Freiheit, die ich meine! – Macht macht Macht!

von Dr. Jos Schnurer
17.09.2017

Collage: Dr. JOs Schnurer
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Eine freiheitliche, globale Zeitenwende wurde erhofft, als um die Jahrhundertwende die beiden konträren Weltmächte, der Westen und der Osten, sich anschickten, den „Kalten Krieg“ mit der Bedrohung durch Atomwaffen kontrolliert einzuhegen. Die Situation, dass „eine Handvoll von Männern in zwei widerstreitenden Lagern die Macht verschafft, einen Großteil der Menschheit in die Luft zu sprengen“ schien gebannt[1]; die Hoffnung auf einen „globalen Frieden“ keimte auf; die in der „globalen Ethik“ postulierte Erkenntnis, dass „die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt bildet“[2] hatte (scheinbar) die Chance, verwirklicht zu werden.

Doch wieder sind es eine Handvoll Männer, die als Ideologen, Demagogen und Antidemokraten – Trump in den USA, Kim Jong Un in Nordkorea, Putin in Russland, Erdogan in der Türkei…, die mit den altbekannten Mitteln der außenpolitischen Provokation von selbstgemachten innenpolitischen Problemen abzulenken versuchen und so internationale Konflikte herbeiführen. Politische Analysten fragen sich (eher hilflos), was Machthaber antreibt, gegen jede Vernunft den Frieden durch unfriedliche, provokante und aggressive Mittel aufs Spiel zu setzen. Mit dem Blick auf subjektiv ausgewählte, in den letzten Jahren bis heute im Internet-Rezensionsdienst www.socialnet.de vorgestellte gesellschafts- und politikwissenschaftliche Literatur wird die These formuliert:

Politischer und gesellschaftlicher Unfriede entsteht durch „Arroganz der Macht“!

Der Begriff „Arroganz der Macht“ wurde mit Bezug auf die US-amerikanische Politik während des „Kalten Krieges“ durch den Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses im Senat, William J. Fulbright, 1966 geprägt. Als Begründung analysierte er, was sich beinahe wie eine Einschätzung der heutigen, gesellschaftlichen und politischen Situation von heute anhört:  "Es gibt zwei Amerikas: Das Amerika Lincolns (...) und das andere. Das eine ist großzügig und human, das andere ehrgeizig und egoistisch; das eine ist selbstkritisch, das andere ist selbstgerecht; (...)  das eine hat Humor, das andere ist feierlich; (...) das eine ist einsichtig, das andere im Gebrauch großer Macht arrogant"[3]. Politiker geraten durch Machtausübung, Machtfülle und Machtlust allzu leicht in die Falle der Selbst- und Machtüberschätzung. Dass dabei sowohl persönliche und intellektuelle Unzulänglichkeiten eine Rolle spielen, als auch mangelnde oder fehlende Korrektoren und Kritiker („Ja-Sager“), haben Soziologen, Historiker, Psychologen und Psychoanalytiker längst nachgewiesen. So kann der Eindruck entstehen, dass der Politiker in seiner Machtausübung „beratungsresistent“ sei. Machtarrogante Menschen sind eine Gefahr für freiheitliches, demokratisches Denken und Handeln! Denn wohlweislich wird die Demokratie von der Dreiteilung der staatlichen Macht bestimmt: Der Exekutive als ausführende, der Legislative als gesetzgebende und der Judikative als rechts- und kontrollierende Gewalt. 

