Charlotte Zach

Ein selbstbestimmtes Leben führen zu wollen, ist nicht unangemessen und keine Extrawurst

Es passiert mir in meinem Beratungsalltag immer wieder: Junge Menschen mit Körperbehinderung sitzen vor mir sind ratlos,  entmutigt und verzweifelt. Sie haben das Gefühl, festzustecken, als endete ihr Leben nun in einer Sackgasse, nach all den Bemühungen der Inklusion und Integration und der Versuche von Teilhabe und Normalität. Denn sie wollen von zu Hause ausziehen, weg aus ihrem Elternhaus, unabhängig werden. Das Problem daran ist: Auf brutale Weise wird ihnen klar, dass sie immer abhängig sind. Dass sie immer verletzlich sind. Dass es eine vollständige Unabhängigkeit für sie nicht gibt. Das ist eine Erkenntnis und eine psychische Belastung, die sich Menschen ohne Behinderungen kaum vorstellen können. Es ist eine massive Konfrontation mit existenziellen Ängsten und der Frage des eigenen Selbstbildes. Es ist wie ein Schlag ins Gesicht einer Gesellschaft, die eine Armee aus Einzelkämpfer:innen heranzieht, die einem immer vermittelt, man müsse möglichst stark und unabhängig und unverletzlich sein und die ein Hinterfragen dieses Ideals kaum aushält, weil es das Ego nicht zulässt, zuzugeben dass man verletzlich und vergänglich ist und nur in Zusammenarbeit einer Gruppe existieren kann.

Also machen sich die jungen Menschen auf den Weg und suchen eine Lösung für ein möglichst selbstbestimmtes Leben, wohl ahnend, dass sie das Paradoxon aus unabhängig sein müssen und immer abhängig sein nicht ganz lösen werden. Trotzdem möchte man ja ein selbstbestimmtes Leben, ein erwachsenes Leben führen.Und auf ihrer Suche landen sie in meiner Beratungsstelle. Wenn ich ihnen dann von Leben mit Assistenz erzähle, bekommen viele große Augen. Wenn ich ihnen dann vom persönlichen Budget und vom Arbeitgebermodell erzähle, sehe ich oft große Unsicherheit in den großen Augen und das kann ich gut verstehen. Deswegen erzähle ich ihnen dann auch oft, dass ich selber nicht im persönlichen Budget bin und trotzdem mein Leben relativ selbstbestimmt mit Assistenz organisieren kann.

Diesen weiteren Weg, einen Anbieter zu finden, der sich darauf einlässt, dass die Person mit Behinderung selbst die Assistenzkräfte ausgewählt,  deswegen aber nicht automatisch ihr Arbeitgeber sein muss, finden viele Betroffene sehr interessant. Die traurige Wahrheit ist jedoch, dass viele Assistenzdienste sich auf diese Kommunikation und Kooperation auf Augenhöhe nicht einlassen. Obwohl es für sie auch eine Entlastung mit sich bringen kann, wenn die Menschen mit Behinderung ihre Assistenzkräfte selber suchen, die Vorstellungsgespräche führen, Krankheits- und Urlaubsvertretung weitestgehend selber organisieren und ungelernte Kräfte ja auch günstiger sind, lassen sich viele Anbieter auf ein solches Modell nicht ein.

Das ist meiner Meinung nach Diskriminierung und zeigt, das ist der Paradigmenwechsel vom Fürsorgemodell zum Dienstleistermodell mit dem Fokus auf der Selbstbestimmung für die Menschen mit Behinderung noch nicht stattgefunden hat. Viele Anbieter halten verkrampft an der hierarchischen Kommunikation mit den Menschen mit Behinderung fest, sie weigern sich letztlich, die Menschen als Kund*innen zu sehen und versperren sich gegen die Möglichkeiten einer selbstbestimmten Lebensführung.

Ich selber habe das leider auch erlebt. Mein Anbieter hat mich immer wieder in Notsituationen alleine gelassen, nicht unterstützt, die Beratung verweigert und meine Versorgung nicht sichergestellt. Stets mit dem Hinweis, ich hätte angegeben, mich vollständig allein darum kümmern zu wollen. Tatsächlich wurde mir aber gleich zu Beginn der Zusammenarbeit quasi die Pistole auf die Brust gelegt, da mir gesagt wurde, entweder ich lasse mich von dem vorhandenen Pflegepersonal im Rahmen einer Pflegetour mit den entsprechend vollständig unflexiblen Zeiten und dem viel zu engen Zeitrahmen versorgen, oder ich kann mir die Person selber aussuchen, aber dann gibt es keinerlei Unterstützung im Notfall, bei Ausfällen, auch nicht wenn diese längerfristig sind oder zum Beispiel pandemiebedingt. Das heißt ich konnte mich entscheiden zwischen einer gewissen Sicherheit für den Notfall oder dem Mindestgrad an Selbstbestimmung. Ich habe mich für die Selbstbestimmung entschieden. Notfälle versuche ich durch Privatpersonen auszugleichen.

