Die Suche nach dem Wir - In Balance zwischen Individualismus und Kollektivismus

von Dr. Jos Schnurer
18.06.2017

Collage mit Menschen und Noten Collage: Dr. Jos Schnurer
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Jeder Mensch ist ein Individuum. In seiner Ichheit und Einzigartigkeit ist er ein vernunftbegabtes Lebewesen, das in der scala naturae eine Mittelstellung zwischen Tier und Gott einnimmt und mit seiner Fähigkeit, Allgemeinurteile zu bilden und zwischen Gut und Böse unterscheiden zu können, auch ein soziales Lebewesen, das darauf angewiesen ist, human mit den Mitmenschen zusammen zu leben (Aristoteles). Insofern ist ein Individuum in seiner Einzigkeit unverwechselbar und gleichzeitig in seiner Gemeinschaft vielfältig. Gegen die im Individualismus steckenden  ego- und ethnozentrischen Formen gibt es in der Menschheitsgeschichte  immer wieder das Bestreben, einen menschenwürdigen und gerechten Ausgleich zwischen individuellem und kollektivem Denken der Menschen herzustellen.

Mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 haben die Vereinten Nationen eine „globale Ethik“ geschaffen, mit der zum Ausdruck kommt, dass „die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt bildet“. Individuelles und kollektives Denken und Handeln bestimmen in gleicher Weise Identitäten. Die „kreative Vielfalt“ als individueller und kollektiver kultureller Wert eines jeden Menschen basiert auf dem Menschenrecht auf individuelle Freiheit, wie sie in Artikel 1 der Menschenrechtsdeklaration bestimmt wird: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren“. Sie ist untrennbar verbunden mit der kollektiven Freiheit, die sich als kulturelle Freiheit auf das Recht eines Kollektivs bezieht, ihre Lebensweise selbst zu bestimmen: „Kulturelle Freiheit garantiert Freiheit als Ganzes“ [1].

In der Menschheitsgeschichte freilich hat es immer wieder Entwicklungen gegeben, bei denen individuelle und kollektive Individualismen und Kollektivismen egoistisches , gewalttätiges und menschenfeindliches Verhalten bewirkt haben, Kriege und Völkermorde entstanden sind und Menschenrechte außer Kraft gesetzt wurden und weiterhin werden. In den Zeiten der sich immer interdependenter und entgrenzender entwickelnden (Einen?) Welt gewinnen individuelle und kollektive Wertvorstellungen und Haltungen eine neue Bedeutung dadurch, dass Fragen nach Einheit, Freiheit, Frieden, Gerechtigkeit und Gleichheit auf einen neuen Prüfstand gestellt werden: Ist eine gerechtere Welt möglich? - Kann eine Weltgesellschaft eine bessere Welt für alle Menschen auf der Erde entstehen?[2] -  Kann eine neue Weltordnung geschaffen werden?[3] -  Wer beherrscht die Welt?[4] -  Wem gehört die Welt?[5] – Wie kann eine globale Verantwortung aussehen?[6] – Welche anthropologischen Werte  sind dazu notwendig?[7].  Es sind Herausforderungen, die den ganzen Menschen betreffen, als Individuum und Gemeinschaftswesen.

Wo Macht ideologisch-egoistisch, populistisch-unpolitisch, undemokratisch- nationalistisch wird und sogar Anleihen vom Faschismus nimmt, braucht es eine Besinnung auf kollektiv-gemeinschaftsbildende Werte, damit der Alptraum vorüber geht, wie er sich derzeit in den USA und anderen Ländern der Erde breit macht: „Glaube niemals an fremde Hilfe, niemals an Hilfe, die außerhalb unserer eigenen Nation, unseres eigenen Volkes liegt…“. Diese Passage aus der Antrittsrede des derzeitigen, demokratisch gewählten Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika, Donald Trump, stammt wörtlich aus der Rede Hitlers nach der „Machtergreifung“ 1933. Die nationalistisch-faschistische Politik hat das deutsche Volk an den Abgrund ihrer moralischen Existenz geführt; wohin führt die Politik Trumps die USA und die demokratisch und freiheitlich verfassten Völker der Erde?[8].   

Mit der annotierten, subjektiv ausgewählten, aktuellen Literaturbetrachtung soll  ein Überblick vermittelt werden, wie sich die Auseinandersetzungen im wissenschaftlichen, interdisziplinären Diskurs darstellen[9].