Die Janusköpfigkeit des Freiheitsbegriffs

Es ist eine tautologische und eigentlich überflüssige Feststellung, dass Freiheit nicht nur ein Wort ist, sondern die humane Existenz des Menschen betrifft. Doch kaum ein Wert, der die Humanität der menschlichen Existenz ausmacht, wird in der Geschichte der Menschheit so in Frage gestellt wie der Freiheitsbegriff und durch die (un-)freiheitliche Wirklichkeit konterkariert. Es sind Fragen, die das persönliche und kollektive, das lokal- und globalgesellschaftliche und das physisch-psychologische Menschsein betreffen, wie zum Beispiel:

  • Worin besteht das Erlebnis der Freiheit?
  • Ist der Wille zur Freiheit naturgegeben oder menschengemacht?
  • Welche Einflüsse haben individuelle, kulturelle, politische und ideologische Wertvorstellungen?
  • Bedeutet Freiheit nur Abwesenheit von äußerem Druck oder auch die Anwesenheit von etwas Positivem?
  • Welche sozialen und ökonomischen Ursachen hat das Streben nach Freiheit?
  • Kann Freiheit auch zur Last werden?

Bereits mit diesen Fragen wird die Mehrdeutigkeit des Freiheitsbegriffs deutlich. Denn Freiheitsstreben wird den Menschen weder in die Gene gelegt, noch entsteht es ausschließlich durch soziale und kulturelle Umweltprozesse: „Gesellschaftliche Bedingungen beeinflussen ideologische Erscheinungen vermittels des Charakters. Charakter andererseits ist nicht das Ergebnis passiver Anpassung auf Grund von Elementen, die entweder der menschlichen Natur eingeboren sind, oder als Resultat historischer Entwicklung ihr inhärent werden“, so formuliert es Erich Fromm in seinem Buch „Furcht vor der Freiheit“ (1941/1993). Ein Freiheitsbewusstsein muss also erworben werden, und zwar in allen Bildungs- und Erziehungsprozessen, die Menschen Zeit ihres Lebens durchlaufen. Keine menschliche Gemeinschaft kann ohne Freiheit existieren, will sie sich nicht aufgeben oder darauf verzichten, was Menschsein ausmacht! In kaum einem anderen Existenz- und Sehnsuchtsbegriff verdeutlicht sich die Diskrepanz von Willentlichkeit und Wirklichkeit so wie im Wort und in der Wirkung von Freiheit. Es sind sowohl die unendlichen Weiten und Horizonte, die Freiheit ermöglichen, als auch die von Menschen gebauten Zäune, Mauern und Minenfelder, wie auch die unsichtbaren Wände, die Freiheit einschränken oder verhindern. „Die Freiheit hat für den Menschen generell und für die Moderne im besonderen eine konstitutive Bedeutung“; diese These stellt der Tübinger Philosoph Otfried Höffe an den Anfang seiner Studie über die „Kritik der Freiheit“, ganz im Sinne der abendländischen philosophischen Traditionen, dass ein Nachdenken über sich, Gott und die Welt immer Lebenskunst darstellt und verbunden sein muss mit individueller Identitätsfindung und Gesellschaftskritik. Höffe bestimmt Freiheit als das höchste Gut der Menschen. Er verweist darauf, dass Freiheit keine Erfindung der Moderne ist, es aber zur Freiheit in der Moderne auch keine Alternative gibt. Es ist das Streben der Menschen nach einem guten, gelingenden Leben, das ohne Freiheit nicht zu haben ist, Mit den Freiheitsmöglichkeiten, wie sie die Moderne bereitstellt oder auch avisiert, bilden sich jedoch auch die Freiheitsgefahren; zum Guten gesellt sich das Böse: „Weder zum Prinzip Freiheit noch zum Projekt der Moderne gibt es eine grundsätzliche Alternative. Ebenso grundsätzlich bedürfen sie immer wieder der kritischen Erneuerung“. Mit den in der Studie aufgewiesenen Freiheitswerten – der Freiheit von Naturzwängen, der ökonomischen und gesellschaftlichen Freiheit, der intellektuellen und künstlerischen Freiheit, der politischen Freiheit und der personalen Freiheit – kann Freiheit errungen werden[4].