Das ist aber eine sehr privilegierte Lösung auf die nicht alle Menschen mit Behinderungen zurückgreifen können. Auf meine Anfrage ob es eine Möglichkeit gibt, mich in irgendeiner Form bei der Akquise von neuen Assistenzkräften oder bei der Planung von Krankheitsausfällen zu unterstützen, wurde mir nur wieder mehrfach gesagt, wenn ich die Konditionen nicht gut fände, könnte ich ja einfach in das persönliche Budget wechseln. Solche Aussagen machen mehr als deutlich, wie wenig Interesse manche Anbieter an der tatsächlichen Selbstbestimmung und niederschwelligen Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung haben. Nicht jeder Mensch möchte Arbeitgeber werden. Nicht jeder Mensch möchte die Verantwortung für ein fünfköpfiges Team haben. Vor allem nicht, nebenher zu seiner eigentlichen Arbeit. Vor allem nicht noch vor dem 30. Lebensjahr. Vor allem nicht, wenn man dafür noch nicht mal bezahlt wird, sondern es einfach nur die Voraussetzung dafür ist, dass man morgens aufstehen kann, wenn man möchte, das man essen kann, wann wie und was man möchte, dass man anziehen kann, was man möchte, dass man das Haus verlassen kann, wann man möchte. Dass man einer Arbeit nachgehen kann und in seiner Freizeit Freunde besuchen oder ein Hobby ausführen kann. Kurzum: dass man einfach leben kann. Das persönliche Budget und das Arbeitgebermodell stellen eine Möglichkeit der Selbstbestimmung dar. Menschen mit Behinderungen jetzt dazu zu zwingen, dass sie ins persönliche Budget wechseln müssen, wenn Sie ein selbstbestimmtes Leben führen wollen, ist eine massive Diskriminierung und hat nichts mit Inklusion und Teilhabe und noch weniger mit Niederschwelligkeit zu tun.

 Wir brauchen flächendeckend viele verschiedene Möglichkeiten für Menschen mit verschiedensten Behinderungen, selbstbestimmte Formen von Assistenz in Anspruch nehmen zu können. Dazu wird das persönliche Budget und das Arbeitgebermodell gehören. Aber dazu gehören genauso unabhängige und selbstorganisierte Assistenz Vereine und auch die großen Anbieter der Behindertenhilfe und der Wohlfahrt. Wenn diese sich Worte wie Inklusion und Teilhabe auf die Fahnen schreiben möchten, dann müssen sie verdammt nochmal auch gewillt sein, ihre Dienstleistungen den Bedarfen und Ansprüchen ihrer Kund:innen aus dem 21. Jahrhundert anzupassen. Hallo Anbieter! Hört auf, unseren internalisierten Ableismus auszunutzen, indem ihr uns immer wieder vermittelt unsere Ansprüche wären eine Extrawurst, eine Belastung und völlig unangemessen. Ein selbstbestimmtes Leben führen zu wollen, ist nicht unangemessen. Und wir sind keine zusätzliche Belastung für euch. Eigentlich ist es sogar günstiger für sie, müssen sie sich doch um weniger kümmern in der Organisation und sind viel mehr Backup Ansprechpartner und Berater:innen. Aber manche wollen einfach nicht akzeptieren, dass Menschen mit Behinderungen selber entscheiden können und werden.

 Der Weg in die Selbstbestimmung ist auch ohne die bürokratischen und organisatorischen Hürden für Menschen mit Behinderungen noch hart genug. Eigentlich brauchen sie all Ihre Kräfte für die Auseinandersetzung mit der eigenen Verletzlichkeit, mit dem eigenen Selbstbild. Eigentlich brauchen sie all ihre Ressourcen für die aufregende Reise hinter die kollektive Fassade der Anpassbarkeit und Unsterblichkeit, die unsere Gesellschaft versucht aufrechtzuerhalten und die uns so viel Kraft raubt. Vielleicht liegt der Grund, warum Menschen mit Behinderungen auf so viele Hürden aus der Gesellschaft auf diesem Weg stoßen auch darin, dass sie der Gesellschaft einen Spiegel vorhalten, dass sie provozieren, wenn Sie diesen Weg gehen. Aber das ist noch ein ganz großes neues Thema.