Das totale Selbst

In der Psychologie und Psychoanalyse wird das Bewusste und Unbewusste der individuellen und kollektiven Existenz in all seinen Ausprägungen, Zuständen und Entwicklungen auf den Prüfstand des Selbst und der Frage nach dem „Wer bin ich?“ gestellt. Der Psychoanalytiker der Gesamthochschule Kassel, Helmut Junker, drückt die fachlichen und interdisziplinären Auseinandersetzungen darüber so aus: „Die Schriften über das Unbewusste sind mit den Wörtern des Bewusstseins geschrieben“[10]. Der italienische Psychoanalytiker Eugenio Gaddini (1916 – 1985) hat über die unbewusste Bedeutung der Imitation geforscht und dazu die „Theorie der Imitation“ entwickelt. Das Bedürfnis, nachzuahmen, sich an Personen, Sachen und Situationen zu orientieren und damit sich selbst und die Umwelt zu erkennen, hat in der Philosophie, Psychologie und Psychoanalyse immer schon eine große Aufmerksamkeit gefunden. Die Bewusstseinswerdung des Bewussten und Unbewussten ist eines der seelisch-körperlichen Geheimnisse des anthrôpos, das es bei den Auseinandersetzungen um Ich und Wir zu beachten gilt. Die Bonner und Hamburger Psychotherapeutinnen Gemma Jappe und Barbara Strehlow geben Gaddinis Werk nun in zweiter Auflage in deutscher Sprache neu heraus. Dabei wählen sie, aus der ersten, italienischen Ausgabe, die Aufsätze aus, die für die Betrachtung der heutigen, individuellen und gesellschaftlichen Wandlungs- und Veränderungsprozesse bedeutsam erscheinen und zurückführen auf das existentielle und totale Selbst. Gaddinis Leistungen bei dieser Fokussierung sind deshalb besonders wichtig, weil er danach fragte, „warum und wie aus Körper-Erfahrung, also sensorischer Empfindung, psychischer Sinn entsteht (senso) und wie umgekehrt die Psyche sich die Körperfunktionen zu eigen macht“. Die daraus entstehenden Einstellungs- und Handlungsoptionen, wie z. B. Aggression und Lustprinzip, personelle Prägungen und Raumwahrnehmung, individuelle und kulturelle Praktiken, Traum und Wirklichkeit, weisen den Weg zur Analyse und Therapie:  „Das Wachstum entsteigt und entwickelt sich aus der Körperfunktion, die Psychoanalyse dagegen beschreitet den Weg in entgegengesetzter Richtung von seelischen Phänomenen zu immer früheren Entwicklungsstadien bis hin zu den Anfängen der Differenzierung des Seelischen aus den Körperfunktionen“[11].

Wie klärt man Menschen auf, dass sie aufgeklärt sein wollen?

Diese aufklärerische Frage ist nicht nur einfach ein verlockender, sprachlich oder medienwirksam verzwickter Slogan, oder ein intellektuell gut gemachtes Paradigma, sondern rührt an den Wurzeln dessen, was Aufklärung heißt und bewirkt. Die Kantische, in seiner Zeit keineswegs populäre und anerkannte, kritische Aufforderung, dass sich der Mensch aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit und Unfreiheit befreien müsse, traf – wie könnte es auch in den Zeiten, in denen sich die gesellschaftlich bestimmenden und tonangebenden Schichten der Gesellschaft(en) auf Beständigkeit des Bestehenden eingerichtet hatten – anders sein, auf Unverständnis und Ablehnung. Auch heute?  Der Literaturwissenschaftler von der Humboldt-Universität in Berlin, Steffen Martus, schreibt mit seinem mehr als 1.000 Seiten umfassendem Buch nicht in erster Linie eine historische Abhandlung über die Geschichte der Aufklärung in Deutschland; vielmehr geht es ihm darum, anhand der Aktivitäten und des Wirkens von namhaften Dichtern, Politikern, Wissenschaftlern und Theologen auf die sich im Volk und bei den Mächtigen anbahnenden, sich freiwillig wie gezwungen entwickelnden Veränderungsprozesse einen Blick zu werfen und Details und einzelne Ereignisse herauszuarbeiten, „dass Strukturen und übergreifende Problemzusammenhänge erkennbar werden“. Dadurch werden neue, gleichsam bis heute wirkende (und brauchbare) Ideen deutlich, wie auch (uns bekannt vorkommende) Widerstände erkennbar: „Der Mensch der Aufklärung ist demnach ganz wesentlich auch ein Gewöhnungs- und Gefühlstier, ein Mängelwesen, das viel Pflege, Nachsicht und Verständnis benötigt“. Die  „Entdeckung der Unmündigkeit“,  die bei den Menschen im 18. Jahrhundert wie ein Blitz eingeschlagen und einen Wandel beim gewohnten Denken und Handeln der Menschen bewirkt hat, droht angesichts der nationalistischen, ethnozentristischen, rassistischen, populistischen und antidemokratischen Entwicklungen vergessen zu werden. Mit dem von Immanuel Kant eingeleitetem Perspektivenwechsel, dass die Ursache der selbst verschuldeten Unmündigkeit „nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen“, sollte es möglich sein, den Gefahren und Herausforderung zu begegnen, selbst zu denken und nicht andere Mächte, Verführer und Ideologen für sich denken zu lassen. Der Blick in die deutsche Geschichte und mit diesen Erkenntnissen in die Wirklichkeit Hier und Heute werden die Herausforderungen deutlich, denen wir uns zu stellen haben, und sie machen Mut: „Wir sehen tagtäglich, dass Argumente, die uns triftig erscheinen, anderen Menschen gar nicht einleuchten. Wir stellen fest, dass unser Lebens- und Denkstil, unsere Lebens- und Denkhaltung nicht per Anweisung, Belehrung oder Gesetz übertragen werden können. Wir verstehen, dass wir für unsere grundlegenden Einstellungen werben müssen und dass wir dafür viel Zeit und Geduld und nicht allein gute, sondern auch attraktive und interessante Ideen benötigen“[12].