Zôon politikon

Der Mensch ist kraft seiner Vernunftfähigkeit, der Kompetenz, Allgemeinurteile zu bilden und zwischen Gut und Böse unterscheiden zu können, ein politisches Lebewesen[5]. Die Überzeugung, dass „das Politische ( ) Grundzug der Persönlichkeitsbildung (ist)“ verweist darauf, dass individuelles und kollektives menschliches Denken und Handeln immer auch ankert im Echo des menschlichen Miteinanders – wenn es sich um eine freiheitliche, demokratische und humane Gemeinschaft handelt. Damit ergibt sich die Erkenntnis, dass Demokratie als die beste, menschliche Lebensform verstanden, angestrebt und verwirklicht werden sollte. Der Hannoversche Philosoph Oskar Negt zeigt in seiner Autobiographie auf, dass sich der politische Mensch darum kümmern müsse, wie er den Sinn seines Lebens bestimmt und sein existentielles Dasein darauf ausrichtet, Erfahrungen umgeht und sein Leben verändert, wie er die eigenen und fremden Verhaltensweisen bewertet, und schließlich, wie er seinen eigenen Charakter verantwortlich prägt[6].

Wir brauchen eine politische Alphabetisierung! 

Angesichts der zwiespältigen, lokalen und globalen, gesellschaftlichen Entwicklungen, dass in der sich immer interdependenter, entgrenzender, globalisierter und (scheinbar) anonymer entwickelnden Welt Ego- und Ethnozentrismen zunehmen und populistisches, fundamentalistisches und nationalistisches Denken und Handeln stärker werden, sind die Rufe nach der Entdeckung und Verteidigung von demokratischen, freiheitlichen Werte- und Normenvorstellungen notwendig. Beim friedlichen Zusammenleben, den Fragen nach den Voraussetzungen und Möglichkeiten zur Bürgerbeteiligung und Mitbestimmung, bei der gesellschaftlichen Innovation und bei den Aufforderungen zur Zivilcourage braucht es theoretische und praktische Anregungen und Konzepte. Es sind Fragen wie: „Warum mehr Bürgerbeteiligung?“ – „Was ist Bürgerbeteiligung?“, Informationen über „Verfahren der Bürgerbeteiligung“ und „Kategorisierung der Beteiligungsverfahren“ und Aspekte über „Voraussetzungen der Bürgerbeteiligung“. Zwar wird deutlich, dass es keine allgemeinen Rezepte für Bürgerbeteiligung gibt; doch aus Praxis- und Fallbeispielen lassen sich Strukturen und Zielsetzungen erkennen, wie konkret, lokal und global  politische und gesellschaftliche Selbst- und Mitbestimmung funktionieren kann[7].

Unfreiheit schafft soziale Kälte

Ingeborg Bachmann entlarvt mit ihrem Gedicht „Reklame“ die Unbekümmertheiten, Beruhigungs-, Ruhestellungsstrategien und Sorglosigkeiten mit der Frage: „Wohin aber gehen wir?“. Es sind Fragen, die im wissenschaftlichen, gesellschaftspolitischen Diskurs immer deutlicher gestellt werden, angesichts der konsumtiven, vorurteilsbestimmten und risikobehafteten Entwicklung in der Welt. Kapitalismus- und Gesellschaftskritik sind Mittel und Wege, um die Irrwege und Stoppstraßen einer egoistischen und dominanten, lokalen und globalen Gesellschaftsentwicklung entgegen zu treten. Wenn von „Raubtier- und Kamikaze-Kapitalismus“ (David Graeber) gesprochen wird, soll ja darauf hingewiesen werden, dass soziale Ungerechtigkeiten dafür schuld sind, wenn lokal und global die Wohlhabenden immer reicher und die Habenichtse immer ärmer werden. Im gesellschaftlichen Diskussionsprozess konkurrieren sie nach wie vor miteinander. Die sich dabei herausbildende Schichtung in der Gesellschaft verliert ihre Kitt-Wirkung, wenn einzelne Schichten, wie etwa derzeit die so genannte „Mittelschicht“ ausfallen oder ausfransen und so ihre Stabilisierungs- und Balancefunktionen verliert, oder wenn „Ober- und Unterschicht“ so auseinanderdriften, dass von Gerechtigkeit nicht mehr die Rede sein kann.

