Feigheit = sich selbst in Stich lassen

von Dr. Jos Schnurer
31.03.2017

Zeitungsauschnitte und -überschriften zum Thema Collage: Dr. Jos Schnurer
Bild anklicken zum Vergrößern

„I do not know, what fate awaits me  / I only know I must be brave / And I must face a man who hates me / Or lie a coward, a grave coward / Or lie a coward in my grave“[1] 

Frei nach Friedrich Wilhelm Nietzsche ist ein Mensch feige, wenn er seine Überzeugung verliert und damit seine Identität vergisst, also sich selbst in Stich lässt, von sich abrückt. „Du bist nicht mehr Du“, heißt es dann, und es soll damit ausgedrückt werden, dass das bekannte und gewohnte Verhalten des Anderen einen Riss bekommen hat. Ist es ein psychischer und physischer,  kann man von „Verrücktheit“ sprechen:  Der Mensch verrückt seine Existenz in einen anderen Zustand, für den er vermutlich selbst nichts kann, weil die Krankheit von ihm Besitz ergriffen hat. Die Feigheit hingegen wird als eine Haltung verstanden, die Verzagtheit, Mutlosigkeit und fehlende Tatkraft zeigt, oder auch Angst oder Furcht ausdrückt, eine von der Gesellschaft, der Tradition oder Mentalität erwartete Tätigkeit scheut oder nicht ausübt. In dem  christlichen Chorlied des mittelalterlichen Theologen und Komponisten Michael Altenburg ( 1584 – 1640) heißt es: „Verzage nicht, du Häuflein klein, ob schon die Feinde willens sein, dich gänzlich zu verstören, und suchen deinen Untergang, dar ob dir wird recht angst und bang; es wird nicht lange währen“[2].

Betrachten wir die Zuschreibung „Feigheit“ aus abendländischer Sicht, landen wir bei den antiken Philosophen, etwa bei Platons vier Kardinalstugenden: Besonnenheit, Tapferkeit, Gerechtigkeit und Weisheit, und beim aristotelischen, ethischen Tugendkatalog: Tapferkeit (andreia), Besonnenheit (sôphrosynê), Großherzigkeit (megaloprepeia),  Großgesinntheit (megalopsychia), Scham (aidôs), Selbstgenügsamkeit / Selbstbeherrschung (autarkeia), Gerechtigkeit (dikaiosynê)[3]. Deutlich wird, dass das Antonym von „Tapferkeit“ – „Feigheit“ darstellt und damit innerhalb des anthropologischen Denkens und Handelns eine negative Konnotation erhält, die im philosophischen Diskurs jedoch auch anders gedeutet werden kann. Schauen wir uns einmal die Vorstellungen von „Körper und Seele“ in den verschiedenen Kulturen, Traditionen und Weltbildern an. Im antiken, abendländischen Denken wurde „das Verhältnis beider als das von Materie und Form einer und derselben Substanz“ benannt. Erst durch christlich-religiöse Einflüsse fand eine Uminterpretation „zwischen dem Körper als dem sündigen Fleisch und der als Geist verstandenen Seele“ statt[4]. Damit werden moralische Diktionen eingebracht[5], die sich im anderskulturellen Denken so nicht finden,  etwa in den fernöstlichen, traditionellen Vorstellungen von den Energien im  „fließenden Körper“: „ki“ im Japanischen und „qi“ im Chinesischen. Die nicht sichtbaren, unbewussten (Lebens-)Kräfte werden durch Meditation erschlossen: „Der fließende Körper kennt keine Grenze zwischen Innerem und Äußerem, zwischen Geist und Materie“[6].

Besonders beim Antonym „Tapferkeit“ = „Feigheit“ wird deutlich, dass die militärische Zuschreibung existentielle Bedeutung erhält: „Feigheit vor dem Feind“ wird mit Ächtung, Ausschluss aus der Gemeinschaft und Ehrverlust, ja sogar mit dem Tode bestraft. Es ist eine moralische Verurteilung, feige zu sein[7]. Wenn wir den Begriff in einem interkulturellen Zusammenhang betrachten, fällt auf, dass „Feigheit“ in einigen Kulturen eine andere Bedeutung hat als in der westlichen, abendländischen Verwendung; etwa in asiatischen Kulturen. Im chinesischen philosophischen Denken wird  Feigheit nicht moralisch, sondern als ein abwartendes, sogar kluges und bedachtes oder gefühltes Verhalten auf eine bestimmte Lebenssituation verstanden. Mit Yin und Yang werden keine Gegensätze, kein Entweder-Oder markiert, sondern verschiedene, gleichwertige Möglichkeiten und Entscheidungen , also ein Sowohl-Als auch aufgezeigt.

