Freiheit und Ordnung

von Dr. Jos Schnurer
02.04.2019

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Angesichts der aus den Löchern „Ego-, Ethnozentrismus, Nationalismus, Momentanismus, Traditionalismus, Rassismus und Populismus“ kriechenden Kakophonien ist es angebracht, die existentiellen Wertvorstellungen „Freiheit und Ordnung“ auf die individuelle und kollektive, gesellschaftspolitische lokale und globale Waagschale  zu legen.

Bereits im philosophischen, antiken Denken wird betont, dass Freiheit nicht bedeuten kann, „Beliebiges zu tun“; vielmehr wird Ordnung als „kosmos“, als Voraussetzung für ein humanes, demokratisches Zusammenleben der Menschen auf der Erde verstanden (Aristoteles). Im intellektuellen Diskurs werden die beiden Tugendbegriffe entweder als immanent verbundene, oder als konträre Eigenschaften thematisiert und als unterschiedliche, politische Gesellschaftssysteme behandelt. Nur in der Demokratie verbinden sich die beiden Werte zu einer Einheit. Ein freiheitliches, auf Recht und Ordnung gründendes Leben ist nur in einer Demokratie möglich.

Hier aber schon gibt es Fragezeichen: Welche Demokratie soll es sein?[i]  Wie überzeugend und wehrhaft soll Demokratie etabliert und gelebt werden?[ii] Wie lassen sich Enttäuschungen und Unsicherheiten im konkreten demokratischen (Alltags-)Handeln vermeiden?[iii] Wie kann es gelingen, Demokratie nicht zu entpolitisieren, sondern zu repolitisieren?[iv].

Ein Perspektivenwechsel ist notwendig

Die Weltkommission „Kultur und Entwicklung“ hat bereits 1995 den dramatischen Appell formuliert, dass die Menschheit vor der Herausforderung stehe, umzudenken, sich umzuorientieren und gesellschaftlich umzuorganisieren, kurz: neue Lebensformen zu finden. Diesen Anspruch zu verwirklichen heißt, demokratisches Denken mit individuellem und kollektivem demokratischem Handeln zu verbinden und einzutreten  für die Überzeugung,  dass sich Demokratie Lebenslehre ist. Es genügt also nicht, vorhandene demokratische Strukturen als gegeben und selbstverständlich hinzunehmen, sondern aktiv und bewusst für die Demokratie einzutreten.

Dazu notwendig ist, das demokratische Lebensprinzip lernend und reflektierend aufzunehmen und zu begreifen, dass Demokratielernen An- und Herausforderung für humanes Leben ist. Die Deutsche Gesellschaft für Demokratiepädagogik  macht mit dem  „Magdeburger Manifest zur Demokratiepädagogik“ darauf aufmerksam, dass Demokratie nicht nur Verfassungsanspruch und Regierungskonstitut ist, sondern auch als Gesellschafts- und Lebensform zu begreifen ist[v]. Der Perspektivenwechsel von einer Kultur des Krieges hin zu einer Kultur des Friedens wird immer wieder gefordert, und die Verknüpfung von individueller mit universeller Verantwortung (Federico Mayor) ist heute dringlicher denn je.