„Die feine Gesellschaft schließt sich ab und andere aus“.

Die Angst geht um in der Gesellschaft; zum einen bei denjenigen, die Haben und Ängste entwickeln, ihren (wohlverdienten) Wohlstand weggenommen zu bekommen oder in ihren gated Communities nicht bewahren zu können; und bei den Habenichtsen, endgültig zum Proletariat abzusinken. In der Spannweite von Lebensentwürfen und gesellschaftlichen Bedingungen zwischen der Verbesserung der ökonomischen, kapitalistischen Ordnung und eines radikalen Perspektivenwechsels hin zu einer Gesellschaft, in der tatsächlich alle Menschen gleich sind, bleiben als Lackmustest die Fragen: „Wer ist, wer soll Teil des Sozialverbundes sein? Was ist der Einzelne bereit, sich diesen sozialen Zusammenhalt kosten zu lassen. materiell und immateriell? Wen kostet es etwas, dass diese Gesellschaft eine Gesellschaft bleibt?“. Ein auf der Basis des humanen Rechts fußender Gesellschaftsvertrag muss auf den Werten  Leistungs-, Solidar- und vorleistungsfreien Gerechtigkeit beruhen[8].

Die Allgemeingültigkeit und Nichtrelativierbarkeit der Menschenrechte

Die in der Menschenrechtsdeklaration der Vereinten Nationen formulierten Freiheiten bündeln in Artikel 1, in dem es heißt: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen“. Dass dies keine natürliche Selbstverständlichkeit ist, sondern von zahlreichen Imponderabilien, macht-, mentalitäts-, kulturbestimmten historischen und aktuellen Einstellungen bestimmt wird, zeigt der kontroverse Diskurs, der seit der Proklamation der Menschenrechtserklärung von 1948 besteht. Dadurch wird deutlich, dass die Durchsetzung der Menschenrechte nicht als „Himmelsgeschenk“ zu erwarten ist, sondern von jedem Menschen zu jeder Zeit, mit seinen Möglichkeiten und seiner Kraft aktiv befördert und verwirklicht werden muss. Diese Herausforderung gilt es immer wieder zu erinnern und als Allgemeinbildung zu fördern.

Die Auseinandersetzungen um die universelle Geltung der Menschenrechte bestimmen bis heute den Diskurs. Zahlreiche Menschenrechtsverletzungen werden tagtäglich und in vielen Ländern und Gesellschaften der Erde registriert; immerhin wenigstens „registriert“, werden die einen sagen, „mehr nicht?“ werden die anderen fragen. Das Dilemma ist deutlich! In der Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte heißt es, zur Begründung der Proklamation der Menschenrechtsdeklaration u.a., „da Verkennung und Missachtung der Menschenrechte zu Akten der Barbarei führten, die das Gewissen der Menschen tief verletzt haben, und da die Schaffung einer Welt, in der den Menschen, frei von Furcht und Not, Rede- und Glaubensfreiheit zuteil wird, als das höchste Bestreben der Menschheit verkündet worden ist…, proklamiert die Generalversammlung diese Allgemeine Erklärung der Menschenrechte als das von allen Völkern und Nationen zu erreichende gemeinsame Ideal“[9].

