Für eine Diktatur der Vernunft

von Dr. Jos Schnurer
15.05.2014

Collage, zusammengestellt von Dr. Jos Schnurer Collage, zusammengestellt von Dr. Jos Schnurer
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10 Postulate

Wie bitte? Sind Diktatur und Vernunft nicht zwei konträre, sich ausschließende Positionen menschlichen Denkens und Handelns? Ist Diktatur nicht die tyrannische, autoritäre und totalitäre Form der interessenbestimmten Machtausübung, die freies, demokratisches Bewusstsein ausschließt? Mit der provozierenden Titelung soll diesen illegitimen Strukturen  n i c h t  das Wort geredet werden. Vielmehr geht es darum, die Probleme zu diskutieren, die sich als (selbstverständliche wie problematisierende) „Erfahrung“ in das menschliche Dasein eingegraben haben; nämlich die Verzweiflung darüber, was in der Menschheitsgeschichte immer wieder passiert: Eigennutz geht vor Vernunft! Unser Menschenbild, so will es das abendländische Vernunftdenken, ist bestimmt von der Auffassung, dass der anthrôpos, der Mensch, in der scala naturae das Zwischenglied zwischen zôon, dem Tier, und theos, Gott, bildet, weil der Mensch als vernunftbegabtes Lebewesen in der Lage ist, eigene Werturteile zu bilden, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden und fähig ist, friedlich und gerecht in Gemeinschaft mit den Mitmenschen, lokal und global, zusammen zu leben [1]. Dieses Bewusstsein hat nicht verhindern können, dass sich der Mensch als des Menschen Wolf zeigt (Thomas Hobbes), was zu der Auffassung geführt hat, der Mensch benötige eine zentrale, äußere Gewalt, damit er sein Dasein bewältigen und seine Rechte ausüben könne  Auch nicht die Auffassung, dass sein individueller freier Wille ihn über alles andere in der Welt stelle, er kraft seiner Fähigkeit, sich die Erde untertan machen könne und solle, wie dies in der biblischen Überlieferung und später im soziologischen Diskurs als idealtypisches, rationalistisches, materialistisches und kapitalistisches Denken (Max Weber) dargestellt wird. Das Dilemma wird deutlich: Ist der Mensch ein „Allmacht“ – oder ein „Mängelwesen“ (Arnold Gehlen)? Schauen wir auf die Entwicklung der Menschheit in den letzten hundert Jahren, so ist es nicht falsch, eher letzterer Interpretation zuzustimmen. Dabei wollen wir uns der Problematik nähern, indem wir die in den ökonomischen und ökologischen Auseinandersetzungen immer drängender gestellte Frage stellen: „Darf der Mensch alles machen, was er kann (oder zu können glaubt)?“. Spätestens, als sieben junge Wissenschaftler des renommierten Massachussetts Institute of Technology (MIT) 1972 eine Prognose vorlegten, dass die Grenzen des Wachstums erreicht seien [2], zwei Jahre später Mihailo Mesarović und Eduard Pestel im zweiten Bericht an den Club of Rome darauf hinwiesen, dass sich die Menschheit an einem Wendepunkt ihrer Geschichte befinde [3], als wiederum etwas mehr als ein Jahrzehnt später die Weltkommission für Umwelt und Entwicklung mit dem Brundtlandt-Bericht davor warnte, dass menschliches, wirtschaftliches Handeln nicht mehr als „business as usual“ fortgesetzt werden könne, sondern das „throughput growt“ (Durchflusswachstum) durch „sustainable development“ (tragfähige Entwicklung) ersetzt werden müsse [4], und als fast zwei Jahrzehnte nach dem MIT-Bericht der Hannöversche Naturwissenschaftler Eduard Pestel eine Bestandsaufnahme darüber vornahm, was die bisherigen Prognosen und Warnungen bewirkt hätten und feststellte, dass es eines weitergehenden Blicks als den auf quantitatives, ökonomisches Wachstums bedarf, nämlich die Einbeziehung von Wirtschaft, Politik, Kultur und Technik 5], spätestens da zeigte sich sowohl das Dilemma, dass die wissenschaftlichen Prognosen nicht eindeutig seien, als auch die diskutierten Lösungsansätze unterschiedlichen Auslegungen unterliegen. Bis zu den aktuellen Analysen und Zustandsbeschreibungen über die „Lage der Welt“ [6] wird deutlich: Theoretische, analytische und prognostische Berichte darüber, dass die Menschheit vor der Herausforderung steht, „umzudenken, sich umzuorientieren und gesellschaftlich umzuorganisieren, kurz: neue Lebensformen zu finden“ [7], liegen zahlreich und in differenzierter Weise vor; es fehlt jedoch der ernsthafte, effektive, global- und human-orientierte Wille zur praktischen Verwirklichung. Woran liegt das? Obwohl mit der Gründung der Vereinten Nationen am 26. 6. 1945 neben der Sicherung des Weltfriedens das Ziel formuliert wurde, „eine internationale Zusammenarbeit herbeizuführen, um internationale Probleme wirtschaftlicher, sozialer, kultureller und humanitärer Art zu lösen und die Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten für alle ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion zu fördern und zu festigen“ [8], und in der Menschenrechtscharta in der Präambel postuliert wird, dass „die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt bildet“ [9], gibt es  Unfrieden, Ungerechtigkeit und Unmenschlichkeit in der Welt. Die ökonomische Situation zeigt sich lokal und global sogar darin, dass die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden. In der wissenschaftlichen Kapitalismus- und Neoliberalismuskritik werden die Ursachen und Gründe für diese inakzeptable Entwicklung verdeutlicht [10]. Einige Aspekte im aktuellen Diskurs werden in „10 Postulaten“ skizziert: Die Metapher lehnt sich dabei an die Vision an, dass es gelingen möge, individuelles und gesellschaftliches, lokales und globales menschliches Dasein an Werten und Normen festzumachen, die sich als allgemein anerkannte und nicht relativierbare „globale Ethik“ darstellt.

