Globale Ethik in der Einen Welt

19.10.2020

Der im philosophischen Denken verankerte Begriff „Ethik“ (ἠθική) wird immer schon verstanden als die Notwendigkeit und Fähigkeit, ein gutes, gelingendes, humanes Leben zu führen. Logischerweise differenziert sich im menschlichen Bewusstsein dabei die Art und Weise, wie dies geschehen kann und soll.

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Im moralphilosophischen Diskurs wird deshalb unterschieden in Ethik-Formen und –Interpretationen, wie sie von den antiken Philosophen (Aristoteles), von Immanuel Kant und von den Utilitaristen eingeführt und begründet werden[i].Die Menschenrechtsdeklaration der Vereinten Nationen versteht sich als „globale Ethik“, wenn es um das Bewusstsein geht, dass „die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt bildet“[ii]. Wir sind bei den Fragen und Herausforderungen, wie sie sich Hier und Heute, angesichts der sich immer interdependenter, entgrenzter und globaler entwickelnden Welt drängend stellen: Wie kann es gelingen, uns Menschen zu überzeugen und zu ermuntern, dass wir aufgeklärt und gebildet sein wollen[iii]. Dazu braucht es Kreativität, Intellekt und Mut[iv].

Angewandte Ethik 

Ego-, ethnozentristische, nationalistische, rassistische und populistische Einstellungen in der Welt nehmen zu und entwickeln sich von abständigen und abweichenden, hin zu in der Mitte der Gesellschaft akzeptierten Auffassungen. Fakten werden zu Fake News umdefiniert. Wirklichkeiten werden zu Weltuntergangsszenarien umgedeutet. Ängste, Unverbindlichkeiten und Momentanismus bestimmen das individuelle, lokale und globale Dasein[v]. Die Forderungen, im Leben der Menschen die Werte – Globale Verantwortungssethik, Globale Empathie, Globale Solidarität – durchzusetzen, liegen auf den globalen Tischen der Welt. Die Denk-Werkzeuge dazu ebenso. Einstellungen wie „Business as usual“, „Das haben wir schon immer / noch nie so gemacht!“ und „Der Zweck heiligt die Mittel“ bedürfen der Veränderung. Im globalen Diskurs wird der Ruf lauter, im individuellen und lokal- und globalgesellschaftlichen Dasein der Menschen einen Perspektivenwechsel vorzunehmen: „Die Menschheit steht vor der Herausforderung umzudenken, sich umzuorientieren und gesellschaftlich umzuorganisieren, kurz: neue Lebensformen zu finden“[vi].

Der an der New Yorker University lehrende Philosoph Samuel Scheffler befasst sich mit den Fragen, wie der Mensch mit seiner Endlichkeit umgeht und wie sich Phantasien über den Weltuntergang entwickeln[vii]. Der Journalist Malte Henk hat sich im Dossier der Wochenzeitung DIE ZEIT[viii] mit dem Beitrag „Die Zeit ist nah!“ mit den immerwährenden und aktuellen, apokalyptischen, kakophonistischen, ideologischen, manipulativen, irrationalen und populistischen  Weltuntergangswarnungen und –vorhersagen  auseinandergesetzt. Dabei verbreitet er weder Panik, noch malt er das Menetekel an die Wand. Er erkennt vielmehr, dass der Untergang der Welt schon im Moment ihrer Entstehung begonnen habe; was für ihn (und uns) bedeutet, „dass jeder einzelne Moment im Hier und Jetzt, und sei er noch so banal, unendlich wertvoll ist“.

Ethik ist Lebenslehre

Der anthrôpos, das menschliche Lebewesen, strebt nach einer individuellen Lebenskraft, die es ihm ermöglicht, ein langes, aktives, gesundes, erfolgreiches Leben führen zu können. Dieser Wunsch und diese Hoffnung jedoch ist nur zu erfüllen, wenn ihm gleichzeitig bewusst ist, dass er als Individuum nur human im Kollektiv der Menschheit lebensfähig ist. Es sind die Fragen nach Humanität[ix] und Gerechtigkeit[x]. Es bedarf der Besinnung darauf, dass nur in einer offenen, demokratischen Gesellschaft ein menschenwürdiges, freies Leben möglich ist[xi]. Es braucht das Bewusstsein von der Ganzheit der menschlichen Existenz mit der Umwelt und dem Kosmos[xii]. Und es darf nicht fehlen die kritische, humane Bewusstheit von der notwendigen Veränderbarkeit beim alltäglichen Verhalten und der Einstellungen[xiii].