Die Hoffnung auf Verwirklichung eines guten, gelingenden Lebens für jeden Menschen auf der Erde, diese anthropologische Vision ist Grundlage der Menschenrechtserklärung und damit das Faktum für eine globale Ethik. Menschenrechte lassen sich nur im Rahmen eines freiheitlichen und demokratischen Rechtsanspruchs auf der Basis von individuellen und kollektiven Rechten und Pflichten verwirklichen. Der Historiker von der Universität Freiburg, Jan Eckel, setzt sich mit einer umfangreichen Studie mit der Entwicklung der neuzeitlichen Menschenrechtsidee auseinander. Mit dem Titel „Die Ambivalenz des Guten“ bringt er zum Ausdruck, dass die als „globale Ethik“ bezeichnete Allgemeine Erklärung der Menschenrechte als zeitbezogene, geschichtlich gewordene und von Menschen gemachte Suche nach einem guten, gelingenden Leben gelingen und scheitern kann. Dies zu analysieren und zu erkennen, erfordert eine Auseinandersetzung mit der Geschichte und damit, wie wir geworden sind, wie wir sind, eingebunden in gesellschaftliche und politische Bedingtheiten und Veränderungsprozesse. Jan Eckel versucht dies damit, „die großen, grundlegenden Entwicklungslinien nachzuzeichnen und das Geschehen zu periodisieren“. Mit der breiten, umfassenden Ausdifferenzierung der historischen Prozesse zum internationalen Menschenrechtsdiskurs stellt er Zusammenhänge her und öffnet den Blick für lokale und globale Entwicklungen, die sich insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg im Rahmen eines internationalen, menschenrechtlichen Politikfeldes herausbilden[10].

Rationale und emotionale Kommunikation 

Demagogen und Ideologen arbeiten gern mit emotionalen Ja-Nein-Antworten und allzu simplen und vereinfachenden Argumenten und erzeugen so eine nationalistische, ethnozentrische, egoistische und populistische Massenstimmung. Damit aber werden menschliche Gefühle missbraucht. Emotionen aber sind nicht nur Affekte und Gemütsbewegungen, sondern sollen bestimmt werden von Einschätzungen und Bewertungen. Diese Zuschreibung berührt die ganze Tragweite des philosophischen Nachdenkens über Rationalität und Emotionalität. In der griechischen Philosophie wird „pathos“ als Widerfahrnis und Affekt bezeichnet, „was einem widerfährt“ und „was man erleidet“, also als negative und positive Vorgänge, wie etwa Begierde, Zorn, Furcht, Mut, Neid, Freude, Zuneigung, Hass, Sehnsucht, Eifersucht und Mitleid benannt, oder als Affekte, Sanftmut, Scham, Freundlichkeit als Tugenden und Verhaltensweisen bezeichnet[11].

Eine besondere Herausforderung beim philosophischen Denken über alle Zeiten hinweg gilt der Frage, ob und ggf. wie Affekte, die sich als Gemütsbewegungen darstellen, durch die Vernunft steuer- und beherrschbar sind. Im abendländischen Denken erhält dabei die Emotion einen eher negativen Beigeschmack, mit der Herausforderung, emotionales Verhalten dem rationalen Denken unterzuordnen. Die Herausforderung ist erkennbar: Wenn Emotionen mehr sein sollen als nicht steuerbare und nichtbeeinflussbare Gemütsbewegungen, die Willkür, Macht, Gewalt und momentane Verhaltensweisen hervorbringen und damit ein gerechtes, friedliches und gedeihliches Zusammenleben der Menschen auf der Erde unmöglich machen, bedarf es neuer Stellschrauben, Denk- und Verhaltensmodelle. Die US-amerikanische Philosophin Martha C. Nussbaum hat in ihrem Buch „Polical Emotion. Why Love Matters für Justice“ (2013) darauf hingewiesen, dass die Theorie der politischen Emotionen von normativen Festlegungen ausgeht, die auf dem „politischen Liberalismus“ beruhen und das Freiheitsdenken in den Mittelpunkt stellen. Gerechtigkeit braucht Liebe! Stabilität ist ohne ein emotionales Engagement nicht möglich! Das Streben nach Gerechtigkeit geht mit Unvollkommenheit einher! Martha M. Nussbaum erhebt nicht den Anspruch, „permanent echte Gefühle“ zu propagieren, sondern „nur, dass genügend Menschen in einem genügend großen Zeitraum genügend empfinden“[12].