Plädoyer für eine Offene Gesellschaft

Gesellschaftstheorien und –modelle, die auf liberalen, demokratischen Traditionen beruhen, gehen davon aus, dass im Individuum und in der Gemeinschaft eine kritische, intellektuelle Kompetenz und ein Wille vorherrschen, jeden Menschen ein gerechtes, gleichberechtigtes, friedliches, gutes und gelingendes Leben zu ermöglichen. Die Wege dahin lassen sich nur demokratisch finden. Einer der Verfechter einer offenen Gesellschaft ist der Philosoph Karl Popper (1902 – 1992), der mit seinem 1945 erschienenem Werk „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ die Voraussetzungen aufzählt, wie es gelingen könne, die kritischen Fähigkeiten der Menschen für eine offene Staatsform zu gewinnen. Poppers Modell einer offenen Gesellschaft fördert einerseits das demokratische, freiheitliche Bewusstsein, wird andererseits aber auch kritisiert, dass die liberalen Grundsätze  die Notwendigkeit und Bedeutung von historisch und kulturell gewachsenen sozialen Zusammenhängen beim menschlichen Zusammenleben nicht gebührend berücksichtige. Diese Kritik äußert u. a. der Soziologe Ralf Dahrendorf (1929 – 2009). Mit der Frage - „Wie gelingt uns jene Transformation in eine offene Zukunft?“ – setzt sich der  Dahrendorf-Schüler, der Ökonom und Psychiater, Direktor der Diakonie Kliniken Sachsen, Senator der Europäischen Akademie der Wissenschaft, Mitglied des Club of Rome und Lehrender an der Hochschule Mittweida, Stefan Brunnhuber, mit den Zusammenhängen  und Kontroversen zu Poppers Modell einer offenen Gesellschaft auseinander und entwickelt einen Vorschlag, wie eine offene Gesellschaft Hier, Heute und Morgen - aussehen könnte. Seine Feststellung - „Nichts ist sicher, gar nichts, auch der Weg hin zu einer Offenen Gesellschaft nicht“ - klingt resignativ und eher hoffnungslos.  Doch des Autors Absicht ist kein Lamento, sondern der Versuch, die Frage zu beantworten: „Was ist eine offene Gesellschaft?“. Er nimmt Poppers Idee auf, berücksichtigt die Kritik daran. Heraus kommt eine Faszination, gepaart mit einer realistischen Einschätzung: „Es geht in der Offenen Gesellschaft, welche immer unfertig und unvollkommen ist, … um das richtige Verhältnis von Kritik, Freiheit und Ordnung“. Mit diesem Handwerkszeug wären wir bei der „konkreten Utopie“ (Ernst Bloch),, oder der „positiven Subversion“ (Hans A. Pestalozzi, 1929 – 2004). Eine Reflexion darüber, wie es gelingen kann, dass alle Menschen offen, frei und menschenwürdig leben können, braucht den Intellekt und die Hoffnung, dass der Mensch im „Anthropozän“ sich seiner humanen und kosmischen Verantwortung bewusst wird. Die ökonomischen Grenzüberschreitungen, der Machtmissbrauch  von Gewinnern und die Ohnmacht der Verlierer gehören auf das gesellschaftliche Kritikfeld, das Karl Popper charakterisiert, wenn er feststellt, dass man „Vernunft am besten als Offenheit für Kritik interpretieren kann, als Bereitschaft, sich kritisieren zu lassen, und als den Wunsch, sich selbst zu kritisieren“[vi]. Popper, und mit ihm Brunnhuber geraten mit der Feststellung – „Es ist kein Fehler, Fehler zu machen. Aber es bleibt einer, wenn es uns nicht gelingt, aus Fehlern zu lernen und gesellschaftliche Vorkehrungen zu treffen, damit Fehler uns einen Erkenntnisfortschritt und eine Weiterentwicklung ermöglichen“ – beinahe auf Sisyphos’sches Gelände[vii].

Sichtbare und unsichtbare Ordnungen

In der Psychologie, Philosophie, Anthropologie, Soziologie und Pädagogik wird der Ordnungskompetenz Aufmerksamkeit zugewendet: „Ordnungen in Kultur und Alltag werden in Diskursen und Praktiken fortwährend hergestellt“, und zwar sowohl gewollte, geplante und reflektierte, als auch unerkannte, auf Zufälligkeiten, chaotischen, risikobehafteten oder subversiven Ereignissen beruhenden Ordnungsstrukturen[viii].

Am Institut für Sozialanthropologie und Empirische Kulturwissenschaft der Universität in Zürich und am Fachbereich Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie der Universität in Basel fand im Frühjahrssemester 2018 die Ringvorlesung „Zyklen, Strukturen und Rhythmen: Ordnungen in Alltag und Gesellschaft“ statt. Die im Sammelband vorgestellten Beiträge vermitteln einen Überblick darüber, in welch vielfältiger, interdisziplinärer Weise Ordnungssentenzen beobachtet, interpretiert und analysiert werden und Aufschlüsse über die allgemeinen und spezifischen Denk- und Verhaltensweisen von Menschen vermitteln können.