Wir haben die Unterschiede verdeutlicht. Sie tragen entscheidend dazu bei, dass in der sich immer interdependenter, räumlich und ideologisch entgrenzender entwickelnden (Einen?) Welt nicht das Prädikat von der „Einheit in der Vielfalt der Menschheit“ zum Vorschein kommt, wie sie in der „globalen Ethik“, der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 zum Ausdruck kommt: „Die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte bildet die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt“[8], sondern sich in der Zwietracht, dem Egoismus, Ethnozentrismus, Nationalismus, Fundamentalismus, Rassismus und Populismus zeigt. In dieser unwirtlichen und unmenschlichen Situation gilt es, ein neues Denken und Tun bei den Individuen und lokalen und globalen Gesellschaften zu bewirken. Und zwar mit einem Perspektivenwechsel, wie ihn die Weltkommission „Kultur und Entwicklung“ 1995 eindringlich gefordert hat: „Die Menschheit steht vor der Herausforderung umzudenken, sich umzuorientieren und gesellschaftlich umzuorganisieren, kurz: neue Lebensformen zu finden“[9].   


Komplexes Denken

Die Erkenntnis, dass die Menschheit nur überleben kann, wenn es gelingt, die Unterschiede in eine positive Beziehung zur Ganzheit des Menschengeschlechts zu bringen. Diese Aufforderung beruht darauf zu erkennen, dass das Denken, das trennt, durch ein Denken, das verbindet, ersetzt werden muss. Es geht um ein universelles, planetarisches Bewusstsein, dass das universelle, globale Denken nicht von (scheinbar) vorgegebenen, menschengemachten Ordnungen vorbestimmt wird[10], sondern sich in Denksystemen manifestiert, die wiederum von Menschen gemacht sind. In (westlichen) zeitgenössischen Denkphilosophien und Ordnungssystemen haben sich dabei im Wesentlichen drei Theorien entwickelt: Da ist zum einen die Informationstheorie, die aus der Annahme, dass im Universum Ordnung (Redundanz) und Unordnung (Lärm) vorherrschen, Neues, also Information schafft. Da ist zum zweiten die Kybernetik, die auf das Prinzip der Rückkopplung (feed back) setzt und davon ausgeht, dass Ursachen Wirkungen erzeugen und umgekehrt Wirkungen Ursachen haben. Schließlich die Systemtheorie, mit der bewiesen werden soll, dass das Ganze mehr als die Summe seiner Einzelteile ist und damit Eigenschaften zum Vorschein kommen, die aus der Organisation einer Ganzheit herausragen und auf die Einzelteile zurückwirken. Schließlich kommt die Auffassung zum Tragen, dass durch Selbstorganisation  Unordnung zu Ordnung wird, gelingt es, die Suche nach der Wahrheit komplex anzugehen, nämlich dialogisch, als Interaktion und ganzheitlich[11].  


In der Gegenwart leben und in die Zukunft denken

Ein notwendiges, neues, lokales und globales Denken sollte immer von dem Bemühen bestimmt sein, nach der Wahrheit zu suchen und sich nicht damit zufrieden zu geben, vorgegebene, vorgelegte, eingeführte und scheinbar einzig richtige Wahrheiten zu akzeptieren[12]. Dafür ist es notwendig, ein „Bewusstsein für … Veränderungs- und Führungsarbeit in allen Bereichen von gesellschaftlicher Entwicklung zu schaffen, eine Sprache zu entwickeln, die … Veränderungsprozesse(n) erlaubt, eine soziale Technik zu entwickeln, die es Akteuren in Veränderungsprozessen erlaubt, effektiver und schöpferischer mit den … Herausforderungen unserer Zeit umzugehen“. Ein genaues, unabhängiges und intelligentes Hinschauen auf die menschengemachten Entwicklungen ist dabei gefordert. Es kommt darauf an, die vielfach sorgsam und geschickt verdeckten „blinden Flecken“, die Beweisführungen und Manipulationen zu erkennen[13].


