Ernesto Cardenal wird 90

von Dr. Jos Schnurer
04.01.2015

Es gibt Menschen, an die man gerne denkt und die einen berühren; mit ihrer Art zu leben, zu schreiben und sich bemerkbar zu machen, bescheiden und gleichzeitig bestimmt; unauffällig und doch Aufmerksamkeit fordernd; aktiv und beeindruckend: Wir sprechen vom lateinamerikanischen Schriftsteller, Theologen und Revolutionär Ernesto Cardenal. Er begeht am 20. Januar 2015 seinen 90. Geburtstag. Cardenal gilt als einer der wichtigsten Vertreter der lateinamerikanischen Befreiungstheologie, die er in der christlichen Kommune am Großen See in Nicaragua mit dem „Evangelium der Bauern von Solentiname“ begründete. Er sieht in der Revolution die Möglichkeit, einen neuen Menschen ohne Egoismus und mit Solidarität zu schaffen, in einer Gesellschaft, in der der Mensch den Menschen nicht mehr ausbeutet, in der der Wert des Menschen nicht danach gemessen wird, was dem anderen wegnimmt, sondern was er ihm gibt. In diesem Sinne spricht Cardenal von der „Heiligkeit der Revolution“. Und er belegt diese Überzeugung mit seinem abwechslungs- und entbehrungsreichen Leben. In dem Revolutionär Che Guevara sieht Cardenal sein Vorbild, Menschen im Geiste der Nächstenliebe zu erziehen. Davon handeln seine Erzählungen, Gedichte und Lieder. Der Mann mit der Baskenmütze, seinen langen weißen Haaren und dem markanten Gesicht gilt als Markenzeichen für ein trotziges: Dennoch! Und für eine Beständigkeit und Hoffnung, dass es eines Tages gelingen könnte, eine bessere, gerechtere und humanere Eine Welt zu schaffen. Cardenal bekennt sich als Christ und Marxist. In einem seiner bedeutsamsten Bücher, den Psalmen“, beschwört er die Vision einer menschlichen Welt hier auf Erden. Er klagt Ungerechtigkeit, Unterdrückung, Ausbeutung und Lüge an; und er weist darauf hin, dass wir Menschen dabei sind, die Erde unmenschlich zu machen. Noch vor wenigen Jahren trat er in mehreren deutschen Städten auf, musikalisch begleitet von Grupo Sal, einer Gruppe von sechs Musikern, die seit 25 Jahren ihre lateinamerikanischen, traditionellen und modernen Rhythmen professionell und engagiert spielen. Der ehemalige Priester, Politiker, Kultusminister und Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels las aus seinen Büchern, in denen er in Berichten und Gedichten über die Missstände, wie Hunger in der Welt, Gewalt und Ungerechtigkeit hinweist und zum Perspektivenwechsel aufruft.
Den Himmel berühren. In einem Gedicht schreibt Cardenal, er ist überzeugt, dass der Kapitalismus fallen wird, wie der Frühling auf den Winter folgt. Es werde sein wie ein Naturgesetz. Diese Hoffnung trägt ihn, und es gelingt ihm immer wieder, seine Gesprächspartner und Zuhörer mit der Hoffnung anzustecken.Sein scheues Lächeln, manchmal auch sein verschmitztes Lachen, lassen die Zuschauer und Zuhörer ahnen, dass da tatsächlich einer vor ihnen sitzt, der in der Lage ist, den Himmel zu berühren, wie es in einem seiner Gedichte heißt. In jedem Fall aber berührt er ihre Herzen – und es ist durchaus möglich, dass Menschen, die seine Gedichte lesen oder seine Prosa, nach der Lektüre anders herauskommen als sie vorher waren; das aber ist doch eigentlich etwas, was man als den vielbeschworenen und notwendigen Paradigmenwechsel erhofft, den die von den Vereinten Nationen 1995 eingesetzte Weltkommission „Kultur und Entwicklung“ als Ergebnis ihrer Nachschau über den Zustand der Welt und der Menschheit empfiehlt: „Die Menschheit steht vor der Herausforderung umzudenken, sich umzuorientieren und gesellschaftlich umzuorganisieren, kurz: neue Lebensformen zu finden“. Zu seinem 90. Geburtstag bringt der Göttingen Steidl-Verlag einen Band mit neuen Gedichten heraus: Etwas, das im Himmel wohnt; aus dem Spanischen von Lutz Kliche, 104 S., Klappbroschur, 14,90 Euro, ISBN 978-3-7795-0511-2 ( vgl. dazu auch: Ernesto Cardenal, Diese Welt und eine andere, 2013, https://www.socialnet.de/rezensionen/15281.php). Autor
Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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