Feature: Die interdependente Eine Welt

von Dr. Jos Schnurer
27.07.2010 | Soziale Arbeit | Schwerpunkte Kommentare (0)

Darüber, dass die Welt, als Staubkorn des Alls, aber als Lebensraum der Menschheit, sich immer interdependenter und entgrenzender entwickelt, gibt es viele Analysen und Spekulationen.

Collage aus: Deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit, One World, Die Ausstellung zur deutschen Entwicklungszusammenarbeit auf der EXPO 2000 (Jos Schnurer)
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Darüber, dass die Welt, als Staubkorn des Alls, aber als Lebensraum der Menschheit, sich immer interdependenter und entgrenzender entwickelt, gibt es viele Analysen und Spekulationen. Die Weltberichte, die z. B. seit den 1970er Jahren an den Club of Rome gerichtet werden, haben ja die euphorische Vorhersage, dass auf der Erde grenzenloses Wachstum Wohlstand für alle Menschen schaffen würde, radikal in Frage gestellt. Die „Grenzen des Wachstums“ seien erreicht[i], die Menschheit stehe am Wendepunkt ihrer Geschichte[ii], und die Frage, was „jenseits der Grenzen des Wachstums“ zu tun sei[iii], treibt die Menschen im Osten und Westen, Süden und Norden der Erde umher, ohne freilich bisher eine gültige und akzeptierte Antwort darauf zu finden[iv]. Zur Lage der Welt heute prognostiziert das renommierte Washingtoner Worldwatch Institute, dass der Klimawandel erheblich schneller vonstatten gehe, als in vielen wissenschaftlichen Szenarien vorhergesagt wurde, und damit auch die Gefahren für die Menschen überall auf der Erde[v]. Der Weckruf, der von der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung 1987 ausging, dass die Menschen endlich zu einem ökologisch tragfähigem Denken und Handeln kommen sollten[vi], fand seine Fortsetzung in der Warnung, die von der Konferenz der Vereinten Nationen für Umwelt und Entwicklung 1992 in Rio de Janeiro formuliert wurde: „Die Menschheit steht an einem entscheidenden Punkt ihrer Geschichte. Wir erleben eine zunehmende Ungleichheit zwischen Völkern und innerhalb von Völkern, eine immer größere Armut, immer mehr Hunger, Krankheit, Analphabetentum sowie eine fortschreitende Schädigung der Ökosysteme, von denen unser Wohlergehen abhängt“[vii]. Die Weltkommission „Kultur und Entwicklung“ hat im November 1995 den Bericht „Unsere kreative Vielfalt“ vorgelegt, in dem sie Position im Streit zwischen den Univeralisten und Kulturrelativisten bezieht und für eine „globale Ethik als Ergebnis kultureller Entwicklung im Weltmaßstab und als Grundlage der Erhaltung kultureller Vielfalt“ plädiert. Mit dem Appell „Die Menschheit steht vor der Herausforderung umzudenken, sich umzuorientieren und gesellschaftlich umzuorganisieren, kurz: neue Lebensformen zu finden“[viii], greift sie in den kontroversen Diskurs ein, indem sie feststellt, dass „die Ideale des Universalismus nicht zu haben sind ohne Anerkennung der kulturellen Vielfalt und dass der kulturelle Pluralismus ebenso wie die Meinungsvielfalt zu den demokratischen Grundwerten gehört“. Die sich in den Zeiten der Globalisierung vollziehenden asymmetrischen Prozesse, die oberflächlich mit der Metapher benannt werden, dass die Reichen (lokal und global) immer reicher und die Armen (ebenso lokal und global) immer ärmer werden, zeigen sich ja vornehmlich in der „Ungleichzeitigkeit und Widersprüchlichkeit der Transnationalisierungsprozesse“[ix] und verdeutlichen sich in den unterschiedlichen Weltbildern, die Politik und Erwartungshaltungen der Menschen auf der Erde bestimmen. Seit dem Ende des Kolonialismus und des Ost-West-Konflikts, die über Jahrhunderte hinweg eine Dreiteilung der politischen Weltkarte vorgaben – in zwei ideologisch verfeindete Lager und die so genannte Dritte Welt – bestimmt die interdependente Entwicklung die Anschauung der Welt durch die Menschen. Dabei lassen sich vier Weltbilder identifizieren: Da ist zum einen das Weltbild, wie es von den Vereinten Nationen propagiert wird, als Mosaik souveräner und gleichberechtigter Staaten[x]; zum anderen das Weltbild der Regionen und geopolitischen Zentren, das sich im Begriff der „multipolaren Welt“ ausdrückt[xi]; zum dritten das Weltbild als Schichtungs- und Herrschaftssystem, das sich zum einen differenziert in die Betrachtung der politisch-militärischen Hegemonie und der politisch-ökonomischen Macht einer (Welt-)“Klassengesellschaft“[xii] ; und schließlich das Weltbild der „Weltgesellschaft“, das die Internationalisierung des Weltzustandes und der Entwicklung hin zu einer gerechteren, friedlicheren und humaneren Welt im Blick hat[xiii].