Wir sind bei den idealistischen, theoretischen und pragmatischen, praktischen Fragen zum ethischen Leben. Die aristotelisch-anthropologische, moralphilosophische Charakterisierung einer humanen ethischen Haltung des anthrôpos wird bestimmt von der bekannten Zuordnung zu seinem vernunftbestimmten Denken und Handeln. Der Mensch ist fähig zur Bildung von Allgemeinurteilen und zur Unterscheidung von Gut und Böse. Als Individuum ist er darauf angewiesen, friedlich, gerecht und menschenwürdig in Gemeinschaft mit den Mitmenschen und der Umwelt zu leben. Aristoteles differenziert zwischen „ethos“ (ἔθος), Gewohnheit, und „ethos“ (ἦθος), Charakter und Sitte. Das Ziel, ein gutes, gelingendes Dasein zu führen, ist ohne eine bewusste, humane, praktische Lebensführung nicht erreichbar. In der Verhaltens-Kybernetik gilt der kategorische Grundsatz: Achte alles wie Dich Selbst! Es sind pragmatische Zugänge zu einem offenen, veränderungsbereiten Verhalten und zu einer „ethischen Tüchtigkeit“, die nach Werten und Kompetenzen Ausschau hält, um gesittet zu leben. Dabei kann es weder darum gehen, völlig neue ethische und Wertvorstellungen zu entwickeln, noch sich dem „ewig Gemeinten“ zu verhaften, sondern „die bestehende Ethik, die komplex genug ist, als Prozess transparenter offen zu legen, damit sie für die Anwendung erfolgreicher eingesetzt werden kann“. Es sind Hinweise darauf, wie es gelingen kann, ein gutes, humanes, menschenwürdiges, individuelles und kollektives Leben zu führen:

Zeige immer Dein Engagement!

Gehorche Deiner Verantwortung!

Prüfe Deine Einstellung, die Du besitzt oder entwickeln musst!

Bilde immer Vertrauen!

Suche Deine Identifikation mit dem Gemeinwohl!

Entwickle immer Konzepte gemeinwohlorientiert!

Gehorche Deiner Gesinnung und bewahre die Normen!

Bewahre Deine gerechte Gesinnung!

Sei immer bereit zu Korrekturen Deines Verhaltens! [xiv].

 Altruismus – zweckorientierte Ethik

Eu zên, gut leben, gilt als die Fähigkeit, danach zu streben, im Leben der Menschen mehr als das Notwendigste, nämlich ein sittlich gutes und autarkes Leben zu erreichen. Damit wird ein Ziel angestrebt, das sowohl dafür eintritt, dass jeder Mensch auf der Erde in der Lage ist, seine Grundbedürfnisse zu erfüllen[xv],  als sich auch in Wertvorstellungen und Haltungen wie Nächstenliebe, Fernstenliebe, Empathie, Agape… ausdrückt. Wir sind beim Begriff „Altruismus“, mit dem selbstloses, uneigennütziges, nichtegoistisches und auf den Anderen bezogenes Denken und Handeln bezeichnet wird, und das in der idealen Form als Verhaltensweise gilt, die nicht auf einer Kosten-Nutzen-Rechnung basiert, sondern bei der der Gebende und altruistisch Handelnde zu einer stärkeren Befriedigung und Bestätigung gelangt. Die Auffassung zeigt sich auch im Prinzip „Was mehr wird, wenn wir teilen“, das die US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftlerin Elinor Ostrom als ökonomisches Konzept vom Wert der Gemeingüter entwickelte, und für das sie 2009 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften erhielt[xvi]. Ein Schlüsselwort für eine solche Einstellung stellt auch der Begriff „Solidarität“ dar, wie er etwa im Konzept „Buen Vivir“ des ecuadorianischen Politikers und Ökonomen Alberto Acosta als solidarisches Lastenteilen und Win-Win-Situation bei der ökologischen und nachhaltigen „Yasuni-ITT-Initiative“ in Erscheinung tritt[xvii].