1. Menschliches Leben ist Gabe und Verpflichtung!

Wir gehen aus von der „globalen Ethik“, dass ein humanes Leben auf der Erde nur möglich ist, wenn es gelingt, Menschenrechte und –pflichten zu etablieren, die allgemeinverbindlich anerkannt sind und gelebt werden. Der kontroverse Diskurs um die uneingeschränkte Anerkennung der Menschenrechtsdeklaration der Vereinten Nationen zeigt, dass die vielfältigen Versuche, die dort festgelegten Menschenrechte mit kulturellen, historischen oder philosophischen Begründungen zu relativieren, eine allgemeine Anerkennung zu verhindern. Den Herausforderungen, rational und letztbegründlich ethische Grundwerte zu postulieren, stehen individualistische, ethnozentrierte und ideologische Argumente gegenüber. Eine Einigung wird sich dadurch kaum finden lassen. Eine Alternative zeigt der Soziologe und Sozialphilosoph Hans Joas auf, indem er feststellt: Rationale Letztbegründungen sind nicht möglich! Er stellt dagegen eine „affirmative Genealogie des Universalismus der Werte“, indem er der Frage nach der Entstehung der Menschenrechte nicht nur historisch, sondern genealogisch nachgeht. Er verweist auf die Trennbarkeit von Genesis und Geltung im Argumentationsprozess um die Begründbarkeit von Menschenrechten. Es „kann nämlich die Geschichte der Entstehung und Ausbreitung von Werten selbst so angelegt werden, dass sich in ihr Erzählung und Begründung in spezifischer Weise verschränken“. Dabei weist er die seiner Meinung nach unfruchtbare Debatte zurück, ob „die Menschenrechte eher auf religiöse oder auf säkular-humanistische Ursprünge zurückzuführen sind„; vielmehr stellt der Autor fest, dass es eine fundamentale Alternative zu den genannten Positionen gibt: „Sakralität, Heiligkeit…, den Glauben an die Menschenrechte und die universale Menschenwürde als das Ergebnis eines spezifischen Sakralisierungsprozesses aufzufassen…, in dem jedes einzelne menschliche Wesen mehr und mehr und in immer stärker motivierender und sensibilisierender Weise als heilig angesehen und dieses Verständnis im Recht institutionalisiert“ wird [11].

2. Humane Existenz ist nur als Ganzheit und Gemeinsamkeit alles Existierenden auf der Erde möglich!

Weil sich menschlicher Geist evolutionär entwickelt hat und weder vom Himmel gefallen ist oder von überirdischen Mächten gemacht wurde, kann der anthrôpos für sein Dasein kein Alleinstellungsmerkmal beanspruchen. Die anthropologische Auffassung, dass das Humanum auf „einer grundsätzlichen Andersheit der menschlichen Seinsweise gegenüber allem Weltlichen“ beruht, Menschen also alles nur nach menschlichem Maß erfahren, erkennen und bestimmen können, gilt es zu hinterfragen. Eine integrative, ganzheitliche Betrachtung, dass der zôon politikon, der politisch denkende und handelnde Mensch, zôon und anthropon, Tier und Mensch ist, nimmt der Jenenser Philosoph Wolfgang Welsch ein. Der Mensch ist grundlegend nicht ein weltfremdes, sondern ein welthaftes Lebewesen, was bedeutet, „dass der wahre Begriff des Menschen ein anderer ist… (nämlich)… den Menschen … nur aus und in den Prozessen der Welt zureichend verstehen“ zu können. Das Dilemma, dass sich dabei Animalität und Rationalität kreuzen und sich im traditionellen philosophischen Denken eher trennen als verbinden, gilt es zu erkennen und aufzulösen. Der Autor stellt die Frage: „Wie können wir Menschen zugleich Tiere und Vernunftwesen sein?“, bezugnehmend auf die conditio humana, „Wie kann Kultur aus Natur hervorgehen?“. Und er beantwortet sie: Nicht mit hierarchischem, anthropogenem Denken, sondern der Anerkennung von Ebenbürtigkeit und Gleichwertigkeit des Lebens auf der Erde. Die Schlüsselfrage „Wie hältst du Mensch es mit der Welt?“ und das richtige Schloss für den richtigen Schlüssel zum Aufsperren eines Bewusstseinswandels, mündet in der Überzeugung, dass humanes Leben auf der Erde nur möglich ist, wenn es gelingt, die Dinge der Welt „zunehmend in ihren Zusammenhängen (relational), im Ganzen (holistisch) und prozessual (genetisch)“ zu betrachten. Den Perspektivenwechsel vollzieht der Autor von der „Anthropologie zur Ontologie“, und zwar einer „Ontologie von grundsätzlich evolutionärem (genetischem) Zuschnitt“. Eine Erzählung nämlich, utopisch, realistisch oder relational, fordert immer auch die Beweiskraft für Existenz; deshalb sieht der Autor im ontologischen einen inhärenten Zusammenhang zum epistemisch-kognitiven Denken; und damit weist er der Kognition die Bedeutung zu, Sein zu erkennen und zu artikulieren [12].