Kulturrelativismus als Blickrichtung

Die Überzeugung, dass „die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt bildet“, liegt dem Eine-Welt-Gedanken zugrunde, wie dies in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte[xiv]. Die als „Weltethik“ zu betrachtende Festlegung: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen“, wie dies in Artikel 1 der Menschenrechtsdeklaration zum Ausdruck kommt, wird relativierbar, wenn, wie dies der Kulturrelativismus tut, der Pluralismus der kulturellen Entwicklung als Erklärungsmuster für (inter-)kulturelles Denken und Handeln herangezogen wird: „Jede Kultur ist relativ und nur aus sich selbst heraus zu verstehen“. Das Dilemma dieser Sichtweise[xv] wird z. B. dadurch deutlich, dass die Kulturrelativisten beim Diskurs über die weltweite Durchsetzung der Menschenrechte sich darauf berufen, dass ethische Forderungen und Rechtssysteme immer aus der Blickrichtung der jeweiligen kulturellen, sozialen und Wertesysteme betrachtet werden müssen, und dadurch etwa individuelle und gesellschaftliche Freiheits- und Gleichheitsforderungen, die aus anderen kulturellen Denk- und Traditionsrichtungen stammen, nicht universal gelten könnten[xvi].

Universalismus als Alternative

Die relativierende Auffassung von Kultur führt ja auf die Einbahnstraße, dass Kultur etwas Statisches, Abgrenzendes, Abgeschlossenes, Nationales und Ethnisches sei. Das universalistische Denken hingegen geht davon aus, dass kulturelle Identitäten sich bilden und verändern. Kulturrelativismus baut Mauern, auf denen es keine Ein- und Übergänge, auch keine Ausgänge gibt. So formuliert die Weltkommission „Kultur und Entwicklung“ gewissermaßen ihr Manifest: „In einer Welt, die bereits vom Relativismus geprägt ist, gibt es keinen Raum für das Einfordern von Relativismus. Relativismus den Denkens ist Unsinn, moralischer Relativismus wäre tragisch... Lasst uns Freude an der Vielfalt haben, aber gleichzeitig absolute Maßstäbe festhalten für das, was recht, gut und wahr ist“[xvii]. Dabei geht es darum, den Dialog zwischen den Kulturen zu suchen und zu verstärken, denn  „die Menschen können und sollen auf ihren Glauben und ihr kulturelles Erbe stolz sein. Aber wir können in Ehren halten, was wir sind, ohne zu hassen, was wir nicht sind“[xviii]. Die UNESCO hat 2005 das Übereinkommen zur Vielfalt kultureller Ausdrucksformen ratifiziert, in dem es u. a. heißt, dass die Menschen überall auf der Erde eine „uneingeschränkte kulturelle Selbstbestimmung auf der Basis der Menschenrechte“ haben. In dem Weißbuch, das auf die Umsetzung des Übereinkommens in Deutschland zielt, wird deutlich gemacht: „Die Vielfalt kultureller Ausdrucksformen ist unverzichtbare Ressource für Freiheit, Grundlage unserer pluralistischen Gesellschaft und Voraussetzung für die Ermöglichung individueller Lebensoptionen“.[xix] .