Wie kann es gelingen, die Menschen dazu zu überzeugen, dass sie aufgeklärt sein wollen?

Die Frage, ob Universalität eine europäische Vision oder eine eurozentrierte Machtkonstellation darstellt, wird insbesondere in der globalisierten Welt immer deutlicher gestellt.  Die Janusköpfigkeit dieser Diskrepanz wurde 1990 in dem vom Europa-Parlament veranstalteten Kolloquium „Das Universelle und Europa“ herausgestellt und gefordert, dass Europa aufhören müsse, die Welt nach seinem anthropologischem und machtpolitischem Vorbild gestalten zu wollen[14]. Im zögerlichen, von Fundamentalismen, Ethnozentrismen, Nationalismen, Rassismen und Populismen bestimmtem Diskurs kommt es darauf an, lokal- und globaltaugliches Denken einzuüben und die kreative Vielfalt der Menschheit zu verdeutlichen[15].


Gib Moral recht!

Moral als innerer Wert menschlichen Denkens und Handelns wirkt individuell und kollektiv, als Wert und Norm. Die Haltung drückt sich am eindeutigsten im kantischen kategorischen Imperativ aus, in dem es mit dem Volksmund ausgedrückt heißt: „Was du nicht willst, das man dir tu‘, das füg‘ auch keinen andern zu!“. Individuelles und kollektives Denken und Handeln der Menschen muss, wenn es human und menschenwürdig erfolgt, auf verbindlichen Regeln, Vereinbarungen und Werturteilen beruhen,  die den anthrôpos aufgrund seiner Vernunftbegabung an die oberste Stufe der scala naturae gestellt hat.  Diese abendländische, anthropologische, aristotelische Betrachtung des Humanum ordnet  die Moral als innere Verpflichtung des Menschen zum Gutsein ein und stellt moralisches Verhalten als wünschenswerte und naturgesetzliche Normen dar, die „nur als universell gültige und die ganze Menschheit bindende  angenommen werden dürfen ( Martin Gessmann). Moralische Einstellungen und Verhaltensweisen beim menschlichen Umgang miteinander basieren auf zwei  Grundlagen, der altruistischen, empathischen und rationalen Position, nach der ein humanes, friedliches und gerechtes Zusammenleben der Menschen unverzichtbar und konstitutiv ist und sich in Einstellungen wie Fairness und Gerechtigkeitsempfinden ausdrückt und wirksam wird[16].


Das Denken lernen[17]

Philosophen, Anthropologen, Psychologen, Neurologen, Pädagogen und Ökonomen denken darüber nach,  welche Bedeutung die Intuition im menschlichen Bewusstsein hat. Es gilt hier auf eine (Denk-) Richtung aufmerksam zu machen, die als „Prospect Theory“ bekannt geworden ist.  2002 haben der israelisch-US-amerikanische Psychologe und Hochschullehrer Daniel Kahneman und sein Kollege Vernon L. Smith den Wirtschafts-Nobelpreis dafür erhalten, dass sie zeigen konnten,  wie Entscheidungsfindungen in Situationen der Unsicherheit und bei Risiken zustande kommen. Die intellektuellen, emotionalen, mentalen, bewussten und unbewussten Denkprozesse unterliegen Phänomenen, die sich nach der Theorie in zwei unterschiedlichen Kategorien und Denksystemen darstellen lassen: Intuitives und bewusstes Denken. Die neueren, neurologischen und psychologischen Forschungsergebnisse zeigen, „dass das intuitive System einflussreicher ist, als dies nach unserem subjektivem Erleben der Fall zu sein scheint“, also gewissermaßen als geheimer Urheber von vielen Entscheidungen und Urteilen gelten kann. Die auf den zwei (Denk-)Systemen des intuitiven, schnellen und des rationalen, langsamen Denkens beruhenden, psychologischen Theoriebildungen über Verzerrungen und Fehler in unserem intuitiven Denken, das (mehrheitlich) unser Denken und Handeln bestimmt, dürfen nicht als ein Manko und als Herabsetzung des menschlichen Intellekts verstanden werden; vielmehr bedarf es eines Verständnisses und Bewusstseins darüber, wie Urteile und Entscheidungsprozesse im individuellen und gesellschaftlichen Handeln zustande kommen[18].