3. In Würde leben!

Die in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte grundgelegte Prämisse, dass alle Menschen frei und gleich an Würde und Rechten geboren sind, findet sich in allen demokratischen Verfassungen wieder. Grundlegende, gesetzte, erworbene und „gefühlte“ Werte und Normen, die ein gerechtes und friedliches Zusammenleben aller Menschen auf der Erde fordern und regeln wollen, unterliegen freilich immer auch der Misere, dass die dabei implizierten Annahmen von Einsicht, Verantwortungsbewusstsein und Friedfertigkeit allzu oft nicht vorhanden sind und von Egoismen, Opportunismen und Nationalismen überlagert werden. Weil der Begriff der „Würde“ so eindeutig ist und gleichzeitig so unterschiedlich gedeutet wird, ist es notwendig, nach Klarheit im lokalen und globalen gesellschaftlichen Diskurs zu suchen. Der in Bern geborene Philosoph Peter Bieri setzt erst einmal das metaphysische und philosophische Verständnis voraus, das hinter den Würdebegriff steht und definiert Würde „als eine bestimmte Art und Weise, ein menschliches Leben zu leben ... (als) ein Muster des Denkens, Erlebens und Tuns“. Er geht davon aus, dass ein wacher und genauer Blick auf die vielfältigen Lebenserfahrungen genügt, um diesem ethischem Wert auf die Spur zu kommen. Er nähert sich der Herausforderung, indem er drei Fragen stellt: Wie werde ich von anderen Menschen behandelt? – Wie behandle ich andere Menschen? – „Wie stehe ich zu mir selbst?. Es sind fraglos philosophische Fragen nach dem Kantischen Dreischritt: „Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen“. Diese Prämissen lassen sich in Gebote meißeln, in Gesetze gießen oder in Verfassungen schreiben. Damit können sie sich zu Richtschnüren oder Fesseln entwickeln. Es könnte aber auch gelingen, die Würde des Menschen als ein Wagnis zu verstehen, als eine Herausforderung, die im tagtäglichen Denken und Tun sich ausbreitet, konfrontiert und als Hindernis oder gar als Falle auftut: „Unser Leben als denkende, erlebende und handelnde Wesen ist zerbrechlich und stets gefährdet – von außen wie von innen. Die Lebensform der Würde ist der Versuch, diese Gefährdung in Schach zu halten“. Menschliche Würde ist gegeben, sie muss aber tagtäglich im Leben der Menschen neu erworben, erkämpft, bewahrt und verteidigt werden. Dabei ist zu reflektieren, dass die Grundwerte, die der Würde des Menschen aufsitzen – Freiheit, Gerechtigkeit, Frieden – unverzichtbar, überall und für jeden Menschen gültig und nicht relativierbar sind. Würde ermöglichen ist individuelle und gesellschaftliche Aufgabe und Herausforderung! [13].

4. Denken ist Grundlage des individuellen Bewusstseins!

Über Denken lässt sich trefflich streiten! Nach Aristoteles ist noêsis noêseôs, das Denken des Denkens ein Phänomen und ein Problem zugleich. Zum einen wird Denken stets durch das gedachte Objekt bestimmt und ist dadurch Objekt des Denkens; zum anderen hängt die Qualität des Denkens davon ab, was gedacht. Descartes und seine Adepten schließen Empfindungen, Fühlen und Wollen in das Denken ein; Kant sieht in der sinnlichen, vernunftbestimmten Anschauung die Grundlage des Denkens; Heidegger verbindet das Denken mit Metaphysik; und in der Neurophilosophie werden die Erkenntnis- und Kombinationsfähigkeit des Menschen hirnphysiologisch gedeutet. Die Frage „Was tun wir, wenn wir denken?“ beschäftigt die Menschheit philosophisch und alltäglich seit Jahrtausenden. Es ist so selbstverständlich „wie Gehen und Reden, Kauen und Appetithaben“ [14]; und so komplex, kompliziert und stellt sich als kontrovers dar, wenn über das Denken nachgedacht wird. In der philosophischen und psychologischen Diktion ist Denken nur dann bedeutsam, wenn Denken Grundlage des individuellen Bewusstseins ist, sich sowohl als kontinuierlicher wie auch wandelbarer Prozess darstellt und als unabhängiges Denken zeigt – weil der homo intellectus ein von Natur aus mit Vernunft begabtes Lebewesen ist. Die Frage danach, was unabhängiges Denken ist und wie es sich im philosophischen Diskurs zeigt, bedarf der vor-sichtigen Betrachtung, nämlich der historischen Reflexion darüber, wie sich unabhängiges Denken in seinen klassischen Erscheinungsformen entwickelt hat, um Kriterien für gegenwärtiges Denken zu gewinnen. Der (em.) Bielefelder Literaturwissenschaftler Karl Heinz Bohrer macht sich auf die Suche nach der tatsächlichen Bedeutung der Begrifflichkeit, indem er feststellt, dass unabhängiges Denken bestimmt ist von der Individualität, also subjektorientierte Eigenschaft besitzt, als „ein Denken, das aufgrund sehr individueller Impulse seine innovatorische Qualität hat oder den Mut besitzt, dominierenden Denkmotiven zu widersprechen – und diesen Widerspruch in Neuem zu begründen“. Es sind die Kritik an und der Widerspruch von „felsenfesten Gültigkeiten“, die Kulturkritik ausmacht und Ausschau halten lässt und nach einer Art „puritanischer Ernüchterung“. Um die Diskrepanzen und Widersprüche erklären zu können, muss auf „moderne Diskontinuität(en)“ hingewiesen werden. Es gilt, Begrifflichkeiten zu klären, wie sie im Diskurs um den „Momentanismus“ historisch und in der Moderne benutzt werden; etwa, was unter „Verzeitlichung“ beim angesagten Gesetz der Moderne verstanden wird. Der „Moment als Funktion“ und der „Moment als Substanz“ verdeutlichen sich in zahlreichen (literarischen und philosophischen) Fundstellen. Sie machen deutlich, dass „der Wechsel von Funktion zur Substanz innerhalb der Verzeitlichungsmethaphorik nicht einfach epochenhistorisch erklärbar ist“. Bohrer sieht im „agonalen Denken“ die Chance, unabhängiges Denken zu üben, und zwar individuell und im gesellschaftlichen Leben der Menschen, lokal und global [15].