Leben in der Weltrisikogesellschaft

Mit dem von Ulrich Beck geprägtem Begriff der „Weltrisikogesellschaft“[xx] soll deutlich gemacht werden, dass es eines Perspektivenwechsels bedarf, um den Skandal der Ungleichheit in der Welt endlich aus der Welt zu schaffen; dieser zeige sich nämlich in der Form eines Champagnerglases: „Auf die 900 Millionen Menschen, privilegiert durch die Gnade der westlichen Geburt, entfallen 86 Prozent des Weltkonsums, sie verbrauchen 58 Prozent der Weltenergie und verfügen über 79 Prozent des Welteinkommens... Auf das ärmste Fünftel, 1,2 Milliarden der Weltbevölkerung, entfallen 1,3 Prozent des globalen Konsums, 4 Prozent der Energie...“[xxi]. Es bedürfe, anstelle des „nationalen Blicks“, als ethno-, euro- und egozentrierte Betrachtung und Einstellung, den „kosmischen Blick“ als globale Perspektive, um die inhumane Ungleichheit auf der Erde zu überwinden. Weil die „Furcht eigene Wirklichkeiten“ schafft, müssen wir davon ausgehen, dass die Weltrisikogesellschaft, mit all ihren Formen von Ungleichheit, Ungerechtigkeit und Problemen einen „Ausnahmezustand“ darstellt, mit der wir umgehen müssen, um ihn überwinden zu können[xxii].

Die didaktische Aufgabe

Es ist das Ende der, allerdings in der Vergangenheit trügerischen Gewissheiten[xxiii], der den Perspektivenwechsel erforderlich macht, soll die Menschheit eine Chance zum Überleben und zur humanen Weiterentwicklung haben. Als Bildungsauftrag in der Schule und in der außerschulischen Aufklärung bedarf es deshalb des interkulturellen Blicks auf die Welt, wie sie ist, wie sie geworden ist und in der Zukunft sein soll. Die didaktische Reflexion muss dabei fächerbezogen, -übergreifend und kompetenzorientiert sein. Eine besondere Bedeutung sollte dabei im schulischen Unterricht dem Gedanken der lokalen und globalen Vernetzung zukommen. Als Lernstrategie sollte dabei vermittelt werden, „selbstautorisierte Strukturen als Bollwerk gegen lokale und globale ego- und ethnozentrierte Diskontinuitäten“ einzusetzen und eine „Netzwerkkreativität“ zu entwickeln, aus der Einsicht heraus, dass egoistisches, ethno- und eurozentriertes Denken keine Auswege aus der falschen Entwicklung darstellen können[xxiv]. Wir brauchen eine „Interkulturelle Pädagogik“, die darzustellen vermag, dass Mobilität, Migration und Wanderung der Menschen zum konstitutiven Element des Lebens in der Einen Welt[xxv].

[i] Dennis L. Meadows, u.a., Die Grenzen des Wachstums, Stuttgart 1972, 16. Aufl. 1994, 183 S.

[ii] Mihailo Mesarović/ Eduard Pestel, Menschheit am Wendepunkt. 2. Bericht an den Club of Rom zur Weltlage, Stuttgart 1974, 184 S.

[iii] Eduard Pestel, Jenseits der Grenzen des Wachstums, Stuttgart 1988, 208 S.

[iv] vgl. dazu u.a.: Global 2000. Der Bericht an den Präsidenten, Frankfurt/M., 1980, 1.438 S.; Bericht der Nord-Süd-Kommission, Das Überleben sichern. Gemeinsame Interessen der Industrie- und Entwicklungsländer, Köln 1980, 381 S.; Der Bericht der Südkommission, Die Herausforderung des Südens. Über die Eigenverantwortung der Dritten Welt für dauerhafte Entwicklung, Bonn – Bad Godesberg 1991, 430 S.

[v] Worldwatch Institute (Hrsg.), in Zusammenarbeit mit der Heinrich-Böll-Stiftung und Germanwatch: Zur Lage der Welt 2009. Ein Planet vor der Überhitzung, Münster 2009, 318 S.

[vi] WCED, Our Common Future, Oxford 1987, 393 S.; Volker Hauff (Hrsg.), Unsere Gemeinsame Zukunft. Der Brundtland-Bericht der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung, Greven 1987, 421 S.

