Feature: „Unsere Erde riecht von neuem gut, wieder wie vor dreißig Jahren“

von Dr. Jos Schnurer
26.02.2010 | Sozialpolitik | Schwerpunkte Kommentare (0)

Ein historischer Wendepunkt sei gekommen, das mahnte bereits der Leitende Ökonom der Weltbank, Herman E. Daly vor fast zehn Jahren an.

Die Erfahrung des Farmers aus Nebraska, nachdem er seit einigen Jahren auf biologische Anbaumethoden umgestellt hat[1], ist eine haptische und olfaktorische Wahrnehmung, die jeder Mensch, ob auf dem Balkon, im Kleingarten oder auf dem landwirtschaftlichen Feld nachvollziehen kann. Überall da, wo in die Erde Chemikalien als Düngemittel eingebracht werden, riecht der Boden sauer und bitter, „nach Tod“, wie der Farmer aus den USA feststellt. Seine Erde aber lebt, im wahrsten Sinne des Wortes, mit Mikroorganismen und Würmern, und die Vögel und Fasane fühlen sich wohl, genau so wie der Mensch, wenn er frische und lebendige Erde durch seine Finger rieseln lässt.

Was ist Entwicklung?

Es ist der Widerstreit zwischen Ökonomie und Ökologie, zwischen ungebremstem Wachstum und einer ökologischen Tragfähigkeit, die insbesondere in den Industriegesellschaften die Frage nach der Entwicklung rein ökonomisch beantwortete: Entwicklung ist, wenn es ein immer größeres Wachstum, ein „Immer-mehr-immer-höher-immer-weiter-immer schneller“ gibt. Die „Entwicklung“ eines Landes wurde dabei gemessen an den Steigerungsraten des Bruttoinlandsprodukts. War es hoch, sprach man von einem „entwickelten“ Land, war es niedrig von einer „unterentwickelten“ Volkswirtschaft. Folgerichtig konnte deshalb der Rat der „Entwickelten“ an die „Unterentwickelten“ nur lauten: Entwickelt euch so wie wir! Mit euerem Lebensstandard, eueren Konsumerwartungen, euerer industriellen und landwirtschaftlichen Produktion. Spätestens seit den Prognosen, wie sie in den Weltmodellen und Berichten an den Club of Rome ab den 70er Jahren[2] in die Welt kamen, mit der Aufforderung, umzudenken und der Feststellung im Aktionprogramm der Agenda 21, dass sich die Menschheit an einem entscheidenden Punkt ihrer Geschichte befinde[3], werden in der Theoriediskussion darüber, was Entwicklung ist, neben den wirtschaftlichen Aspekten stärker soziale, kulturelle und ökologische Gesichtspunkte eines „human development“[4]einbezogen.

Entwicklungstheorien

In der deutschsprachigen Theorie-Praxis-Diskussion um Entwicklung wird seitdem eine engagierte Auseinandersetzung darüber geführt, ob die „großen Theorien“, wie z.B. die Wachstumstheorie, Dependenztheorie, das Zentralplanungsmodell, das neoliberale Modell, das „Gänseflug-Modell“... gescheitert seien und welche theoretischen, auf die Praxis der gesellschaftlichen Entwicklung sich auswirkenden Modellvorstellungen an deren Stelle gedacht und realisiert werden sollten. Im Vordergrund steht dabei die Erkenntnis, dass wir der „konfuzianischen Herausforderung“ (Michael Bohnet) entsprechen müssen, nämlich eine nachhaltige Entwicklung zu gewährleisten, die die Grundbedürfnisse der heutigen Generation zufrieden stellt, ohne die Chancen für die künftigen Generationen zu verhindern. Die Forderungen nach einer neuen Weltordnung im Zeichen der Globalisierung werden in diesem Zusammenhang immer wieder erhoben: „Entwicklung braucht Regeln“ (Wilhelm Hankel), um den auswuchernden „freien-Markt-Kapitalismus“ und den „Raubtier-Kapitalismus“[5], mit der „Wachstums-Mentalität“ zu begegnen durch ein „Good governance“. Dem „Wirtschaftskapital“ muss in übergeordneter Weise das „Humankapital“ vorgelagert werden, damit die Ziele und Strategien von Entwicklungstheorien sich nicht inhuman verselbständigen, sondern sich im Sinne einer „globalen nachhaltigen Entwicklung“ entwickeln.