Der australische Philosoph und Ethiker Peter Singer gilt als Vertreter des Utilitarismus, Das utilitaristische Grundprinzip lautet: „Handle so, dass die Folgen deiner Handlung bzw. Handlungsregeln für das Wohlergehen aller Betroffenen optimal sind“. Es wird also nach utilitas, dem Nutzen einer guten Handlung gefragt. Probleme zeigen sich bei der Frage, wie individueller und kollektiver Nutzen zu werten sind, weshalb sich im philosophischen und ethischen Diskurs verschiedene Varianten und Theorien dieser moralischen Grundposition entwickelt haben; etwa der Präferenzutilitarismus, der nicht, wie die klassische Form nach dem individuellen Glücksempfinden von Individuen, sondern nach deren Interessen und Wünschen fragt. Peter Singer benutzt diese Position in seinem Buch „The Most Good You Can Do“, das in deutscher Sprache als Aufforderung zum ethischen Leben erschienen ist[xviii].

Der britische Philosoph William MacAskill von der Oxford University nimmt diese Gedanken auf und fragt: „Wie kann ich am meisten bewirken und der größtmöglichen Zahl von Menschen zu einem besseren Leben verhelfen?“. Dabei geht er, mit den Mitteln und Möglichkeiten des Big Data, der experimentellen Feldforschung, naturwissenschaftlichen Kontrollverfahren und den Informationen, wie sie leistungsfähige Rechner zur Verfügung stellen[xix], der Frage nach: „Doing good better. How Effective Altruism Can Help You Make a Difference“ (2015). Das Buch ist im Ullstein-Verlag in deutscher Sprache erschienen. Das Ziel klingt erst einmal pragmatisch und effizient orientiert: „Empathie muss sich rechnen. Er will kalkuliert gemeinnützig denken und handeln – nicht für die eigenen Nächsten, sondern für die Ärmsten der Armen weltweit“, so Elisabeth von Thadden, die William MacAskill zu seinem Buch in Oxford interviewt hat (ZEIT LITERATUR, 2016, S. 33ff). Der Anspruch, die richtigen Fragen zu stellen, um die richtigen, wahren und effektiven Antworten zu bekommen, ist ja ein bewährtes Mittel für kritisches Denken [xx]. Altruistisches Denken und Handeln kann dabei in die Falle geraten, Mitgefühl als Schild vor sich herzutragen und dabei die eigenen Wirksamkeiten und Möglichkeiten aus den Augen zu verlieren; wie auch Nützlichkeitsdenken als das einzig wirksame (und rigorose) Mittel zu betrachten. Da ist es schon angebracht, Illusionen von Wirklichkeiten unterscheiden zu können; etwa mit der Rechnung: „Wenn Sie eine 40-Stunden-Woche haben, arbeiten Sie in 40 Jahren genau 80.000 Stunden“. Interessant wird es, wenn man jetzt weiter fragt; etwa: Wie verbringe ich diese Zeit? Als „Business as usual“ und egozentristisches, kapitalistisches, oder soziales, empathisches, solidarisches Denken und Handeln? Freilich tun sich dabei auch Fallen auf, etwa, wenn die indisch-britische Philosophin Amira Srinivasan feststellt: „Der Kapitalismus hat sich mal wieder seine stärksten Kritiker einverleibt“. Es kann aber auch sein, dass sich Mitstreiter finden, wie etwa der Oxforder Philosoph Toby Ord, der mit seinen Fragen – „What are the most important issues of our time? How can wie best address them?“ – ZU global health und global poverty forscht[xxi]. William MacAskill gründet seine Analyse über effektiven Altruismus auf die Fragen: „Wie viele Menschen profitieren davon und in welchem Maß?“ -  „Ist dies das Wirksamste, das Sie tun können?“ -  „Ist dies ein vernachlässigter Bereich?“ - „Was wäre andernfalls geschehen?“ - „Wie gut sind die Erfolgsaussichten, und wie viel wäre ein Erfolg wert?“. Daraus entwickelt er die Formel:

EA = Empathie + Solidaraität = Humanität

EA = Effektivität + Zuversicht = Humanität

EA = Selbstbewusstsein + Wirksamkeit = Humanität[xxii].