5. Der homo oeconomicus muss zum homo globalis werden!

„Die bloße Gegenüberstellung von Markt und Staat als alternativen Steuerungsmechanismus von Wirtschaft und Gesellschaft ist irreführend“. Das über viele Jahrzehnte hin mit Bedacht und Chuzpe geschriebene und immer wieder (nach-)erzählte Märchen von der Besthaftigkeit und Unkritisierbarkeit des kapitalistischen und neoliberalen Marktgeschehens zeigt Lücken und Leerstellen; zumindest im objektiven und seriösen wissenschaftlichen Diskurs. Immer öfter werden Fragen nach Alternativen zur scheinbar überzeugenden und gängigen Marktwirtschaft gestellt; und seit 2009 sind sie sogar modelpreisgeadelt worden [16]. Im kontroversen Diskurs über den homo oeconomicus geht es um den Konflikt, ob der Mensch dem Markt das freie Spiel überlassen, oder der Staat regulierend eingreifen solle. Der Begriff „freie Marktwirtschaft“ wird in den Zeiten der sich immer interdependenter, entgrenzender und globaler entwickelnden Welt obsolet. Angesichts der Wirtschafts-, Finanz- und Marktkrisen wird es immer dringlicher, das ökonomische Denken und Handeln der Individuen und Gesellschaften auf den Prüfstand zu stellen. Dabei beleben auch Fragen nach den demokratischen Selbstverständnissen (vgl. dazu auch die kontroverse Diskussion [17], nach Gemeinsinn, Solidarität und Empathie [18] den Diskurs. Der Ruf nicht nach weniger, sondern nach mehr und überzeugenderer Demokratie ist die Lösung; so jedenfalls argumentiert seit Jahrzehnten der 1934 geborene Politikwissenschaftler und Wirtschaftskriminologe Hans See. Als Gründer der Aufklärungsorganisation Business Crime Control (BCC) setzt er sich für eine echte Demokratisierung in der Gesellschaft und in der Wirtschaft ein. Die Frankfurter Soziologen und Politikwissenschaftler Reiner Diederich und Gerhard Löhlein haben den Sammelband „Entfesselte Wirtschaft – Gefesselte Demokratie“ 2008 anlässlich des 75. Geburtstages von Hans See herausgegeben. Als Grundthese, die in sämtlichen Beiträgen der insgesamt 21 Autorinnen und Autoren zum Ausdruck kommt, lässt sich formulieren: Die neoliberalen Ideologien in Ökonomie, Politik und Gesellschaft haben nicht nur die aktuellen Wirtschafts- und Finanzkrisen verursacht, sondern führen auch zu einer generellen Krise des demokratischen Systems [19].

6. Nicht was Bildung ist, sondern wie Bildung möglich wird, ist gefragt!

Diese zwar nicht unter Ausschließlichkeitsaspekten formulierte Aussage kommt einer „stillen Revolution“ im bildungstheoretischen und -praktischen Diskurs und einer Aufforderung zum Perspektivenwechsel im Bereich der Bildungsforschung und –praxis gleich. Wenn Bildung, wie es in Artikel 26, Abs. 2 der von den Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 proklamierten Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte heißt, auf die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit und auf die Stärkung der Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten gerichtet sein und Verständnis, Toleranz und Freundschaft zwischen allen Völkern und allen rassischen oder religiösen Gruppen fördern soll, muss Bildung eben mehr und etwas anderes sein als die Anhäufung von (formalem) Wissen. Und hier kommt in den Revisionsprozess bildungstheoretischer Forschung die Frage danach, wie Bildung sich im jeweiligen kulturellen und historischen Zusammenhang darstellt und verändert. Bei der Frage, wie eine „Bildung für alle“ verwirklicht werden kann, ist deshalb die Nachschau nach der biographischen Bedeutung hilfreich; und zwar, betrachten wir Bildung als ein Menschenrecht, als Herausarbeitung von Welt(an)sichten und ihre Wirkungen auf Selbst(an)sichten. Im Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften der Universität Gießen ist Thorsten Fuchs in seiner Dissertation den im Biographieforschungs-Diskurs behandelten Aspekten des Zusammenhangs von bildungs- und biographietheoretischer Reflexion nachgegangen. Er kommt dabei auf mindestens zwei bisher ungeklärte Fragebereiche: Genügen die Ansprüche des erziehungswissenschaftlichen Biographiekonzepts, als Vermittlerin zwischen Bildungstheorie und Bildungsforschung zu wirken? Und: ist dies „ein zwar mit hehrem Anspruch verbundenes Diktum“, das eben den Erwartungen nicht gerecht wird?; zum Zweiten: Bieten die konzeptionellen Ausprägungen der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung Möglichkeiten zur Entfaltung und Weiterentwicklung an? Fuchs Versuch, eine Reformulierung der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung vorzunehmen und dabei exemplarisch lebensgeschichtliche Erzählungen von „Bildungsgestalten“ zugrunde zu legen, stützt sich auf die Überzeugung, dass der Bildungsbegriff eben nicht nur ausgelegt werden sollte, sondern in den individuellen, gesellschaftlichen und kulturellen Wirklichkeiten konkret angelegt werden muss, also der Nachschau, wie Bildung möglich ist. Dabei stehen nicht die bildungspolitischen Herausforderungen im Vordergrund, sondern die Bildungsreflexion als Forschungsgegenstand: „Dementsprechend ist Anliegen und Anspruch der Bildungsforschung `nicht nur die Realität gegebener Bildungsqualitäten angeben zu können, sondern auch noch deren Ursachen` und Prägekraft“ zu benennen [20].