Leere und volle Welt

Ein historischer Wendepunkt sei gekommen, das mahnte bereits der Leitende Ökonom der Weltbank, Herman E. Daly vor fast zehn Jahren an. Er geht davon aus, dass wir von einem Wirtschaften Abstand nehmen müssen, in dem „das von Menschen produzierte Kapital der begrenzende Faktor der Wirtschaftsentwicklung war (und hinkommen sollten) ... die Produktivität des natürlichen Kapitals... zu verstärken“[6]. Der lateinamerikanische UN-Vertreter und Schriftsteller Oswaldo de Rivero erhebt gegen den westlichen „Entwicklungsoptimismus“ Einspruch, indem er vom „Entwicklungsmythos“ des Westens spricht[7]. Entgegen den Erwartungen, wie sie von westlichen Entwicklungstheoretikern gehegt werden, formuliert er die Kernthese: „Es gibt keine Entwicklung, oder zumindest nicht in dem Sinne, wie wir sie in den letzten 50 Jahren verstanden haben“. Ein „Virus der wirtschaftlichen Lebensunfähigkeit“ habe viele Länder in der südlichen Erdhemisphäre befallen; ungerechte Verteilung der Einkommen, Bevölkerungsexplosion und technologischer Rückstand führten dazu, dass die Gesellschaften immer weniger regierbar werden; das von den westlichen Ländern praktizierte und den Entwicklungsländern aufgezwungene Konsummodell ist selbst für die reichen Gesellschaften langfristig kein gangbarer Weg, schon gar nicht für die armen; ökologische Probleme werden früher oder später die Ausbreitung des Kapitalismus, der auf hohen Konsum ausgerichtet sei und die Natur wie einen Rohstoff verbrauche, beenden. Seine Kritik an der globalisierten Entwicklung zielt insbesondere auf den wirtschaftlichen Bereich:

„Sie verkauft uns ein Entwicklungsmodell, das nicht lebensfähig ist. Anstatt das `Weltdorf` zu schaffen, bringt sie nur einige Ghettos mit wohlhabenden Menschen hervor, die den gleichen Lebens- und Konsumstil haben und die Umwelt zerstören. Hinter diesen Ghettos breiten sich Elendsviertel, Slums und Vorstädte aus, in denen Wasser, Energie und Nahrungsmittel knapp, aber Kriminalität, Arbeitslosigkeit, Gewalt und Verschmutzung aller Art reichlich vorhanden sind“.

Sein pessimistisches Szenario: Im Jahr 2020 wird es in der unterentwickelten Welt rund 3 Milliarden Arme geben, von denen über 800 Millionen Hunger leiden und Hunderte von Millionen unter- oder unbeschäftigt sind; transnationale Konzerne wickeln zwei Drittel der Welthandelsgüter ab; die 358 reichsten Menschen der Erde verfügen über ein jährliches Einkommen, das höher liegt als das Einkommen von 2,3 Milliarden Menschen, also von rund 45% der Weltbevölkerung; rund 800 Millionen Menschen in Afrika südlich der Sahara, in Südasien, Mittelamerika und den Andenländern fehlt es an ausreichenden Nahrungsmitteln; die Hälfte der Weltbevölkerung verfügt nicht über genügend Trinkwasser... Sein Fazit: Die einzelnen Länder müssen sich um ihren eigenen „nationalen Überlebenspakt“ kümmern und nicht wie hypnotisiert auf die technologischen Errungenschaften in den westlichen Industrieländern starren: Sie müssen statt dessen Maßnahmen für das Überleben ergreifen, denn ohne diese gibt es keine stabile Gesellschaft, ohne Wasser gibt es keine Gesundheit, ohne Energie gibt es keine Produktion, und ohne Nahrungsmittel steht das Leben auf dem Spiel“.

