Ein neues Zuhause geben: Aufwachsen in einer Pflegefamilie

Eigentlich ziemlich eindeutig – Familie ist Familie und jede ist einzigartig. Aber wie organisiert die Jugendhilfe den Übergang von der leiblichen Familie hin zur Pflegefamilie? Die Lebenslagen von Pflegekindern erforschen Anke Kuhls und Professor Wolfgang Schröer an der Universität Hildesheim. Sie gehen der Frage nach, was eine Pflegefamilie an Belastung aushalten kann und wer den Rahmen setzt. In Niedersachsen beschreibt seit kurzem ein Leitfaden, wie Jugendämter die Unterbringung von Kindern in Pflegefamilien organisieren sollten. Denn bisher war wenig standardisiert.

Eigentlich ziemlich eindeutig – Familie ist Familie. Auch eine Pflegefamilie ist eine Familie. Oder ist sie keine? Die Frage berührt eine der Herausforderungen in der Pflegekinderhilfe: In welchem Maße legen die Fachleute in den Jugendämtern und den sie begleitenden Diensten fest, wie eine Pflegefamilie zu funktionieren hat und welchen Spielraum lässt man der Familie in ihrer Einzigartigkeit? Pflegeeltern sollen Kindern ein neues Zuhause geben. Die Gründe dafür sind sehr unterschiedlich, manche Kinder wurden von den leiblichen Eltern vernachlässigt, körperlich oder seelisch misshandelt. Diese Kinder wachsen dann häufig nicht mehr in der Herkunftsfamilie auf. Am 31. Dezember 2012 waren 64.000 Kinder in Pflegestellen untergebracht.

Pflegeeltern sollen Kindern ein neues Zuhause geben

„Bei all der Tragik, die eine zerissene Kernfamilie und das von ihr getrennt lebende Kind erfahren, ist es auf der anderen Seite ehrbar, wenn Kinder, deren Eltern ausfallen, eine zweite Möglichkeit erhalten, in einer Familie aufzuwachsen. Das bedeutet, dass sich Personen zur Verfügung stellen, und diese nicht leichte Aufgabe übernehmen wollen. Das verdient der besonderen Anerkennung“, sagt Anke Kuhls, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozial- und Organisationspädagogik der Universität Hildesheim. Sie befasst sich mit den Lebenslagen von Pflegekindern und Pflegeeltern und geht der Frage nach, was eine Pflegefamilie an Belastung aushalten kann, wie man Pflegefamilien unterstützen und zum Beispiel auf Besuche der leiblichen Familie vorbereiten kann. Anke Kuhls hat zuvor lange Jahre in einem Pflegekinderdienst gearbeitet. „Ich habe eine Vielzahl an Begrenzungen erlebt. Bei Pflegekindern, Herkunftseltern und Pflegeeltern habe ich Beratungs- und Unterstützungsbedarf wahrgenommen, der nicht immer zufriedenstellend bedient werden konnte. Viele gute Ideen zur Verbesserung konnten sich aufgrund fehlender Unterstützungssysteme im Bereich Pflegekinderhilfe und fehlenden Wissens nicht entfalten.“ Derzeit promoviert sie zum Thema „Verbesserung der Zusammenarbeit zwischen Jugendamt und Pflegeeltern“. Die Daten wurden in Experteninterviews erhoben. Das Land Niedersachsen unterstützt seit etwa zehn Jahren die Kommunen bei der Qualitätsentwicklung. Mit den „Strukturen der Vollzeitpflege in Niedersachsen“ wurde 2003 eine erste Bestandsaufnahme vorgenommen. Diese bescheinigte den Jugendämtern, dass sie ihre Aufgaben äußerst unterschiedlich wahrnehmen. Jeder Umzug einer Pflegefamilie in einen anderen Jugendamtsbezirk bot zum Beispiel ein Mehr an Unsicherheit. Daraufhin sind 2008 die „Anregungen und Empfehlungen für die Niedersächsischen Jugendämter“ entstanden. Dieser Leitfaden beschreibt in standardisierter Form organisatorische Abläufe  von Pflegestellenunterbringungen. Er bietet mögliche Handlungsanweisungen, die mit Beispielen aus der „guten Praxis“ angefüllt sind. Auf Initiative der Uni Hildesheim (Anke Kuhls und Professor Wolfgang Schröer) und des Landesamts für Soziales, Jugend und Familie (Joachim Glaum) findet seit 2012 ein Austausch von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler von inzwischen sieben niedersächsischen Hochschulstandorten mit Fachkräften der Jugendämter und freien Träger, Studierenden und Pflegefamilien statt. Mit dieser Ringvorlesung entsteht ein Netzwerk zwischen Land, Kommunen und Wissenschaft.