7. Risikokompetenz erwerben!

Leben ist eines der schwierigsten! Weil beim Leben immer auch das Risiko mitspielt! Oder ist Leben eines der natürlichsten Dinge der Welt? Mit solchen Fragen scheinen wir Menschen uns immer wieder schwer zu tun! Denn einerseits zeigt sich im alltäglichen Bewusstsein, dass Ungewissheiten, Unsicherheiten und Krisen unser Leben beeinflussen, stören und bestimmen – so dass die Weltrisikogesellschaft eine globale Verantwortungsethik, eine transnationale Gemeinsamkeitsethik, eine globale Gewaltenteilung und Zusammenarbeit erforderlich machen [21]; andererseits, weil Risiko überall ist und jeweils unterschiedlich wahr genommen und erlebt wird, bedarf es Kompetenzen, wie mit Empfindungen und Abwehrmechanismen gegen Bedrohungen und Katastrophen  umgegangen werden kann. Sogar die Erkenntnis- und Bewältigungsprozesse über den Zustand der Menschheit und der Welt unterliegen aktiven bis passiven und fatalistischen Zugangsformen [22]. Beim Versuch, Risiken zu erkennen, einschätzen und mit ihnen umgehen zu lernen, bietet sich dabei als wissenschaftliche Analysen an, mit denen etwas festgestellt und bewertet wird, um die Diagnose in einem Gutachten, einem Regelwerk, einem Gesetz oder einer Handlungsanweisung umzusetzen; oder (und) das Wagnis einzugehen, sich bei einem gemeinsamen Entdeckungsprozess und Dialog auf die Suche nach der individuell und gesellschaftlich passenden und adäquaten Risikokompetenz zu begeben. Der Psychologe, Direktor des Berliner Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung und des Harding-Zentrums für Risikokompetenz, Gerd Gigerenzer, macht er sich auf den Weg, anhand von einleuchtenden, eher alltäglich erscheinenden Beispielen und Erfahrungen aufzuzeigen, dass jeder den Umgang mit Risiko und Ungewissheit lernen kann (weil er in verständlicher Sprache deutlich und Mut macht, sich des eigenen Verstandes zu bedienen), dass Experten(meinungen) eher ein Teil des Problems als die Lösung sind (weil er verständlich macht, dass die Fähigkeit, Risiken zu verstehen, meist nicht mit Expertisen zu vermitteln ist) und dass weniger mehr ist (weil er zu erklären vermag, dass Problemlösungen nur selten komplex und allumfassend möglich sind). Es sind nämlich die Ungewissheiten, Imponderabilien und Paradoxien, die eine Verwechslung von Logik und Leben provozieren [23]. Die schwierigste Frage, wie Risikokompetenz in die Köpfe und Herzen der Menschen  gebracht werden kann, ist weder mit einem Zauberstab, noch mit einem weltweit ausgestrahlten Computerprogramm, und schon gar nicht durch Verordnungen zu beantworten. Hier ist die Erziehung gefragt, in der Familie, im Kindergarten und in der Schule, und zwar wieder mit einem scheinbar simplen Rat: Fürs Leben lernen! Nicht mit autoritären, frontalen und paternalistischen Konzepten und Methoden: „Dazu brauchen wir Mut, den Mut, selbständige Entscheidungen zu treffen und Verantwortung zu übernehmen“ [24].

8. Vertrauen generieren!

Es ist ein Zauberwort, das eingesetzt wird, wenn scheinbar Gespräche, Situationen und Verhaltensweisen aus dem Ruder zu laufen drohen, wenn Konflikte Kommunikationen erschweren oder gar unmöglich machen. „Vertrauen haben“, als ethische und moralische Charaktereigenschaft hat deshalb im philosophischen, gesellschaftlichen und individuell-alltäglichen Denken und Handeln einen hohen Stellenwert. Der Mensch, so eine biologische Interpretation, entwickelt von sich aus ein Grundvertrauen, insbesondere wenn es um Beziehungen zu anderen Menschen, um Kontakte und Kommunikation geht. Damit Vertrauen aber mehr sein kann als die Abwesenheit von Misstrauen, bedarf es eines Sozialverhaltens, das auf den Grundlagen des Logos wie des Pathos (Aristoteles) beruht. Niklas Luhmann etwa geht davon aus, dass Vertrauen ein elementarer Tatbestand des sozialen Lebens ist. „Vertrauen ist ein Phänomen, das… Komplexität reduzieren kann und Kooperation erleichtert oder überhaupt erst möglich macht“ – diese Lesart steckt in den Gewissheiten, mit denen wir eine vertrauensvolle Einstellung verbinden und einfordern für alle individuellen, lokalen und globalen Lebensbedingungen der Menschen auf der Erde. Dass freilich diese Erwartungen sich nur schwer realisieren lassen, ist eine Binsenweisheit, die die Menschheitsgeschichte durchzieht und immer wieder auch in Frage stellt. Der Mensch als „Lamm“ oder „Wolf“, das bleibt weiterhin die Frage, genauso wie die Erkenntnis, „dass Vertrauen ein komplexes Phänomen ist“. In einer Studie geht der Luzerner Philosoph Martin Hartmann dem Phänomen nach, indem er begrifflich, kulturell und historisch klärt, was Vertrauen ist, wie es entstehen und zerstört werden kann und in welchen Zusammenhängen Menschen sich vertrauenswürdig oder misstrauisch begegnen. Der Autor unternimmt dabei den Versuch zu erklären, dass „die Komplexität des Vertrauens… nicht darauf beruht, dass eine neue Komplexität freigesetzt wird, weil zuvor andere Komplexitäten reduziert werden konnten“; weil es „Gründe des Vertrauens und Gründe des Misstrauens“ gibt, die Interaktionsprozesse bei Menschen bestimmen, rational und emotional. Wenn nämlich Vertrauenseinstellungen moralisiert und als Sollens- und Forderungskataloge formuliert werden, ohne dabei die „härteren“ Variablen, wie etwa Macht, Einfluss und Konvention zu berücksichtigen, realisiert sich Vertrauen nur unzulänglich und versagt nicht selten bei den „raueren“ Wirklichkeiten des Lebens. „Praxisvertrauen“, als die anzustrebende Einstellung zu einem „Vertrauensklima“, ist abhängig von Variablen, die sich zum einen darin zeigen, dass bei einem Klima des Vertrauens zwischen Individuen auch Ungewissheiten, Unsicherheiten und Unbestimmtheiten vorhanden sind, auf die die Beteiligten keinen Einfluss haben; zum anderen es sich um ein komplexes Phänomen handelt, bei dem vielfältige Faktoren wirksam sind, die im einzelnen nicht durchschaut und beherrscht werden können; zum dritten ein Kommunikationsbedürfnis vorhanden ist, das Klärungen avoziert; schließlich neben rationalen auch affektive und emotionale Aspekte wirken [25]. Vertrauenskompetenz erweist sich insbesondere in Krisensituationen als wirksam [26], und zeigt sich in der sich immer interdependenter, entgrenzender und egoistisch entwickelnden Welt als besonders notwendig [27].

