Wie wir lernen, die Welt wieder zu verstehen,  2020, www.socialnet.de/rezensionen/27036.php   

 

[i] Oskar Negt, Politische Philosophie des Gemeinsinns. Moral und Gesellschaft: Immanuel Kant, 2020, www.socialnet.de/rezensionen/...php

[ii] Karl Heinz Bohrer, Selbstdenker und Systemdenker. Über agonales Denken, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12903.php

[iii] Hans A. Pestalozzi, Nach uns die Zukunft. Von der positiven Subversion, Bern 1979

 

[i] Oliver Razum, u.a., Hrsg., Global Health. Gesundheit und Gerechtigkeit, 2014, www.socialnet.de/rezensionen/18229.php

[i] Deutsche UNESCO-Kommission, Unsere kreative  Vielfalt. Bericht der Weltkommission „Kultur und Entwicklung, Bonn 1997, S. 18

[i] Klaus Hüfner, Die Vereinten Nationen und ihre Sonderorganisationen. Strukturen, Aufgaben, Dokumente, UN-Texte 35, Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen e.V., Bonn 1986, S. 354ff

[ii] www.17goalsmagazin.de: Wie Menschen die Welt bewegen, 2020

[i] Erasmus Schöfer, Die Kinder des Sisyfos. Bd. I: Ein Frühling irrer Hoffnungen; Bd. II: Zwielicht; Bd. III: Sonnenflucht; Bd. IV: Winterdämmerung; Berlin 2008, 2073 S., www.socialnet.de/rezensionen/6630.php

[ii] Berlin, 3. Aufl. 1997, S. 119