Sozioprudenz 

Ist das nicht die Zielsetzung, Erwartungshaltung, Absicht und Wunsch eines jeden, der sich aufmacht, Wissen und Lebenstüchtigkeit zu erwerben und weiter zu geben? Es ist die Hoffnung von Erwachsenen, den Nachkommen Erfahrungen und Kenntnisse zu vermitteln und sie zu motivieren, dass sie aufgeklärt und gebildet sein mögen. Wenn ein Autor beansprucht, mit seinem Buch „kulturelle Hybridität“ bewusst zu machen, also Lehrbuch, Ratgeber, Info und Erzählung zu sein, ist die neugierige Nachfrage nach dem theoretischen und praktischen Neuen und Anderern notwendig. Wir landen erst einmal bei dem römisch-aquinischen Begriff „prudentia“, und der antiken aristotelischen Bezeichnung phrónesis (φρόνησις), die als Klugheit und vernunftgemäßes Denken und Handeln verstanden wird. Mit dem Begriff „Sozioprudenz“ wird im soziologischen, sozialwissenschaftlichen Diskurs die Fähigkeit zum sozialen klugen Handeln bezeichnet. Wir sind bei der vornehmsten, bildungspolitischen Aufgabe und Herausforderung, uns und den Mitmenschen zu ermöglichen, „soziale Wirklichkeiten kommunizierend und handelnd (zu) erschließen“.  Der Kultursoziologe von der Universität Bonn, Clemens Albrecht, setzt sich mit den im Lern- und Bildungsprozess zu vermittelnden Grundlagen zur Verwirklichung eines guten, menschenwürdigen, solidarischen Lebens auseinander. Die didaktischen und methodischen Skills und Kompetenzen sollen es ermöglichen, „einen neuen, handlungspraktischen Zugang zum soziologischen Wissen zu legen“. Es ist das immer wieder angegangene, bewältigte wie gescheiterte Unterfangen, bei der Wissens-Innovation und -vermittlung die Dilemmata Theorie und Praxis zusammen zu bringen[xxiii]. Es sind die gleichen Paradigmen, wie sie uns mit dem Kantischen Sapere aude – Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen – vermittelt werden, und in philosophischen, psychologischen, pädagogischen und soziologischen Theorien bereit liegen. Es sind die verschiedenen Handlungsaspekte und -motive, die in den unterschiedlichen Wirkungen und Fakten deutlich werden und in den Verbindungen von Zweckrationalität und Klugheit zum sozioprudenten Verhalten zusammenwachsen: „Klugheit ist mehr als Rationalität. Sie schließt die Überlegung ein, wann es klug ist, auf Rationalität zu verzichten“ – oder sie zu relativieren. So ergeben sich bereits drei Anregungen für sozioprudentes Denken und Handeln: „Überschaue, was du nicht planen kannst: die Folgen deines Handelns. Vertraue deiner Erfahrung, verantworte deine Handlungen!“ - „Ziel deines Handelns ist neben dem äußeren Erfolg auch das innere Ergebnis. Du übersiehst dich nicht, dein Handeln lässt sich nicht abschließen!“ - „Halte Maß. Bleib nicht auf ebenem Feld! Steig nicht zu hoch hinaus!“. Es sind die ursprünglich von Ethnologen und Anthropologen aufgezeigten Zusammenhänge, wie sie sich beim Schenken und Beschenktwerden als kulturelle Normen entwickelt haben und sich in den Gabentausch-Funktionen Auswahl – Übergabe – Effekte darstellen und sowohl als positive, verbindende als auch als negative Aktivitäten, wie z.B. bei Korruption und Bestechung, wirken. Der Mensch ist ein individuelles und Gemeinschaftslebewesen[xxiv]. Die Suche nach dem Gral, nach dem Ideal, nach der zufriedenstellenden Lösung bei Problemsituationen erfordert Charaktereigenschaften, die der Mensch, nicht selten in mühsamen Trial- und Error-Prozessen, erwerben muss. Wenn der Autor bei seinen sozioprudenten Fragen auf die Diplomatie kommt, greift er auf Kompetenzen zurück, die vielfach den Diplomaten zugesprochen werden und sich ausdrücken in: Wissen – Besonnenheit – Taktgefühl – Anerkennung – Kompromissfähigkeit, u.a. Die Soziologie weist in zahlreichen Theorien und Handlungsanweisungen die Vielfalt von „Alltagsdiplomatie“ nach. Es sind Anhaltspunkte, die nach moralischen Integritäten verlangen. Der Autor stellt dazu seine „Klugheitsethik“ voran, mit der er den individuellen Blick weitet hin zum Anderen: „Wie beurteilen andere die Handlung und welchen Werten folgen sie dabei?“ – „Welche Handlungsfolgen könnten meine gegenwärtige Bewertung verändern, auch, indem sich meine Wertigkeit verschiebt?“ – „Welche zusätzlichen Sphären der Bewertung gibt es, die zu anderen hinzukommen, sie überlagern, ohne sie zu ersetzen?“[xxv].