9. Machtfähigkeit!

„Die Anforderungen an die Verantwortlichkeit wachsen proportional zu den Taten der Macht“, diese von Hans Jonas formulierte Mahnung [28] gilt es zu bedenken, wenn über legitimierte und illegitime Macht diskutiert wird. Die Herausforderung, wie sie sich als aufklärerische Befreiung aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit darstellt, bedarf der Kantischen Anstrengung: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“. Um dies zu erreichen, brauchen wir nicht nur eine ökonomische, sondern auch eine politische Alphabetisierung [29]. Weil Macht überall ist, wirkt und verführt,  bedarf es einer besonderen Aufmerksamkeit, Macht von Machtmissbrauch zu unterscheiden. Wenn aber Macht zu Unrecht wird, wird Widerstand zur Pflicht – so lautet eine ethische und politische Aufforderung an den Menschen, resistent zu werden gegen die Zumutungen, Verführungen und Wirkungen von Herrschaftsausübung, vor allem wenn es sich um abweichendes, ethisch, moralisch, gesellschaftlich und politisch verwerfliches Verhalten handelt. Der französische Philosoph, Michel Foucault (1926 – 1984) hat sich mit seiner Diskursanalyse auch mit der Frage auseinandergesetzt, inwieweit Macht auch Widerstand hervorruft, gewissermaßen Formen der Resistenz erzeugt, die sich in vielfältiger Weise ausdrücken und zu Tage treten - „mögliche, notwendige, unwahrscheinliche, spontane, wilde, einsame, abgestimmte, kriecherische, gewalttätige, unversöhnliche, kompromissbereite, interessierte oder opferbereite Widerstände“. Foucaults vielfältiges Bemühen, politisches Denken und Handeln der Menschen in der Geschichte und Gegenwart aufzuspüren und zu analysieren, lässt sich im „plebejischen Moment“ erkennen, als „Wunsch, das Spezifische, das Gefährliche des gegenwärtigen Augenblicks in den herrschenden Machtbeziehungen, in der Normalität aufzufinden“ [30]. Der Philosoph Wolfgang Kersting, der an der Kieler Christian-Albrechts-Universität lehrte und insbesondere Fragen der politischen Philosophie thematisierte, wie z. B.: „Recht, Gerechtigkeit und demokratische Tugend“ (1997), „Politik und Recht“ (2000), „Kritik der Gleichheit“ (2002), „Gerechtigkeit und Lebenskunst“ (2005), setzt sich in einem Sammelband mit Fragen von „Macht und Moral“ auseinander [31]. Zu einer demokratischen Machtausübung gehören unabdingbar und unverzichtbar Verantwortung und Disziplin. Denn es sind die Versuchungen und Verführungen, machtpolitisch und materiell, die Machtmissbrauch bewirken. Die „Formeln zur Macht“ (Wilhelm Fucks), wie auch die „Arroganz der Macht“ (George Ball) erfordern, dass über „intelligente Macht“ reflektiert wird. Der US-amerikanische Politikwissenschaftler Joseph Nye setzt sich mit der politischen Machtausübung auseinander und formuliert: „Intelligente Macht ist die Kombination aus ‚harter‘ (mit Zuckerbrot und Peitsche operierender) Macht (hard power) und ‚sanfter‘, auf Überzeugungsarbeit und Attraktion setzender Macht (soft power)“ [32].