Im wissenschaftlichen Diskurs werden „Ordnungen … als konstituiertes und konstituierendes Element von Gesellschaft verstanden… sie wirken im Prozess der Sozialisation und Enkulturation auf Individuen, die durch die Ein- und Ausübung von Interaktionsordnungen zu deren Fortdauern und Entwicklung beitragen“ (Groth). Die Beachtung, Analyse und Interpretation von bewusst und unbewusst wirkenden Ordnungsvorstellungen bedürfen der Kartierung, Internalisierung und Bewertung durch die vielfältigen Vorgänge. Sie bieten alltägliche Orientierungen und durch die Nachschau bei spezifischen, lebensweltlichen Situationen Aufmerksamkeiten an. Es sind überlieferte, gewohnte und ungewöhnliche Rituale, die zur individuellen und kollektiven Auseinandersetzung auffordern und zum Perspektivenwechsel ermuntern. Ordnung ist Streben nach Gleichgewicht, Balance, Stabilität, Organisiertheit, Ganzheit, Klarheit, Tugendhaftigkeit, Stimmigkeit und Zugehörigkeit. Wer die erwartete und (vor-)gesetzte Ordnung einhält und sich an die gegebenen, alltäglichen, situations- und kulturbestimmenden Ordnungsprinzipien hält, ist ein angenehmer, angepasster und „braver“ Zeitgenosse? Wer Ordnungssysteme in Frage stellt, sie ignoriert oder übertritt, ist ein schwieriger und unangenehmer Mensch? So einfach ist die Wahrheitsfindung nicht! Ordnungen sind „nicht lediglich festgeschriebene oder relativ statische Ordnungssysteme, sondern immer auch dynamisch, Teil von Aushandlungen und multidimensional“. Die aus den Ringvorlesungen an den Universitäten in Zürich und Basel hervorgegangenen fachspezifischen und interdisziplinären Beiträge zu Fragen nach Ordnungen im Alltag und in der Gesellschaft greifen die vielfältigen, individuellen und kollektiven Ordnungskonzepte auf und ordnen sie ein in kulturwissenschaftliche Perspektiven[ix].

Fazit

Bei den intellektuellen Auseinandersetzungen über Freiheits- und Ordnungsvorstellungen geht es um die Vergewisserung von anthropologischen, humanen Werten[x]. Sie sind Grundlage für die Conditio Humana[xi], ohne die Mensch nicht Mensch sein kann!



[i] Markus Metz / Georg Seeßlen, Freiheit und Kontrolle. Die Geschichte des nicht zu Ende befreiten Sklaven, 2017, www.socialnet.de/rezensionen/23966.php 

[ii] Yascha Mounk, Der Zerfall der Demokratie. Wie der Populismus den Rechtsstaat bedroht, 2018, www.socialnet.de/rezensionen/24188.php

[iii] Ullrich Mies / Jens Wernicke, Hrsg., Fassadendemokratie und Tiefer Staat. Auf dem Weg in ein autoritäres Zeitalter, 2017, www.socialnet.de/rezensionen/22898.php

[iv] Pierre Rosanvallon, Die Gegen-Demokratie. Politik im Zeitalter des Misstrauens, 2017, www.socialnet.de/rezensionen/23619.php

[v] Helmolt Rademacher, Hrsg., Jahrbuch Demokratiepädagogik 4, 2016, www.socialnet.de/rezensionen/21432.php

[vi] Stefan Brunnhuber, Die offene Gesellschaft. Ein Plädoyer für Freiheit und Ordnung im 21. Jahrhundert,  2019, www.socialnet.de/rezensionen/...php

[vii] vgl. dazu auch: Jos Schnurer, Sisyphos werden. Eine optimistische, didaktische Aufforderung, in: Pädagogische Rundschau, PR 4/2018, S. 536ff       

[viii] Dana Dülcke / Julia Kleinschmidt / Olaf Tietje / Juliane Wenke, Hrsg., Grenzen von Ordnung. Eigensinnige Akteur_innen zwischen (Un)Sicherheit und Freiheit, 2016, www.socialnet.de/rezensionen/22264.php

[ix] Stefan Groth, u. a., Ordnung in Alltag und Gesellschaft. Empirisch kulturwissenschaftliche Perspektiven, 2019, www.socialnet.de/rezensionen/25405.php

[x] Hemann Krobath, Werte. Elemente einer philosophischen Systematik, 2018, www.socialnet.de/rezensionen/24791.php

[xi] Angela Janssen, Verletzbare Subjekte. Grundlagentheoretische Überlegungen zur conditio humana, 2018, www.socialnet.de/rezensionen/...php