Axiomatische Existenzen

Wissenschaft schafft Wissen! Diese sicherlich unumstrittene Aussage freilich bedarf der Ergänzung. Weil wissenschaftliche Aussagen wahr und objektiv sein sollten, müssen Wissensergebnisse überprüfbar, verifizierbar oder falsifizierbar sein. Diese Herausforderungen und Wertebestimmungen werden in den wissenschaftlichen Theorien und in der Grundlagenforschung thematisiert[xxvi]. Dass Wissen und damit auch die Wissenskommunikation sich verändern, wenn sich lokal- und globalgesellschaftliche Wandlungsprozesse vollziehen, klingt beinahe tautologisch[xxvii]. Es gilt, einen weiteren, bedeutsamen Aspekt des wissenschaftlichen Arbeitens und Forschens zu bedenken: Wissensgenerierung erfolgt zum einen fächerbezogen, zum anderen interdisziplinär, was sich z.B. in der „Ressortforschung“ verdeutlicht[xxviii]. Damit sind wir dann auch schon bei den Fragen, welche theoretischen und praktischen Wissensbestände, Konzepte und Grundlagen in den einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen gelten, auf welche Traditionen und historische Entwicklungen sie zurückgreifen, oder ob und wie sie sich in den Veränderungsprozessen behaupten oder verworfen werden. Diese Fragen rütteln nicht selten an den Selbstverständlichkeiten und Identitäten von wissenschaftlich Forschenden und Lehrenden. Der Soziologe und Kulturwissenschaftler Moritz Mutter fragt nach „axiomatischen Existenzen“, indem er die scheinbaren, selbstverständlichen Werte- und Normenvorstellungen beim wissenschaftlichen Denken und Handeln auf die Waagschale legt. Er identifizierte eine „Krise der Anschauung“, indem er für die Systematik und Methodik des wissenschaftlichen Arbeitens ein „Aufschreibesystem“ einführt, mit dem er das Aufbewahren, Speichern, Verwalten, Vergleichen und Bewerten von Daten, Zeichen, Informationen und Wissen ordnet. Im Dreiklang von medialen, mathematischen und soziologischen Wirklichkeiten (oder Visionen?) werden „axiomatische Existenzen“ sichtbar, die  zwar nicht als die Lösung allen Übels der Welt, aber trotzdem die lokal- und globalgesellschaftlichen Imponderabilien sichtbar und damit bewältigbar machen können[xxix].