10. Die Fähigkeit, alternativ zu denken und zu handeln!

„Wo kämen wir hin, wenn alle sagten, wo kämen wir hin, und niemand ginge, um einmal zu schauen, wohin man käme, wenn man ginge“ – diese „positive Subversion“ stammt von Hans A. Pestalozzi (Nach uns die Zukunft, 1979). Und dass die Wahrheit die Erfindung eines Lügners sei, dieser Rat(schlag) für Skeptiker ist einzuordnen in die Traditionslinie von widerständigem Denken [33]. Die Frage nach dem „Respekt im Zeitalter der Ungleichheit“ [34] provoziert auch die nach dem widerständigem Denken und Handeln [35], sowohl im individuellen, als auch im gesellschaftlichen Leben; und fordert dazu auf, Wissen und Gewissen gleichzeitig und gleichwertig zu entwickeln, sonst geraten Mut und Moral , Skepsis und Vertrauen in eine Schieflage, die Unfreiheit hervorbringt. Der Sozialwissenschaftler Rainer Lehmann fordert in einem „Pamphlet“ zum Ungehorsam auf. Er wendet er gegen die von den Mächtigen sorgsam und gezielt kolportierte Argumentation, dass „Gehorsam“ eine „normale“, friedens- und gesellschaftsstiftende Eigenschaft sei; vielmehr ist er überzeugt, dass „Gehorsam ( ) beiläufig die Voraussetzungen der einzigen, dem Bürger angemessenen Alternative: der Einsicht (vernichtet)“. Ungehorsamkeit führt nicht zum Chaos, sondern ist Menschenrecht und Menschenpflicht; denn „Gehorsam bedarf zwingend einer Begründung, Ungehorsam einer Erklärung, die auch die Notwendigkeit von Tabubrüchen, Regelverletzungen und …von Gesetzesübertretungen vermittelt“. Damit Ängste „nicht Seelen aufessen“, bedarf es mündiger, selbstbewusster und den eigenen Verstand gebrauchender Bürgerinnen und Bürger, die sich nicht nur trauen, ungehorsam gegenüber ungerechten Systemen und Entwicklungen zu sein, sondern Ungehorsamkeit als die Voraussetzung erkennen, dass Menschlichkeit mehr ist als ökonomischer Wohlstand [36]. Da kommt auch der (zwangsläufige oder illusionäre) solidarisch-anarchistische Seitenblick ins Spiel, der nicht egoistisches Aufrührertum ist, oder sich in nihilistischen oder chaotischen Einstellungen zeigt, sondern eine anspruchsvolle und verantwortungsbewusste Herausforderung für eine staatskritische Haltung gegen Hierarchien und undemokratische Strukturen darstellt und sich entweder als Bewegung gegen den Strom des Immer-Mehr-Immer-Schneller-Immer-Höher und als Alternative gegen den Wachstumswahn in der Welt darstellt und sich in der Wiederentdeckung der Gemeingüter zeigt [37], oder vor der „Miniaturisierung der Ordnung“ warnt, die von der offiziellen Macht etabliert wird und nur „Verwirrung, Unordnung, Spontaneität, das Fehlerhafte und Improvisatorische der politischen Macht ... unter einer billardkugelglatten Oberfläche aus Ordnung, Überlegung, Rationalität und Kontrolle zu verbergen“, stiftet [38].

Fazit

Mit der anfangs gewählten Metapher „Diktatur der Vernunft“ sollte ein Unbehagen artikuliert werden: Die Unfähigkeit der Menschen nämlich, vernünftig zu sein. Dabei wurden zwei Argumentationsstränge eingeführt. Zum einen die individuellen, egoistischen Ungenügsamkeiten, entgegen aller Vernunft so unvernünftig zu denken und handeln, dass die individuelle Existenz und globale der Menschheit gefährdet ist, durch ökonomische und materielle Unvernunft, durch kulturelle und politische Vernunftverweigerung; zum anderen die Unfähigkeit, Konflikte nicht durch Hegemonie, Gewalt und ethnozentristische Höherwertigkeitsvorstellungen, sondern durch Kompromisse und Einsichten zu regeln [39]. Die Frage, wie Realität entsteht und wie mit ihr im Sinne eines humanen Anspruchs umgegangen werden kann, lässt sich natürlich nicht ein-deutig (also simpel) beantworten. Denn die Erfahrung ist präsent: „Der Versuch, mit jemandem zu kommunizieren, der ein anderes Weltbild benutzt als man selbst, und sich dessen nicht bewusst zu sein, kann nur Verwirrung auslösen“ [40]. Die Gefahr (oder Versuchung), daraus nun  Ordre-Mufti- und Basta-Einstellungen zu entwickeln, ist groß. Der Weg hin zu diktatorischen oder fatalistischen Auffassungen hingegen ist kurz. Dagegen helfen nicht Alarmismus oder Katastrophenstimmung, sondern nur die Entwicklung eines zivilgesellschaftlichen Bewusstseins, das auf Verantwortung beruht [41]. Es kommt darauf an, der Komplexität der vielfältigen menschlichen Lebens- und Handlungssituationen auf die Spur zu kommen. Hier sollten nicht der „Knüppel“ oder die unkontrollierte und nichtlegitimierte Macht von Einzelnen oder Institutionen zum Einsatz kommen, sondern Kommunikations-, Führungs- und Verhaltensverständnisse, die den individuell und gesellschaftlich, national und international, ökonomisch und ökologisch sich radikal verändernden Entwicklungen gerecht werden [42]. Damit allerdings sollte auch klar geworden sein, dass Vernunft nicht diktatorisch zu haben ist, es sei denn als gleichförmiges, undifferenziertes, auf Schwarz-Weiß-Denken beruhendes Denken! Autor
Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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[1] S. Föllinger, in: Otfried Höffe, Aristoteles-Lexikon, Stuttgart 2005, S. 47ff; sowie: Hellmut Flashar, Aristoteles. Lehrer des Abendlandes, 2013, zur Rezension

[2] Dennis L. Meadows, u.a., Die Grenzen des Wachstums, Stuttgart 1972, 183 S.

[3] Mihailo Mesarović / Eduard Pestel, Menschheit am Wendepunkt, Stuttgart 1974, 184 S.