Nach dem Sinn des Lebens suchen

Das Sprichwort „Der Mensch denkt, und Gott lenkt“ will ja zum Ausdruck bringen, dass es eine Macht gibt, die über dem Menschlichen steht, und gewissermaßen zur Konsequenz hat, dass der Mensch den Willen von etwas Übermenschlichen ausgesetzt ist – ob er will oder nicht! Diese rigorose Auffassung gründet auf den Glauben, dass es einen Gott gibt! Der philosophische, weltanschauliche und alltägliche Diskurs über die Frage, was der anthrôpos, der Mensch, ist, wird ja in der Spannweite der anthropischen, seit der Antike bestehenden Auffassung geführt, dass nur der Mensch Anteil am unvergänglichen und göttlichen Geist habe und in der scala naturae eine Mittelstellung zwischen Tier und Gott einnehme. Die menschlichen, existentiellen, sinnlichen und übersinnlichen Antworten darauf lauten: Paradies oder Hölle! Nehmen wir aber an, dass der Mensch ein vernunft- und sprachbegabtes, auf ein gutes, gelingendes Leben hin ausgerichtetes Lebewesen ist, folgt daraus die unverzichtbare Bedingung, dass er sich die Fragen „Wer bin ich?“ – „Was soll ich tun?“ – „Was darf ich hoffen?“ – „Was kann ich erwarten?“ – nicht von anderen beantworten lässt, sondern sie selbst sucht, und zwar selbstbewusst und kritisch[19]. Die Antworten darauf können sowohl (mono-) theistisch, als auch atheistisch sein; in jedem Fall aber sollten sie bestimmt sein von Redlichkeit und der ehrlichen Suche nach Wahrheit[20]. Der Berliner Philosoph Volker Gerhardt gehört der 1989 gegründeten  „Deutschen Gesellschaft zur Erforschung des politischen Denkens“ an. Sie bemüht sich darum, interdisziplinär tragfähige Zugänge zu den Grundlagen des politischen Denkens und Handelns zu suchen und Antworten auf aktuelle politische Fragen zu geben. Es geht auch darum, den unauflöslichen Widerspruch zu diskutieren:  Wenn das Göttliche das ideale Menschliche im Menschen und in der Welt ist, und ein Gott nicht außerhalb der Menschen und der Welt gesucht werden kann – wozu braucht es dann das Göttliche? Der Versuch Volker Gerhardts, über das Göttliche nachzudenken und seine Argumentationen historisch, philosophisch und religiös herzuleiten, kann als Wagnis und Postulat verstanden werden. Weil er dabei nicht den Weg des Apodiktischen geht, sondern sich orientiert am menschlichen Wissen, kann er überzeugend darlegen: Es gibt das Göttliche im Menschen, und das Göttliche gehört zur Welt! Diese Sinn- und Sichtweise formuliert er nicht als Theologe, sondern als Philosoph. Er öffnet damit eine Tür hin zum interdisziplinären Denken über das Göttliche[21].


Menschen sind differente Lebewesen

Unterschiede als Gewalt- und Machtauswirkungen sind in der Welt, im Individuellen wie im Kollektiven, im Lokalen und Globalen. Es sind Fragen nach der humanen Gerechtigkeit und der globalen Ethik, die Missstände sichtbar machen und nach Veränderungen rufen. Die Stützpfeiler dafür liefert zum einen Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, in dem es heißt: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen“; dDie andere wurde von der Weltkommission „Kultur und Entwicklung“ 1995 mit der Forderung versehen, im lokalen und globalen Zusammenleben der Menschen „eine positive Einstellung zu anderen Menschen und zu ihren unterschiedlichen Lebensweisen, ihrer kreativen Vielfalt“ zu entwickeln. Das bedeutet, dass die Forderung nach Gleichheit und Gerechtigkeit in der Welt die Anerkennung der Unterschiedlichkeit aber Gleichwertigkeit der Menschen beinhaltet. Das interdisziplinäre Netzwerk an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, in dem sich vorwiegend junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zusammen gefunden haben, um interdisziplinär über Fragen der lokalen und globalen gesellschaftlichen Orientierungen nachzudenken und zu forschen, legt soeben den dritten Band in der im transcript Verlag aufgelegten Reihe „Kultur & Konflikt“ vor. Während im ersten Band 2009 „Spielregeln der Gewalt“ thematisiert und im zweiten kulturelle Konflikte bearbeitet wurden, geht es im dritten Band um kulturwissenschaftliche und geschlechterkritische Perspektiven auf Inklusion und Exklusion: „Differenzen leben“. Differenzen an sich bedingen nicht schon soziale oder gesellschaftliche Probleme; vielmehr sind es die individuell und gesellschaftlich gemachten Unterschiede, die Differenzen zum Problem werden lassen. Differenzen denken und leben, ausprobieren, auf direkten Wegen und auf Umwegen erreichen, erhoffen und über Stichpunkte erzwingen, das sind Vorsätze, die zu Hauptsätzen werden müssen. Weil Herrschaft von Menschen über Menschen nicht konstitutiv und selbstverständlich ist und sein darf, sondern unterschiedlich gemacht wird[22].