Heterodoxie

„Heterodox ist das, was der Orthodoxie widerspricht“.  Die Interpretationsfelder in diesem Widerspruch und Gegensatz von Meinungen, Auffassungen, Festlegungen und Veränderungsprozessen liegen auf den Gebieten von Ideologien und Wirklichkeiten, von Wahrheiten  und Verneinungen, von (Lebens-)Horizonten und Gegenpositionen: „Die Bedeutung der Heterodoxie für die Orthodoxie ist die eines negativen Gegenhorizonts“. Wenn im konstruktivistischen und kybernetischen, wissenschaftlichen Diskurs davon gesprochen wird, dass die Wahrheit nicht mehr und nicht weniger als die Erfindung eines Lügners sei, dann geht es um die Frage, wie wirklich die Wirklichkeit von den Menschen eingeschätzt, interpretiert, wahrgenommen, angesagt und verstanden wird. Heterodoxe Meinungen finden sich auf allen Gebieten menschlichen Denkens und Handelns. Sie haben Bedeutung in fachspezifischen Diskussionen und Begriffsbestimmungen, wie auch in den interdisziplinären, theoretischen und praktischen Diskursen.  Die vom französischen Soziologen und Sozialphilosophen Pierre Bourdieu in die Sozial- und Kulturwissenschaften eingebrachten heterodoxen Wissensbestände haben in den Religions-, Literatur-, Kunst- und Wirtschaftswissenschaften und in der Medizin ebenfalls feste Anker geworfen. Es wäre allzu einfach und gedankenlos, würde man orthodoxes Wissen als unantastbar und wahr, und heterodoxe Auffassungen und Einstellungen als weltfremd und falsch bezeichnen: „Heterodoxe Wissensbestände und alternative Weltdeutungen (können) nicht mehr so widerstandslos als abweichend markiert und erst recht nicht gänzlich aus den öffentlichen Debatten ausgeschlossen und damit kulturell exkludiert werden“. Im seriösen wissenschaftlichen Diskurs darf dies freilich nicht bedeuten, entweder definitives orthodoxes oder heterodoxes Wissen absolut zu setzen, das eine zu verifizieren und das andere zu falsifizieren, zu favorisieren  oder zu negieren, sondern die Schnittstellen, Spannweiten, Einbahnstraßen und Fallstricke zu legen und zu vermessen, die in den lebensweltlichen Zusammenhängen deutlich werden. Der Soziologe und Politologe vom Freiburger Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene und Lehrender an der Albert-Ludwigs-Universität, Ludwig Schetsche und die Sozialwissenschaftlerin Ina Schmied-Knittel geben einen Sammelband heraus, in dem Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sich fachspezifisch und interdisziplinär aus „ganz verschiedenen (heterogenen) Perspektiven  mit Theorien und Zugängen zu Phänomenen der Heterodoxie auseinandersetzen“. Orthodoxes und Heterodoxes, Aufgegebenes und Wagendes, (scheinbar) Wahres und (unbestimmtes) Falsches – die Zeiten der monodirektionalen (geprüften, verlässlichen?) Informations- und Nachrichtenvermittlung sind vorbei; Meinungen und Wissen  werden über (unkontrollierbare?) Netzwerkmedien individuell, spontan, emotional und als gesteuerte News und ideologisierte Fake News verbreitet. Weil Wahrheitsfindung und die den anthrôpos vernunftbegabte Fähigkeit, individuell und in Gemeinschaft Allgemeinurteile bilden zu können, Grundvoraussetzung für ein humanes, gutes und gelingendes Leben sind, kommt es entscheidend darauf an, orthodoxes und heterodoxes Wissen und Einflussnahmen objektiv zu analysieren.  Die vom Herausgeberteam an die im Sammelband „Heterodoxie“ beteiligten Autorinnen und Autoren gestellten Fragen: Welche kategorialen Bestimmungen von ‚Heterodoxie‘ gibt es?  - Welche alternativen theoretischen Konzepte beschreiben den gleichen kulturellen Sachverhalt, also die Existenz abweichender Deutungen? – Welche Rolle spielt die Leitdifferenz Orthodoxie-Heterodoxie  in unterschiedlichen Wissenssphären und Feldern wie der Lebenswelt, Wissenschaft, Religion, Kunst, …? – Wie gehen (unterschiedliche) wissenschaftliche Disziplinen mit Heterodoxie um? - und weitere Fragen  werden kompetent und nachvollziehbar thematisiert und beantwortet. Daraus  entstehen neue Blickrichtungen in den flotierenden, sich rapide verändernden kommunikativen und meinungsbildenden Prozessen Anhaltspunkte und Perspektiven anbieten[xxx].  

Dynamisch unbewusst

Es ist das Intuitive, das vielfach als Unbewusstes unser Denken und Handeln bestimmt, auf Risiken reagiert[xxxi], oder Meinungen zustande kommen[xxxii]. Es sind lebensbestimmende, -rettende, -helfende Lebenskräfte, aber auch lebenszerstörende, -behindernde, -irritierende Situationen, die das Denken der Menschen herausfordern[xxxiii]. In diesem existentiellen Prozess der Lebensfindung und –bewältigung haben die psychologischen, philosophischen und anthropologischen Vorgänge des verstandesbewussten, analytischen, humanen Denkens und Handelns ihren Stellenwert. Kognition und Emotion sind dabei die Anker des bewussten und unbewussten Seins der Menschen. Während sich das kognitiv Bewusste  gewissermaßen auf den Präsentierteller der Conditio Humana zeigt und das individuelle und kollektive Denken der Menschen abbildet, repräsentiert das dynamisch Unbewusste die intuitive Kraft des Unbestimmten, nicht direkt wahrgenommenen, emotionalen  und nicht selten zufälligen Soseins[xxxiv]. Das Feld des Unbestimmten hat Sigmund Freud mit seinen Warnungen vor negativer, bedrohlicher Kraft  hingewiesen. In der reflexiven, praxisbezogenen Psychoanalyse gewinnt das dynamisch Unbewusste an Bedeutung dadurch, dass das sich in Störungs- und Krankheitsbildern darstellende Unbewusste nicht durch Abwehr erkannt und bearbeitet, sondern als Chance der Auseinandersetzung mit dem Ich verstanden werden kann. Der klinische Psychologe und Psychotherapeut von der  Psychologischen Hochschule in Berlin, Timo Storck, legt mit der Publikationsreihe „Grundelemente psychodynamischen Denkens“ Mitschriften aus seinen wissenschaftlichen Vorlesungen vor. Dabei geht es ihm nicht darum, den Freud-Rezeptionen weitere hinzuzufügen, sondern „mit Freud gegen Freud“ zu denken. Er thematisiert die traditionellen und aktuellen psychodynamischen Konzepte, unterzieht ihnen eine konzeptionelle Kritik, bezieht ihre Wirkungen in die klinische Praxis ein und vermittelt einen wissenschaftlichen Transfer. Es ist die Erkenntnis, dass das Denken selbstreflexiv ist: „Das Denken über Psychodynamik ist unweigerlich selbst psychodynamisch“. Er formuliert neun Thesen, in denen er Standort und Perspektiven des dynamisch Unbewussten aufzeigt: „Das Freudsche Unbewusste, als Teil des  Psychischen, wirkte zu seiner Zeit radikaler als im heutigen Bewusstsein“ – „In seiner Psychoanalyse stellt das dynamisch Unbewusste als psychisches Konfliktpotential dar und zeigt sich in den topischen Modellen“ – „Entwicklungspsychologisch wirken Bewusstes und Unbewusstes ‚gleichursprünglich‘“ – “Im Verhältnis des Unbewussten zur psychischen Formgebung kommt es darauf an, ‚erlebbare Formen‘ für etwas zu finden, was dem (bewussten) Erleben bislang (so) nicht zugänglich gewesen ist“ – „Die psychoanalytische Theorie des Unbewussten stellt sich als Theorie des Denkens und Bewusstseins dar“ – „Es gilt, das ‚kranke Unbewusste‘ freizulegen“ – „In der psychoanalytischen Behandlung kommt es darauf an, über die analytische Beziehung Zugang zum Unbewussten zu finden“ – „Wenn ‚gesellschaftlich Unbewusstes‘ thematisiert wird, muss der Blick auf die individuellen Befindlichkeiten und Zustände gerichtet werden“ – „Öffentlich gemachte außerklinische analytische Analysen bedürfen der (interdisziplinären) Validitätsprüfung“[xxxv].