Unübersichtlich: Geschwister, Gerichte, Lehrkräfte beteiligt

„Das tägliche fachliche Handeln muss sich neuen Bedarfen anpassen und sollte stärker Erkenntnisse aus der frühkindlichen Entwicklung und Bindungsforschung einbeziehen“, appelliert die Hildesheimer Wissenschaftlerin. Früher wurde ein „Aufwuchsplatz“ für Kinder gesucht, heute sind die Verbindungen weitaus vielfältiger. Geschwisterkinder, Gerichte, Therapeuten und Lehrkräfte werden in die Planung einbezogen und Pflegeeltern öffnen die Privatheit zugunsten des Kontakts mit der Ursprungsfamilie. Daneben betreut häufig der Allgemeine Sozialdienst die leiblichen Eltern, „um deren Erziehungskompetenzen zu verbessern und eine Rückführung des fremd untergebrachten Kindes vorzubereiten. Das scheint alles erforderlich. Aber durch die Beteiligung aller ist das Beziehungsgeflecht unübersichtlich geworden“, sagt Anke Kuhls. Viele kleine Subsysteme entstehen, mit jeweils unterschiedlichen Zielen und Informationen. „Die Steuerung und Koordination der Aufgaben um ein Pflegekind können nur dann gelingen, wenn die Beteiligten den Überblick und das Ziel der Unterbringung im Auge behalten.“ Ein erster Schritt dazu seien die Empfehlungen zur Vollzeitpflege in Niedersachsen.

Lesetipp: Pflegekinderhilfe im Aufbruch

Der Sammelband „Pflegekinderhilfe im Aufbruch“diskutiert aktuelle Entwicklungen und neue Herausforderungen in der Pflegekinderhilfe. Was ist möglich? Was ist nötig? Das Buch dokumentiert erfolgreiche Pflegeverläufe von Kindern und Jugendlichen, fasst rechtliche Rahmenbedingungen zusammen und erläutert, wie der Pflegekinderdienst organisiert und welche Infrastruktur notwendig ist. Neu ist, dass die Hilfe aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet wird: Die Beiträge beschreiben die Situation der Eltern und deren Möglichkeiten, den Hilfeprozess mitzugestalten; untersuchen die Zufriedenheit von Pflegeeltern und deren Einfluss auf die Stabilität innerhalb der Familie und zeigen, wie Geschwisterkinder unterstützend wirken. Severine Thomas und Wolfgang Schröer von der Universität Hildesheim skizzieren, welche Unterstützung Kinder und Jugendliche erhalten – und nicht erhalten – , um den Übergang aus der Pflegefamilie oder dem Heim in das Erwachsenenleben zu bewältigen. Zudem werden die neuen Empfehlungen des Landes Niedersachsen für die Pflegekinderhilfe vorgestellt.

Forschungsprojekt: Pflegefamilien und Migration

Seit Dezember 2013 untersucht ein Team um Professor Wolfgang Schröer und Anke Kuhls „Pflegekinder und Pflegefamilien mit Migrationshintergrund“. Das Forschungsprojekt wird durch das Niedersächsische Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung gefördert und vom Landesamt für Soziales, Jugend und Familie unterstützt. Es ist gestartet, weil deutschlandweit kaum belastbare Erkenntnisse zum Thema Vollzeitpflege und Migration vorliegen. Es besteht wenig Wissen darüber, wie die Jugendhilfe mit „transkulturellen Erfahrungen“ in diesem Zusammenhang umgeht. Die gesetzliche Statistik erfasst diese Pflegekinder nur am Rande und Pflegefamilien werden gar nicht aufgeführt. Mit dem Projekt ermittelt das Forschungsteam erstmals Basisdaten zu Unterbringungen und erfragt gleichzeitig die praktische Umsetzung der oben benannten Empfehlungen. Dazu sind die Fachkräfte der Pflegekinderhilfe in Niedersachsen interviewt worden, die sich zu 100 Prozent beteiligt habe (= Vollerhebung). In einem zweiten Schritt sind auf der Grundlage der Ergebnisse Expertinnen und Experten ausgewählt worden, die eingehender zu den Themen Vollzeitpflege und Migration befragt werden konnten. Dabei geht es zum Beispiel um die Frage, ob sich Unterschiede in der Unterbringung mit und ohne Migrationserfahrung ergeben und wenn ja, wie sich diese auf die Praxis auswirken. Derzeit befinden sich die erhobenen Daten in der Auswertung. Mit abschließenden Ergebnissen ist ab Frühjahr 2015 zu rechnen.


Quelle: Pressemitteilung der Universität Hildesheim vom 16.12.2014