Der Mensch, das wandelbare Lebewesen

Die Frage nach dem Wesen und dem Sein des Anthrôpos hat Menschen bewegt, seit sie existieren. Der Mensch als zôon logon echon, als sprach- und vernunftbegabtes Lebewesen, wie auch als zôon politikon, als politisches, soziales und gemeinschaftsbildendes Lebewesen, das ein eu zên, ein gutes, glücklich-gelingendes Leben anstrebt, wie dies Aristoteles formuliert hat, das die allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnende Würde in sich trägt, wie dies in der „globalen Ethik“ zum Ausdruck kommt, wird in der historischen Anthropologie damit begründet,  dass „Menschen ( ) als je konkret in ihrer Zeit, ihrer Kultur, ihrer sozialen und individuellen Geschichte verweilende und einem permanenten Wandel unterworfene Personen betrachtet“ werden. Die conditio humana wird damit nicht in den Urgrund der Natur verwiesen, sondern als ein offener Prozess verstanden, der sich „in der Geschichte des Menschlichen entfaltet und erschließt“. Die traditio humana verdeutlicht, dass „das Menschen Mögliche ( ) erkennbar (ist) an dem, was Menschen bisher möglich war, aber dieses ist nicht sein endgültiges Maß. Alles Dagewesene ist Menschen möglich, aber es ist keinesfalls schon alles Mögliche da gewesen“. Es geht also in der historischen Anthropologie darum, „Wissen von und über Menschen aus verschiedensten Epochen und Kulturen gleichsam zu einem Album des Menschlichen zusammenzufügen zu einer Erkundung des Menschlichen“, und zwar „im Rückblick auf geschichtlich und im Hinblick auf gegenwärtig verwirklichte Menschlichkeiten den reflexiven Horizont der Gegenwärtigen auf die Vielfalt der Möglichkeiten menschlicher Existenzweisen hin auszuweiten“. Der Hinweis auf ein „relativistisches Menschenverständnis“  belebt den notwendigen Diskurs um eine Bewusstseinserweiterung des Menschseins und die Bemühungen, anthropologische, humanistische, empathische, human-philosophische und historische Aspekte in die anthropologischen Auseinandersetzungen um Menschenverständnis und -erkenntnis einzubringen[23].