[vii] Bundesumweltministerium, Agenda 21. Konferenz der Vereinten Nationen für Umwelt und Entwicklung im Juni 1992 in Rio de Janeiro, Bonn o. J. <1994>, S. 9

[viii] Deutsche UNESCO-Kommission, Unsere kreative Vielfalt. Bericht der Weltkommission „Kultur und Entwicklung“ (Kurzfassung), zweite, erweiterte Auflage, Bonn 1997, S. 18

[ix] Stiftung Entwicklung und Frieden, Globale Trends 1991. Daten zur Weltentwicklung, Bonn / Düsseldorf 1991, S. 17

[x] Klaus Hüfner, Die Vereinten Nationen und ihre Sonderorganisationen. Strukturen, Aufgaben, Dokumente, UN-Texte 35, hrsg. v. d. Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen, Bonn 1986, 406 S.; neu: DGVN-Texte 40, Bonn 1991, 175 S. und DGVN-Texte 41, 1992, 244 S.; siehe dazu auch die Weltkarten-Projektion des Third World Guide, 1989/90 (Globale Trends, a.a.o., S. 37)

[xi] Geopolitische Weltkarte von Saul Cohen: Geostrategische Regionen und ihre geopolitischen Teilgebiete, 1982, sowie: Weltkarte nach Zbigniew Brzezinski, 1990 (Globale Trends, a.a.o., S. 41 und 44)

[xii] Libération-Weltbild: Herrscher und Beherrschte im internationalen System, 1990 (Globale Trends, a.a.o., S. 47)

[xiii] Entwicklung als dynamischer Prozess, die eine Änderung der Betrachtung der traditionellen, theoretischen Entwicklungsstrategien erforderlich machen; vgl. dazu z. B. die engagierte Diskussion in der Zeitschrift E+Z, Entwicklung und Zusammenarbeit, inWent, Bonn, http://www.inwent.org 

[xiv] Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948, in: Deutsche UNESCO-Kommission, Menschenrechte. Internationale Dokumente, Bonn 1981, S. 48ff

[xv] vgl. dazu: Historischer Partikularismus, wie ihn Franz Boas entwickelt hat, http://de.wikipedia.org/wiki/Franz_Boas

[xvi] Klaus Hüfner, UNESCO und Menschenrechte, Berlin 2008, 156 S.

[xvii] Unsere kreative Vielfalt, a.a.o., S. 9f

[xviii] Kofi Annan, Brücken für die Zukunft. Ein Manifest für den Dialog der Kulturen, 2. Aufl., Frankfurt/M., 2001, S. 11

[xix] Deutsche UNESCO-Kommission, Kulturelle Vielfalt gestalten. Handlungsempfehlungen aus der Zivilgesellschaft zur Umsetzung des UNESCO-Abkommens zur Vielfalt kultureller Ausdrucksformen (2005) in und durch Deutschland. Weißbuch, Bonn, Dezember 2009, 32 S.

[xx] Ulrich Beck, Weltrisikogesellschaft. Auf der Suche nach der verlorenen Sicherheit, Frankfurt/M. 2007

[xxi] Ulrich Beck, Die Neuvermessung der Ungleichheit unter den Menschen. Soziologische Aufklärung im 21. Jahrhundert; Sonderdruck edition suhrkamp, Frankfurt/M., 2008, 58 S.

[xxii] Markus Holzinger u.a., Weltrisikogesellschaft als Ausnahmezustand, Weilerswist 2010, 32ß S.

[xxiii] Michael M. Thoss / Christina Weiss (Hrsg.), Das Ende der Gewissheiten. Reden über Europa, München 2009, 288 S.

[xxiv] Peter Mörtenböck / Helge Mooshammer, Netzwerk Kultur. Die Kunst der Verbindung in einer globalisierten Welt, Bielefeld 2010, 153 S.

[xxv] Jos Schnurer, Für Eine Welt – in Einer Welt. Überlebensfragen bei der Weiterentwicklung von Bildungs- und Erziehungsaufgaben der Schule, Verlag Dialogische Erziehung / Paulo Freire Verlag, Oldenburg 2003, 267 S.; vgl. auch: Ghodsi Hejazi, Pluralismus und Zivilgesellschaft. Interkulturelle Pädagogik in modernen Einwanderungsgesellschaften: Kanada – Frankreich – Deutschland, Bielefeld 2009, 371 S.