[4] WCED, Our Comnon Future / Weltkommission für Umwelt und Entwicklung, Unsere Gemeinsame Zukunft, hrsg. Volker Hauff, Greven 1987, 421 S.

[5] Eduard Pestel, Jenseits der Grenzen des Wachstums, Stuttgart 1988

[6] Worldwatch Institute (Hrsg.): Nachhaltig zu einem Wohlstand für alle. Rio 2012 und die Architektur einer weltweiten grünen Politik, 2012, zur Rezension (sowie die Rezensionen der weiteren, jährlich erscheinenden Berichte des WWI in socialnet)

[7] Deutsche UNESCO-Kommission, Unsere kreative Vielfalt. Bericht der Weltkommission „Kultur und Entwicklung“ (Kurzfassung), 2., erweit. Ausgabe, Bonn 1997, S. 18

[8] VN-Charta, Art. 1, in: Deutsche UNESCO-Kommission, Internationale Dokumente, Bonn 1981, S. 20

[9] a.a.o., S. 48

[10] Jos Schnurer, Ist Geld die Quelle allen Übels – oder hat Geld immer recht? In: www.socialnet.de/materialien/168.php (sowie weitere Literaturbesprechungen in socialnet)

[11] Hans Joas, Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte, 2011, zur Rezension

[12] Wolfgang Welsch, Homo mundanus. Jenseits der anthropischen Denkform der Moderne, 2012, zur Rezension

[13] Peter Bieri, Eine Art zu leben. Über die Vielfalt menschlicher Würde, 2013, zur Rezension

[14] Carl Friedrich Graumann, Hrsg., Denken, Köln 1969, S. 16

[15] style='font-size:10.0pt;font-weight:normal'>Karl Heinz Bohrer, Selbstdenker und Systemdenker. Über agonales Denken, 2011, zur Rezension

[16] Elinor Ostrom, Was mehr wird, wenn wir teilen. Vom gesellschaftlichen Wert der Gemeingüter, 2011, zur Rezension

[17] Reiner Klingholz, Sklaven des Wachstums. Die Geschichte einer Befreiung, 2014, www.socialnet.de/rezensionen/16526.php; Kenneth Minogue, Die demokratische Sklavenmentalität. Wie der Überstaat die Alltagsmoral zerstört, 2013, zur Rezension

[18] Jeremy Rifkin, Die empathische Zivilisation. Wege zu einem globalen Bewusstsein, 2010, zur Rezension

[19] Reiner Diederich / Gerhard Löhlein (Hrsg.): Entfesselte Wirtschaft - gefesselte Demokratie, 2009, zur Rezension

[20] Thorsten Fuchs, Bildung und Biographie. Eine Reformulierung der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung, 2011, zur Rezension

[21] Ulrich Beck, Weltrisikogesellschaft. Auf der Suche nach der verlorenen Sicherheit, 2007, zur Rezension

[22] Manfred Lütz, Bluff! Die Fälschung der Welt, 2012, zur Rezension

[23] vgl. auch: Fritz B. Simon, Wenn rechts links ist und links rechts. Paradoxiemanagement in Familie, Wirtschaft und Politik, 2013, zur Rezension

[24] Gerd Gigerenzer, Risiko. Wie man die richtigen Entscheidungen trifft, 2013, zur Rezension

[25] Martin Hartmann, Die Praxis des Vertrauens, 2011, zur Rezension

[26] Markus Weingardt, Hrsg., Vertrauen in der Krise. Zugänge verschiedener Wissenschaften, 2011, zur Rezension

[27] Ute Frevert, Vertrauensfragen. Eine Obsession der Moderne, 2013, zur Rezension

[28] Hans Jonas, Technik, Medizin und Ethik, Frankfurt/M. 1987, S. 45

[29] Dirk Lange / Sebastian Fischer, Hrsg., Politik und Wirtschaft im Bürgerbewusstsein, 2011, zur Rezension

[30] Daniel Hechler / Alex Philipps, Hg., Widerstand denken. Michel Foucault und die Grenzen der Macht, Bielefeld 2008, zur Rezension

[31] Wolfgang Kersting, Macht und Moral. Studien zur praktischen Philosophie der Neuzeit, 2011, zur Rezension

[32] Joseph Nye, Macht im 21. Jahrhundert. Politische Strategien für ein neues Zeitalter, 2011, zur Rezension

[33] Heinz von Foerster / Bernhard Pörksen, Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. Gespräche für Skeptiker, 2011, zur Rezension

[34] Richard Sennett, Respekt im Zeitalter der Ungleichheit, 2004, zur Rezension

[35] Helmut Ortner, Widerstand ist zwecklos. Aber sinnvoll. Notwehr-Notizen von der Heimat-Front, 2014, zur Rezensionv

[36] Rainer Lehmann, Aufforderung zum Ungehorsam, 2013, zur Rezension

[37] Silke Helfrich / Heinrich-Böll-Stiftung, Hrsg., Commons. Für eine neue Politik jenseits von Markt und Staat, 2012, zur Rezension

[38] James C. Scott, Applaus dem Anarchismus. Über Autonomie, Würde, gute Arbeit und Spiel, 2014, zur Rezension

[39] Andreas Heinemann-Grüder / Isabella Bauer, Hrsg., Zivile Konfliktbearbeitung. Vom Anspruch zur Wirklichkeit, 2013, zur Rezension

[40] Lawrence LeShan, Das Rätsel der Erkenntnis. Wie Realität entsteht, 2012, zur Rezension

[41] Siegfried Schiele, Demokratie in Gefahr? 2013, zur Rezension

[42] Rudolf Wimmer / Katrin Glatzel / Tania Liekweg, Hrsg., Beratung im Dritten Modus. Die Kunst, Komplexität zu nutzen, 2014, zur Rezension