Die gesellschaftspolitische Bedeutung der Autonomie

Der heftige, kontroverse, theoretische und praktische Diskurs in den Sozialwissenschaften über die Formen und Zuschreibungen zum Autonomiebegriff, und in diesem Zusammenhang zu den Modernisierungstendenzen hin zu „flachen Hierarchien“, scheint sich von den Flachgewässern und sumpfigen Gebieten bis zu den Untiefen der Existenznachschau zu vollziehen. Die Paradigmen, wie sie sich zu den Bestandsaufnahmen und Analysen über Freiheit und Gemeinschaft, Normativität und Kritik, Wahrheit und Ideologie, Recht und Subjektivität, Kapitalismuskritik, Klassenkampf und Politische Praxis Hier und Heute darstellen, verweisen ja einerseits darauf, dass mit dem traditionellen Begriff der Autonomie eher Beziehungslosigkeit und Isolation entstehen, die wiederum zu Einschränkungen bei den Ansprüchen für eine autonome Lebensführung führen können und Ideologien und Beeinflussungen Tür und Tor öffnen[13]; andererseits zeigt sich an der Kritik am traditionellen Autonomie-Paradigma, dass sich der Mensch als homo faber durch denkendes Tun erschafft und entwickelt: Kooperation verbessert die Qualität des sozialen Lebens. Darin steckt der Gedanke: Global denken, lokal handeln. So lässt sich Gemeinschaft als ein „Prozess des In-die-Welt-Kommens vorstellen, in dem die Menschen den Wert direkter persönlicher Beziehungen und die Grenzen solcher Beziehungen herausarbeiten“[14]. Autonomie als einerseits abgeschriebener, überholter, andererseits als aktuell moderner und perspektivenreicher Begriff wird im wissenschaftlichen Diskurs hoch gehandelt. Insbesondere in der Soziologie führen Fragestellungen nach der Bedeutung von Autonomie für soziale Daseinsformen und -existenzen darum, den normativen, öffentlichen Begriffsverwendungen deskriptive und analytische Beschreibungen entgegen zu setzen. Das erfolgt zum einen dadurch, Autonomie als gesellschaftlichen Wert zu definieren; zum anderen aber – und das in zunehmendem, engagiertem Maße – werden Theorie- und Praxisfragen danach gestellt, wie Autonomie konzeptionell gefasst ist und Autonomiegewinne und- verluste empirisch zu ermitteln sind[15]

Wo bleibt die Moral?

Individuelles und kollektives Denken und Handeln der Menschen muss, wenn es human und menschenwürdig erfolgt, auf verbindlichen Regeln, Vereinbarungen und Werturteilen beruhen,  die den anthrôpos aufgrund seiner Vernunftbegabung an die oberste Stufe der scala naturae gestellt hat. Diese abendländische, anthropologische, aristotelische Betrachtung des Humanum ordnet die Moral als innere Verpflichtung des Menschen zum Gutsein ein und stellt moralisches Verhalten als wünschenswerte und naturgesetzliche Normen dar, die „nur als universell gültige und die ganze Menschheit bindende  angenommen werden dürfen“[16]. Moralische Einstellungen und Verhaltensweisen beim menschlichen Umgang miteinander wirken, nach den moralphilosophischen Vorstellungen, erst einmal in zweierlei Hinsicht: Da sind zum einen die altruistischen, empathischen Positionen, nach denen ein humanes, friedliches und gerechtes Zusammenleben der Menschen unverzichtbar und konstitutiv ist, sich in Einstellungen wie Fairness und Gerechtigkeitsempfinden ausdrückt und in verschiedenen, utilitaristischen Formen wirksam wird[17]. Und zum anderen auf einem rechtsmoralischem, historischem und rationalem Denken[18]. Weil es nämlich schwierig ist, moralisch zu sein, und unmoralische, egoistische Einstellungen und Entscheidungen tagtäglich, individuell und lokal- und globalgesellschaftlich an der Tagungsordnung sind und menschliches Dasein auf der Erde bestimmen, ist es immer wieder verdienstvoll, sich mit dem moralischen Gewordensein und den evolutionären und revolutionären Entwicklungen auseinander zu setzen und die verschiedenen Phänomene und Ausprägungen beim philosophischen Moraldiskurs zu bedenken.