Millenniumsziele und die aktuelle Wirklichkeit

Auf dem Millenniumgipfel im Jahr 2000 haben die in den Vereinten Nationen zusammengeschlossenen Völker der Erde vereinbart, die Armut in der Welt zu bekämpfen. Mit den sieben so genannten Millenniums-Entwicklungszielen sollen Maßnahmen eingeleitet werden, um die Ungerechtigkeiten auf der Erde zu verringern und ein humanes Leben für alle Menschen in der Welt zu ermöglichen: Bekämpfung von extremer Armut und Hunger, nämlich zwischen 1990 und 2015 den Anteil der Menschen halbieren, die weniger als den Gegenwert eines US-Dollars pro Tag zum Leben haben. Primarschulbildung für alle, nämlich zu erreichen, dass bis zum Jahr 2015 alle Kinder in der Welt eine Primarschulbildung vollständig abschließen können. Gleichstellung der Geschlechter / Stärkung der Rolle der Frauen, was heißt, das Geschlechtergefälle in der Primar- und Sekundarschulbildung zu beseitigen, möglichst bis 2005 und auf allen Bildungsebenen bis spätestens 2015. Senkung der Kindersterblichkeit, nämlich der Unter-Fünf-Jährigen um zwei Drittel, von  derzeit rund 10 auf 3,5 Prozent. Verbesserung der Gesundheitsversorgung der Mütter, z. B. der Senkung der Sterblichkeitsrate von Müttern um drei Viertel und den allgemeinen Zugang zu reproduktiver Gesundheit zu erreichen. Bekämpfung von HIV/AIDS, Malaria und anderen schweren Krankheiten, bis 2015 die Ausbreitung von HIV/AIDS zum Stillstand bringen und eine Trendumkehr bewirken, etwa bis 2010 einen weltweiten Zugang zur medizinischen Versorgung für alle HIV/AIDS-Infizierten erreichen und die Ausbreitung von Malaria und anderen schweren Krankheiten einzudämmen. Ökologische Nachhaltigkeitals Grundsatz für nachhaltige Entwicklung in der Politik und den Programmen der einzelnen Staaten zu etablieren und die Vernichtung von Umweltressourcen zu stoppen, das Bewusstsein für Biodiversität zu fördern, den Anteils der Menschen ohne dauerhaft gesicherten Zugang zu hygienisch einwandfreiem Trinkwasser zu verringern und bis 2020 die Lebensbedingungen von mindestens 100 Millionen Slumbewohnern zu bewirken. Aufbau einer globalen Partnerschaft für Entwicklung, um eine verantwortungsbewusste Regierungsführung in allen Ländern der Erde zu befördern, den am wenigsten entwickelten Länder auf der Erde (Least Developed Countries) durch den Abbau von Handelshemmnissen, Schuldenerleichterung und –erlass und finanzielle Unterstützung zur Armutsminderung zu helfen[8]. Ein halbes Jahrzehnt vor dem Termin, zu dem die Millenniumsziele verwirklicht werden sollen, herrscht bei den Experten allenthalben die Auffassung, dass die Ziele zum Jahr 2015 auch nicht annähernd erreicht werden können. Zum Ziel „Bekämpfung von extremer Armut und Hunger in der Welt“ etwa wurde bei dem im November 2009 in Rom von der UN-Organisation für Landwirtschaft und Ernährung (FAO) festgestellt, dass die Zahl der Hungernden auf der Erde bisher nicht nur nicht zurückgegangen, sondern sogar gestiegen ist: Von rund 840 Millionen Menschen auf derzeit etwa eine Milliarde. „Die Krise der Welternährung ist eine Frage der Politik – sie ist aber auch eine Frage der Zeit, und die läuft gegen uns“, so charakterisiert der Agrarwissenschaftler und WDR-Journalist Wilfried Bommert die Lage der Welt[9]. Und der Münchner Soziologe und Politikwissenschaftler Ulrich Beck macht darauf aufmerksam, dass für eine „kosmopolitische Realpolitik in der Weltrisikogesellschaft“ eine neu zu definierende Verantwortungsethik notwendig ist, mit eine globalen Gewaltenteilung in der transnationalen Zusammenarbeit[10]. Und die VertreterInnen eines globalen kritischen Bewegungsdiskurses sind davon überzeugt, dass es für ein friedliches, gerechtes und humanes Zusammenleben der Menschen auf der Erde gemeinsam definierte globale soziale Rechte auf der Grundlage der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 bedürfe[11]. Dafür sind, lokal und global, Konzepte und (Denk- und Handlungs-)Modelle notwendig, die gegen das skandalöse Missverhältnis angehen, dass einerseits die Menschen auf der Erde in den letzten Jahrzehnten über immer mehr materielle Güter verfügen, während andererseits die globale Ungleichheit wächst. Die provozierende Frage „Wem gehört die Welt?“ ist ja verbunden mit der nach den materiellen und ideellen „Gemeingütern“, die allen Menschen auf der Erde gehören sollen[12].