Vitalität = Lebenskraft

Vital sein bedeutet im Umgangssprachlichen lebendig und aktiv sein, und zwar zuvorderst im körperlichen Sinn. Erst mit dem zweiten Schritt wird dabei die geistige Vitalität als ein Merkmal der psychischen Verfasstheit des Menschen gewissermaßen als intellektuelle Wachheit aufgefasst. In der Einschätzung der Menschen zueinander und im Umgang miteinander, real und als ferne, fiktionale und virtuelle Wahrnehmung, manifestiert sich Vitalität als Augenschein und (Vor-)Urteil. Aus den Heilslehren des 18. und 19. Jahrhunderts kennen wir den Begriff der vis vitalis, der „Lebenskraft“, die sich als eine erhaltende, immer wieder neu bildende Kraft entwickelt. Diese Lebenskraft wird in den verschiedenen Kulturen und Mentalitäten der Menschen unterschiedlich dargestellt; etwa als “Muntu“ und „Sages“  in den afrikanischen Philosophien[24], als „Mana“ in Polynesien, als „Dynamis“ in der griechischen Kultur, als „Ch’i“ in China und Japan, als „Prana“ bei den Hindu, als „Ka“ in Ägypten, als „Manitou“ bei den Indianern … Der US-amerikanische Entwicklungspsychologe und Psychoanalytiker Daniel N. Stern,  greift den Aspekt psychischer menschlicher Entwicklung auf, der sich als Kraft oder Stärke im humanen Dasein manifestiert. Er betrachtet dabei die miteinander zusammenhängenden dynamischen Vorgänge: Bewegung, Zeit, Kraft, Raum, Intention/Gerichtetheit, identifiziert sie als „Vitalität“ und fragt, warum es wichtig ist, die verschiedenen, dynamischen Vitalitätsformen gründlich(er) zu erforschen; und zwar mit dem Blick auf neuere neurowissenschaftliche Fragestellungen. Weil Vitalitätsformen immer Inhalte transportieren, etwa Emotionen, Gedankengänge, körperliche und mentale Bewegungen - und damit eine Dynamik in Gang setzen – ist es wichtig danach zu fragen, wie die neuronale Infrastruktur beschaffen ist, die das Erleben von Vitalitätsformen ermöglicht[25].


Postfaktisch?

Die medialen Entwicklungen bringen, wie vieles beim kreativen wie unnützen Schaffen der Menschen, positive und negative Effekte hervor. Die Skandalisierung und „Fakeisierung“ in der privaten und öffentlichen Kommunikation zeigt  in der Berichterstattung und Bewertung von Ereignissen ein schiefes Bild, dessen Wirkungen auf ein humanes Zusammenleben bisher nicht ausreichend genug analysiert wird. Beim Institut für Kommunikations- und Medienforschung der Deutschen Sporthochschule in Köln wird das Forschungsprojekt „Skandalisierung und Viktimisierung“ durchgeführt. Ziel ist, „mediated scandals als Phänomene zu verstehen…, die sich …auf Ereignisse und Sachverhalte beziehen, die mit bestimmten gesellschaftlichen Normen und Werten konfligieren, von öffentlichen Medien öffentlich angeprangert und verhandelt werden und eine Empörung oder Reaktion in der Öffentlichkeit hervorrufen“.  Es geht darum, ein Skandalverständnis zu entwickeln, „nachdem Skandale im Sinne von mediated scandals als Phänomene zu verstehen sind, die sich … auf Ereignisse oder Sachverhalte beziehen, die mit bestimmten gesellschaftlichen Normen und Werten konfligieren, von Medien öffentlich angeprangert und verhandelt werden und eine Empörung oder Reaktion in der Öffentlichkeit hervorrufen“[26].


Der aufrechte Gang[27]

Bei der Suche nach dem Missing Link zwischen Tapferkeit und Feigheit wird eine Fähigkeit deutlich, die dazu beitragen kann, „Feigheit“ nicht als Versagen, sondern als eine Form des Andersseins, des  Selbstbewusstseins und Nachdenkens zu betrachten. Unabdingbar dafür ist die Selbstachtung, die erfordert, sich selbst und die Mitmenschen zu erkennen und anzuerkennen. Zur Selbstachtung also gehören immer zwei: Ich und Du! Damit ist schon ausgedrückt, dass die Eigenschaft, die eigene Menschenwürde zu erkennen, zu haben und in Anspruch zu nehmen, immer verbunden sein muss mit der Haltung, die andere Individuen und Gesellschaften mir entgegen bringen und ermöglichen. Alle Philosophen haben zu allen Zeiten das „Selbst“ als einen Wert an sich definiert. Seit der Frage Platons, was etwas in Wahrheit und Wirklichkeit ist (tí poté estín), wird die Suche nach der eigenen Identität und dem Sosein des Menschen in immer neuen Variationen und Denkkonstrukten bedacht und benannt. Selbstachtung hat also etwas zu tun mit dem individuellen Selbst- und Lebenswert und den kulturellen Identitäten der Menschen insgesamt, und dem Selbstbewusstsein, das stetig und mühsam entwickelt, erarbeitet und verteidigt werden muss. Im philosophischen und wissenschaftlichen Denken hat Selbstachtung selbst referentielle und selbst steuernde Bedeutung, die die Selbst- und Fremdbeobachtung bedingt. Es ist hilfreich, will man sich des eigenen Selbstwertgefühls versichern, der biologischen, anthropologischen und gesellschaftlichen wie persönlichen Voraussetzungen für Selbstachtung bewusst zu werden. Denn falsch verstandene, ideologisch gesetzte und historisch entstandene Formen von (so genannter) Selbstachtung können leicht (und sogar selbstverständlich und nicht problematisiert) zu negativen Ausprägungen, wie Egoismus, Überheblichkeit, Selbstüberschätzung und Höherwertigkeitsvorstellungen gerinnen. Da ist es gut, sich der philosophischen Bedeutung des Menschenwerts „Achtung“ bewusst zu werden und zu fragen, wie Selbstachtung von verwandten Begriffen unterschieden werden kann, wie sich die Eigenschaft in der menschlichen Natur ausprägt und sich rechtlich und moralisch darstellt, und welche Maßnahmen zu ergreifen sind, wenn sich die Fähigkeit zur Selbstachtung durch negative Entwicklungen entweder nicht entfalten kann, oder ge- und zerstört wird. Am besten beginnt man dabei mit den individuellen, alltäglichen Erfahrungen, und greift aus auf die lokalen und globalen gesellschaftlichen und politischen Bedingungen in der Welt[28].