Fazit

Ethisch denken und leben ist Grundlage der Conditio Humana. Es gilt, die vielfältigen Formen der humanen Ethik zu erkennen und in die individuellen und kollektiven, alltäglichen, lokal- und globalgesellschaftlichen Daseinsvollzüge einzubringen. Es braucht intellektuelle und emotionale Verantwortungsethik, die nur tätig erworben , erfahren und erlebt werden kann!


[i] Siehe dazu: Martin Gessmann, Philosophisches Wörterbuch, 2009, S. 211ff; sowie: Otfried Höffe, Aristoteles-Lexikon, 2005, S. 212ff

[ii] Deutsche UNESCO-Kommission, Menschenrechte. Internationale Dokumente: Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948, Bonn 1981, S. 48ff

[iii] Jos Schnurer, Die Menschen motivieren, dass sie aufgeklärt und gebildet sein wollen! In: Pädagogische Rundschau, 3/2018, S. 363ff

[iv] Hans Lenk, Kreative Aufstiege. Zur Philosophie und Psychologie der Kreativität, stw1456, Ffm 2000, 350 S.

[v] Jos Schnurer, Weltuntergang…, 12. 9. 2019, https://www.sozial.de/weltuntergang.html

[vi] Weltkommission „Kultur und Entwicklung“ (1997), in: Deutsche UNESCO-Kommission, Unsere kreative Vielfalt, Bonn 1997, S. 18

[vii] Samuel Scheffler, Der Tod und das Leben danach, 2015, 155 S.; sowie: Johannes Fried, Dies irae: Eine Geschichte des Weltuntergangs, 2016, 352 S.

[viii] Nr. 40 vom 24. 9. 2020, S. 15ff

[ix] Angela Janssen, Verletzbare Subjekte. Grundlagentheoretische Überlegungen zur conditio humana, 2018, www.socialnet.de/rezensionen/25043.php

[x] David Goeßmann / Fabian Scheidler, Hg., Der Kampf um globale Gerechtigkeit, 2019, www.socialnet.de/rezensionen/26334.php

[xi] Harald Welzer, Alles könnte anders sein. Eine Gesellschaftsutopie für freie Menschen, 2019, www.socialnet.de/rezensionen/25575.php; sowie: Stefan Brunnhuber, Die offene Gesellschaft. Ein Plädoyer für Freiheit und Ordnung im 21. Jahrhundert, 2019, www.socialnet.de/rezensionen/25426.php    

[xii] Wolf Lotter, Zusammenhänge. Wie wir lernen, die Welt wieder zu verstehen, 2020, www.socialnet.de/rezensionen/...php

[xiii] Thomas Piketty, Kapital und Ideologie, 2020, www.socialnet.de/rezensionen/26783.php