Der Direktor des Leipziger Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie, Michael Tomasello verdeutlicht die Bedingungen und Entwicklungen, wie menschliches Sozialleben evolutionär und historisch entstanden ist und sich aktuell darstellt, nämlich als „zweistufige Abfolge der Evolution … zuerst (als) neue Formen der Zusammenarbeit und dann neue Formen der Kulturgestaltung“. Daran knüpft er mit seiner Untersuchung: „Eine Naturgeschichte der menschlichen Moral“ an. 

Die Frage, welche Ursachen und Gründe vorhanden sind, weshalb in der Menschheitsgeschichte Gemeinschaften überleb(t)en und andere nicht, wird immer wieder gestellt[19]. In der Spannweite vom homo oeconomicus hin zum homo empathicus und schließlich zum zôon politikon kommt es darauf an zu erkennen, dass die im Individuellen und in einer zweitpersonalen Moral verankerten Denk- und Verhaltensweisen von Menschen auf kulturellen und sozialen Normvorstellungen und –diktionen beruhen[20].    

Nationale oder Weltgesellschaft?

Die intellektuellen und emotionalen, alltäglichen Herausforderungen, den Menschen ein Bewusstsein und den Willen zu vermitteln, dass sie aufgeklärt sein wollen[21], ist eine allgemeinbildende Aufgabe. An der Universität Hildesheim haben Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftler im Sommersemester 2013 eine Ringvorlesung durchgeführt, in der die Spannweite Weltereignisse – Weltmedienereignisse – weltgeschichtliche Zäsuren auf den interdisziplinären Diskussions- und Prüfstand gestellt wurden. Die Fächer Geschichte, Politikwissenschaft und Soziologie gingen den Fragen nach, ob und wie die Jahre und Zeitläufte 1989, 2001 und 2011als weltgeschichtliche, weltgesellschaftliche und weltpolitische Zäsuren verstanden werden können. Weil „Zäsuren“ keine übermächtigen Betonklötze oder unabänderliche Schicksalsschläge sein sollen, sondern als Ereignisse verstanden werden, die  Veränderungsprozesse in der aktuellen Weltgeschichte bewirken, sind Neujustierungen von Macht- und Kräfteverhältnissen und Perspektivenwechsel notwendig, die neue Blickrichtungen „auf die verschiedenen und miteinander gekoppelten Systeme von Weltgesellschaft, Weltpolitik, Weltwirtschaft, Weltkultur und Weltrecht“ ermöglichen[22].

Fazit

Ein menschenwürdiges, friedliches und gerechtes Zusammenleben der Menschen auf der Erde ist nur möglich, wenn ein gemeinsames Verständnis von Ordnungsrecht und –macht erzielt werden kann[23]. Davon sind wir Hier und Heute noch weit entfernt. Immerhin: Der Widerstand gegen die undemokratischen, populistischen, rassistischen und nationalistischen Machtversuche von Anti-Demokraten in der Welt wächst – in den USA, in der Türkei, in Polen, Ungarn… Das macht Mut und gibt Hoffnung, dass tatsächlich eine gerechtere, friedlichere und humanere Welt möglich ist![24]

 

Kontakt zum Autor: 

Dr. Jos Schnurer
Immelmannstr. 40
31137 Hildesheim
jos2@schnurer.de   



[1] George W. Ball. Disziplin der Macht. Voraussetzungen für eine Neue Weltordnung, S. Fischer-Verlag, Frankfurt/M., 1968, S. 11

[2] Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948, in: Deutsche UNESCO-Kommission, Menschenrechte. Internationale Dokumente, Bonn 1981, S. 48ff

[3] James William Fulbright, Die Arroganz der Macht, Rowohlt-Verlag, Reinbek b. Hamburg, 1967, 247 S.