Es ist nicht verwerflich, feige zu sein

Die westlich-abendländische Festlegung, dass Feigheit eine moralisch verwerfliche Eigenschaft ist, wird in anderen Kulturen nicht geteilt. In der chinesischen Philosophie etwa gilt „feige sein“ als eine Fähigkeit, in unterschiedlicher Weise auf persönliche und gesellschaftliche Situationen angemessen  zu reagieren, das kann einmal mutig, ein anderes Mal abwartend, und schließlich auch ablehnend sein. In den Weltanschauungen des Konfuzianismus, des Taoismuns und Buddhismus werden Wissen, das Bemühen um eine gute Lebensführung und Meditation als Mittel verstanden, Feigheit und Mutlosigkeit zu überwinden. Körper und Geist stellen sich dabei als untrennbare und nicht teilbare Ganzheit dar. Könnte es nicht hilfreich sein, diese Vorstellungen in das westlich-rationale Bild von „Feigheit“ hinein zu nehmen und so zu einem Denken und Handeln zu kommen, das eine „feige“ Einstellung nicht als Werturteil fällt, sondern als eine (vorübergehende) Entscheidung hin zu einer gemeinsamen, solidarischen, humanen. positiven  Haltung  bringt?

Kontakt zum Autor:

Dr. Jos Schnurer
Immelmannstr. 40
31137 Hildesheim
Tel. (05121) 59124
E-Mail: jos2@schnurer.de

 

 