[xiv] Wilfried U. Radel, Verhaltens-Kybernetik, das ist Ethik. Pragmatische Ethik im Alltag für mehr Gemeinwohl & Wert-Schöpfung, 2019, www.socialnet.de/rezensionen/26312.php

[xv] vgl. dazu auch die „Bedürfnispyramide“, wie sie von Maslow entwickelt wurde, Abraham H. Maslow, Jeder Mensch ist ein Mystiker. Impulse für die seelische Ganzwerdung, 2014, www.socialnet.de/rezensionen/16223.php

[xvi] Elinor Ostrom, Was mehr wird, wenn wir teilen. Vom gesellschaftlichen Wert der Gemeingüter, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/11224.php

[xvii] Alberto Acosta, Buen Vivir. Vom Recht auf ein gutes Leben, 2015, www.socialnet.de/rezensionen/20598.php

[xviii] Peter Singer, Effektiver Altruismus. Eine Anleitung zum ethischen Leben, 2016, www.socialnet.de/rezensionen/20649.php

[xix] vgl. dazu auch: Ramón Reichert, Hrsg., Big Data. Analysen zum digitalen Wandel von Wissen, Macht und Ökonomie, 2014, www.socialnet.de/rezensionen/17608.php

[xx] Siehe auch: Jos Schnurer, Wer philosophiert – lebt, 28.1.2014, www.socialnet.de/materialien/174.php

[xxi] Oliver Razum, u.a.,Hrsg., Global Health. Gesundheit und Gerechtigkeit, 2014, www.socialnet.de/rezensionen/18229.php; sowie: Paul Collier, Der hungrige Planet. Wie können wir Wohlstand mehren, ohne die Erde auszuplündern, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/13125.php

[xxii] William MacAskill, Gutes besser tun. Wie wir mit effektivem Altruismus die Welt verändern können, 2016, www.socialnet.de/rezensionen/20648.php

[xxiii] vgl. dazu auch: Jos Schnurer, Theorie und Praxis in der Pädagogik Hier und Heute, in: Pädagogische Rundschau, 5/2020, S. 481ff

[xxiv] Friedrich Voßkühler, Ich – Du – Wir. Liebe als zwischenmenschliche Wahrhaftigkeit? Eine philosophische Erkundung in elf Durchgängen, 2017, www.socialnet.de/rezensionen/23740.php

[xxv] Clemens Albrecht,: Sozioprudenz. Sozial klug handeln., 2020, www.socialnet.de/rezensionen/27512.php

[xxvi] Julian Nida-Rümelin, Hrsg., Wunschmaschine Wissenschaft. Von der Lust und dem Nutzen des Forschens, 2006, www.socialnet.de/rezensionen/4391.php

[xxvii] Mike S. Schäfer/Silje Kristiansen/Heinz Bonfadelli, Hrsg., Wissenschaftskommunikation im Wandel, 2015, www.socialnet.de/rezensionen/19263.php .

[xxviii] Axel Philipps, Wissenschaftliche Orientierungen. Empirische Rekonstruktionen an einer Ressortforschungseinrichtung, 2018, www.socialnet.de/rezensionen/25024.php

[xxix] Moritz Mutter, Axiomatische Existenzen. Über Medien, Mathematik und Soziologie des Menschen, 2019, www.socialnet.de/rezensionen/25359.php

[xxx] Michael Schetsche / Ina Schmied-Knittel, Hrsg., Heterodoxie. Konzepte, Traditionen, Figuren der Abweichung, 2018, www.socialnet.de/rezensionen/24184.php

[xxxi] Gerd Gigerenzer, Risiko. Wie man die richtigen Entscheidungen trifft, 2013, www.socialnet.de/rezensionen/15271.php

[xxxii] Tali Sharot, Die Meinung der Anderen. Wie sie unser Denken und Handeln bestimmt – und wie wir sie beeinflussen, 2017, www.socialnet.de/rezensionen/22651.php

[xxxiii] Hans-Peter Waldhoff, Eros und Thanatos. Psychoanalytische und erkenntniskritische Perspektiven, 2017, www.socialnet.de/rezensionen/23350.php

[xxxiv] Christian Bachhiesl, u.a., Hg., Zufall und Wissenschaft. Interdisziplinäre Perspektiven, 2019, www.socialnet.de/rezensionen/26177.php

[xxxv] Timo Storck, Das dynamisch Unbewusste, 2019, www.socialnet.de/rezensionen/25677.php