[4] Otfried Höffe,  Kritik der Freiheit. Das Grundproblem der Moderne, https://www.socialnet.de/rezensionen/19467.php

[5] Otfried Höffe, Hrsg., Aristoteles-Lexikon, Kröner-Verlag, Stuttgart 2005, S. 620f

[6] Oskar Negt, Der politische Mensch. Demokratie als Lebensform, 2010, https://www.socialnet.de/rezensionen/11988.php; und:  Karl Heinz Bohrer, Jetzt. Geschichte meines Abenteuers mit der Phantasie, 2017, https://www.socialnet.de/rezensionen/22496.php

[7] Ortwin Renn / Christina Benighaus / Gisela Wachinger, Hrsg., Bürgerbeteiligung. Konzepte und Lösungswege für die Praxis, 2016, https://www.socialnet.de/rezensionen/20953.php

[8] Ernst-Ulrich Huster, Soziale Kälte. Rückkehr zum Wolfsrudel? 2016, https://www.socialnet.de/rezensionen/21666.php

[9] vgl. dazu auch: Jos Schnurer, Zum 60. Jahrestag der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948, 11.12.2008, www.socialnet.de/materialien/46.php; sowie:  https://www.sozial.de/das-sehnsuchtsvolle-verlangen-der-menschen-nach-freiheit-freiheit-die-ich-meine.html

[10] Jan Eckel, Die Ambivalenz des Guten. Menschenrechte in der internationalen Politik seit den 1940ern, 2014, https://www.socialnet.de/rezensionen/17721.php

[11] Ch.Rapp, in Aristoteles-Lexikon, S. 427ff

[12] Martha Craven Nussbaum, Politische Emotionen. Warum Liebe für Gerechtigkeit wichtig ist, 2014, https://www.socialnet.de/rezensionen/17720.php

[13] Tali Sharot, Die Meinung der Anderen. Wie sie unser Denken  und Handeln bestimmt – und wie wir sie beeinflussen, 2017, https://www.socialnet.de/rezensionen/22651.php

[14] Richard Sennet, Zusammenarbeit. Was unsere Gesellschaft zusammenhält, 2012, https://www.socialnet.de/rezensionen/14034.php

[15] Martina Franzen / Alena Jung, / David Kaldewey / Jasper Korte, Hrsg., Autonomie revisited. Beiträge zu einem umstrittenen Grundbegriff in Wissenschaft, Kunst und Politik, 2014, https://www.socialnet.de/rezensionen/17917.php; sowie: Joseph Vogl, Der Souveränitätseffekt, 2015, https://www.socialnet.de/rezensionen/18630.php

[16] Martin Gessmann, Philosophisches Wörterbuch, Stuttgart 2009, S. 502

[17] Valentin Beck, Eine Theorie der globalen Verantwortung, 2016, https://www.socialnet.de/rezensionen/21228.php; William MacAskill, Gutes besser tun, 2016, https://www.socialnet.de/rezensionen/20648.php; Peter Singer, Effektiver Altruismus, 2016, https://www.socialnet.de/rezensionen/20649.php

[18] Silvio Vietta, Die Weltgesellschaft. Wie die abendländische Rationalität die Welt erobert und verändert hat, 2016, https://www.socialnet.de/rezensionen/21880.php

[19] Ian Morris, Wer regiert die Welt. Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden, 2011, https://www.socialnet.de/rezensionen/12186.php

[20] Michael Tomasello, Eine Naturgeschichte der menschlichen Moral, 2016, https://www.socialnet.de/rezensionen/21987.php

[21] Steffen Martus, Aufklärung. Das deutsche 18. Jahrhundert – ein Epochenbild, 2015, www.socialnet.de/rezensionen/20253.php

[22] Michael Corsten / Michael Gehler / Marianne Kneuer, Hrsg., Welthistorische Zäsuren. 1989 - 2001 – 2011, 2016, https://www.socialnet.de/rezensionen/21237.php

[23] Ulrich Menzel. Die Ordnung der Welt. Imperium oder Hegemonie in der Hierarchie der Staatenwelt, 2015, https://www.socialnet.de/rezensionen/+18967.php

[24] Roland Bernecker / Ronald Götz, Hg., Global Citizenship. Perspektiven einer Weltgemeinschaft, 2017, https://www.socialnet.de/rezensionen/23073.php