[1] High Noon, 1952, in: Reinhard Mohr, Ein Quantum Mut, WELT AM SONNTAG, Nr.1, 1.1.2017, S. 12
[2] Fritz Stein / Ernst-Lothar von Knorr, Chorliederbuch für die Wehrmacht. Ausgabe für den Dienstgebrauch, Verlag C. F. Peters, Leipzig 1940, S. 127
[3] Otfried Höffe, Aristoteles-Lexikon, Alfred Kröner Verlag, Stuttgart 2005, 640 S.
[4] Martin Gessmann, Philosophisches Wörterbuch, 23., vollständig neu bearbeitete Auflage, Stuttgart 2009, S. 254f und 405f
[5] Philipp Blom, Böse Philosophen. Ein Salon in Paris und das vergessene Erbe der Aufklärung, 2011, https://www.socialnet.de/rezensionen/11541: sowie: Antonio Damasio, Selbst ist der Mensch. Körper, Geist und die Entstehung des menschlichen Bewusstseins, 2011, https://www.socialnet.de/rezensionen/13124.php
[6] Shigenori Nagatomo, Ein unsichtbarer Fluss, in: UNESCO-Kurier, 4/1992, S. 9ff; sowie: Lawrence LeShan, Das Rätsel der Erkenntnis. Wie Realität entsteht, 2012, https://www.socialnet.de/rezensionen/13512.php
[7] Michael Tomasello, Eine Naturgeschichte der menschlichen Moral, 2016,. https://www.socialnet.de/rezensionen/21987.php
[8] Deutsche UNESCO-Kommission, Menschenrechte. Internationale Dokumente, Bonn 1981, S. 48
[9] a.a.o., Unsere kreative Vielfalt, 2., erweit. Ausgabe, Bonn 1997, S. 18
[10] Ulrich Menzel, Die Ordnung der Welt. Imperium oder Hegemonie in der Hierarchie der Staatenwelt, 2015, https://www.socialnet.de/rezensionen/18967.php;  Ingo Elbe / Sven Ellmers / Jan Eufinger, Hrsg., Anonyme Herrschaft. Zur Struktur moderner Machtverhältnisse, 2012, https://www.socialnet.de/rezensionen/13528.php
[11] Edgar Morin, Denken in neuen Dimensionen, in: UNESCO-Kurier2/1996, S. 9ff
[12] Heinz von Foerster / Bernhard Pörksen, Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. Gespräche für Skeptiker, https://www.socialnet.de/rezensionen/8328.php
[13] Claus Otto Scharmer, Theorie U. Von der Zukunft her führen, 2009, https://www.socialnet.de/rezensionen/8328.php
[14] Silvio Vietta, Die Weltgesellschaft. Wie die abendländische Rationalität die Welt erobert und verändert hat, 2016, https://www.socialnet.de/rezensionen/21880.php
[15] Wolfgang Welsch, Homo mundanus. Jenseits der anthropologischen Denkform der Moderne, 2012, https://www.socialnet.de/rezensionen/14323.php
[16] Michael Tomasello, Eine Naturgeschichte der menschlichen Moral, 2016, https://www.socialnet.de/rezensionen/21987.php
[17] Jos Schnurer, Ich denke, also bin ich. Eine neue Kultur der Nachdenklichkeit?, 21.12.2016, http://sozial.de/index.php?id=94
[18] Daniel Kahneman, Schnelles Denken, langsames Denken, 2012, https://www.socialnet.de/rezensionen/17709.php
[19] Maxi Berger / Tobias Reichardt / Michael Städtler, Hrsg., „Der Geist geistloser Zustände“. Religionskritik und Gesellschaftstheorie, 2012, https://www.socialnet.de/rezensionen/13711.php
[20] Gerald Hartung / Magnus Schlette, Hrsg., Religiosität und intellektuelle Redlichkeit, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/14680.php
[21] Volker Gerhardt, Der Sinn des Sinns. Versuch über das Göttliche, 2014, https://www.socialnet.de/rezensionen/18151.php;
[22] Utta Isop / Viktorija Ratkovič, Hrsg., Differenzen leben. Kulturwissenschaftliche und geschlechterkritische Perspektiven auf Inklusion und Exklusion, 2011, https://www.socialnet.de/rezensionen/11666.php
[23] Bernhard Rathmayr, Selbstzwang und Selbstverwirklichung. Bausteine zu einer historischen Anthropologie der abendländischen Menschen, 2011, https://www.socialnet.de/rezensionen/11820.php; sowie: Bruno Latour: Existenzweisen. Eine Anthropologie der Modernen, 2014, https://www.socialnet.de/rezensionen/17792.php
[24] Franziska Dübgen / Stefan Skupien, Hrsg., Afrikanische politische Philosophie. Postkoloniale Positionen, 2015, https://www.socialnet.de/rezensionen/20696.php
[25] Daniel N. Stern, Ausdrucksformen der Vitalität, 2011, https://www.socialnet.de/rezensionen/11513.php; David Eagleman: Inkognito. Die geheimen Eigenleben unseres Gehirn, 2012, https://www.socialnet.de/rezensionen/13120.php
[26] Mark Ludwig / Thomas Schierl / Christian von Sikorski, Hrsg., Mediated Scandals. Gründe, Genese und Folgeeffekte von medialer Skandalberichterstattung, 2016, https://www.socialnet.de/rezensionen/20683.php
[27] Kurt Bayertz, Der aufrechte Gang. Eine Geschichte des anthropologischen Denkens, 2013, https://www.socialnet.de/rezensionen/17706.php  [28]  Franz Josef Wetz, Rebellion der Selbstachtung. Gegen Demütigung, 2014, https://www.socialnet.de/rezensionen/17571.php