Zur Lage der Welt 2009 / 2010

Das angesehene Washingtoner Worldwatch Institute bringt alljährlich einen Bericht „Zur Lage der Welt“ heraus, in dem jeweils die ökonomische, ökologische, kulturelle und politische Situation an einem „globalen Brennpunkt“ aufgezeigt wird. Es sind Fingerzeige und Empfehlungen, wie Politiker und Menschen wie du und ich auf die Szenarien reagieren können, die durch die vielfältigen Krisen auf der Erde - der Sicherheitskrise, der Finanzkrise, der Demokratiekrise und der Umweltkrise – die Existenz der Menschheit bedrohen. Im Bericht 2009 wird im Untertitel des Weltlageberichts der aktuelle Brennpunkt mit „Ein Planet vor der Überhitzung“ benannt und die Zeit der Entscheidungen für eine wirksame und von allen Völkern der Erde getragenen Klimakonvention angemahnt[13]. Wie wir mittlerweile wissen, hat der Klima-Gipfel 2009 die Erwartungen der Besorgten um einen humanen Weiterbestand der Menschheitsfamilie nicht erfüllen können. So bleibt nur die Hoffnung, dass die geringen Fortschritte, wie sie beim UN-Gipfel in Kopenhagen erkennbar waren, sich schnellstmöglich zu einer konkreten Utopie potenzieren. Und wir alle können dazu beitragen! Durch einen Perspektivenwechsel in unserem alltäglichen Dasein, durch Empathie und Solidarität, und nicht zuletzt durch einen Dialog über Kultur, Menschheit und Werte, wie wir Menschen in unserer (Einen) Welt human zusammen leben wollen[14].

Literaturverweise      


[1] Kurt Egger, Landwirtschaft und Überlebenskrise; in: Überlebensfragen. Bausteine für eine mögliche Zukunft, Bd. 2, Stuttgart 1974, S. 123 S.

[2] Dennis L.Meadows, u.a., Die Grenzen des Wachstums, Stuttgart 1972; Mesarovic / Pestel, Menschheit am Wendepunkt, Stuttgart 1974: Global 2000. Der Bericht an den Präsidenten, Frankfurt/M., 1980; Willy Brandt, Das Überleben sichern. Bericht der Nord-Süd-Kommission, Köln 1980; Stiftung Entwicklung und Frieden, Die Herausforderung des Südens. Der Bericht der Südkommission, Bonn-Bad Godesberg 1991

[3] Bundesumweltministerium, Agenda 21, Konferenz der Vereinten Nationen für Umwelt und Entwicklung im Juni 1992 in Rio de Janeiro, Bonn o.J., S. 9

[4] z.B. die komplexen Indices des UNDP, des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen

[5] Peter Jüngst, „Raubtierkapitalismus“ ? Globalisierung, psychosoziale Destabilisierung und territoriale Konflikte, Psychosozial-Verlag / Haland & Wirth, Gießen 2004, 262 S.

[6] Herman E. Daly, Vom Wirtschaften in einer leeren Welt zum Wirtschaften in einer vollen Welt. Wir haben einen historischen Wendepunkt in der Wirtschaftsentwicklung erreicht, in: Robert Goodland u.a. (Hrsg.), Nach dem Brundtland-Bericht: Umweltverträgliche wirtschaftliche Entwicklung, Bonn 1992, S. 29

[7] Buch „El mito del desarrollo“ (Der Entwicklungsmythos), Lima, Mosca Azul Editores 1998

[8] http://de.wikipedia.org/wiki/UN-Millenniumsziele

[9] Wilfried Bommert, Kein Brot für die Welt. Die Zukunft der Welternährung, München 2009, 351 S.

[10] Ulrich Beck, Weltrisikogesellschaft. Auf der Suche nach der verlorenen Sicherheit, Frankfurt/M., 2007, 439 S.

[11] Roland Klautke / Brigitte Oehrlein (Hrsg.), Globale Soziale Rechte. Zur emanzipatorischen Aneignung universaler Menschenrechte, Hamburg 2009, 218 S.

[12] Heinrich-Böll-Stiftung / Silke Helfrich (Hrsg.), Wem gehört die Welt? Zur Wiederentdeckung der Gemeingüter, München 2009, 288 S.

[13] Worldwatch Institute (Hrsg.), Zur Lage der Welt 2009. Ein Planet vor der Überhitzung; in Zusammenarbeit mit der Heinich-Böll-Stiftung und Germanwatch, Münster 2009, 318 S.

[14] Jörn Rüsen / Henner Laass (Hrsg.), Interkultureller Humanismus. Menschlichkeit in der Vielfalt der Kulturen, Wochenschau Verlag, Schwalbach 2009, 366 S.