Sinneseindrücke und Sinnesphänomene

Über Sinnfragen nachdenken ist eine intellektuelle und alltägliche Herausforderung für den mit Vernunft ausgestatteten anthrôpos.  Es sind existenzphilosophische, anthropologische Fragestellungen, die das eigene Denken des Menschen in besonderer Weise beanspruchen. Bei einer wissenschaftlichen Tagung der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde in Marburg stand die Frage im Mittelpunkt, wie körperliche und psychische Sinneswahrnehmungen im kulturellen und interkulturellen Umgang der Menschen haben:  „Die Sinne sind blind ohne die Wegweisungen des kollektiven Gedächtnisses, sie sind stumm ohne das Erzählen, taub ohne die Erfahrung, die materielle Wahrnehmungen zu Alltagspraxen formt“. Es wurden einzelne Sinnes-Eindrücke und Phänomene reflektiert und theoretisch-methodische Neukonzeptionen und -Interpretationen thematisiert; etwa, wie in der Kulturanthropologie die Aspekte der Sinnlichkeit in Theorie und Praxis sichtbar und erlebbar werden, wie sich Sinnlichkeit in der Welt der Medien zeigt, wie Sinne sichtbar, spürbar, hörbar und sogar genießbar werden, wie sinnliche Wahrnehmungen gelernt und entwickelt  und ästhetisch und künstlerisch ausgedrückt werden können. Die differenzierten, vielfältigen Darstellungen der Wahrnehmung und Methoden bei empirisch-kulturwissenschaftlichen Forschungen zum wissenschaftlichen Innovationsbereich „Ethnographien der Sinne“ vermitteln einen interessanten Einblick in neuere Forschungsergebnisse im Grenz- und Kooperationsbereich der Ethnographie, Psychoanalyse, Philosophie und Pädagogik. Die Erfahrungen, sich (gelegentlich) im „Gefängnis der eigenen Sinnlichkeit“ zu wähnen, das Bewusstsein und der Wille, herauszukommen, und die Aktivitäten, dies auch zu schaffen, erfordern nicht (nur) trial and error, sondern bedürfen der wissenschaftlichen Bestandsaufnahme und Analyse[13].

Individuelle und kollektive Lebensorte

In der sich immer interdependenter, entgrenzender und globaler entwickelnden Welt wird Mobilität für die Menschen zum existentiellen, berufs- und einkommensfixierten Muss, und zum Aktivitäts- und Heilsversprechen. Das Wachsen der Städte und Megazentren vollzieht sich weltweit als Sog und Erwartung. In der Wanderungsmotivforschung wird den Fragen nachgegangen, wie Wohnen und Leben in polyzentrischen Stadtregionen sich vollzieht, entwickelt und entgrenzt. „Eine Stadt ist auch ein riesiger Speicher an Gelebtem und Erlebtem, ein Kommunikationsraum, durchkreuzt durch und aufgefüllt mit Geschichte und Geschichten“. Die gegenwärtige und zukünftige kulturelle Gestaltung von urbanen Räumen bedarf einer neuen Aufmerksamkeit. Sie fokussiert sich etwa im Konzept des französischen Historikers Pierre Nora, der im „lieu de mémoire“, dem Erinnerungsort, ein wichtiges Identifikations- und Identitätsmerkmal des Menschseins sieht, die als kollektives Gedächtnis wirken. Diese Zugangsweise erfordert freilich andere Formen des Planens und Gestaltens, als sie mit dem herkömmlichen Verständnis praktiziert werden. Die Werkzeuge, wie sie (früher) mit dem Reißbrett und (heute) mit virtuellen Programmen benutzt werden, ergänzen sich durch direkte Formen des Beobachtens, Schauens, Reflektierens und Kommunizierens: „Die planerischen Formate und Disziplinen (erreichen) viele Menschen nicht mehr, da sie sich vom Alltagsgeschehen der Adressaten und der konkreten lokalen Relevanz entfernt haben“. Es bedarf also „Vermittler“ und „Übersetzer“, um urbanes Planen und Bauen näher an die Menschen heranzubringen und mit den Betroffenen zu verwirklichen. Der Berliner Stadt- und Raumplaner Karsten Michael Drohsel ist Mitglied des Vereins URBANOPHIL, einem Netzwerk, in dem sich junge Stadtforscher aus den verschiedenen Disziplinen der Stadtplanung, des Städtebaus, der Architektur, Geographie, Soziologie, VWL, Pädagogik und Geschichte zusammengeschlossen haben, um der Idee des urbanen Gestaltens neue Impulse zu geben. Sie kritisieren die traditionellen Formen der Städteplanung und provozieren mit der Forderung: „Hört auf zu Bauen, fangt an zu Denken!“. Im  „Souveneurs“ sieht er die Chance zur Popularisierung von Erinnerungsorten, und durch eine breit gefächerte, öffentliche Aufmerksamkeit und Kommunikation die Möglichkeit für individuelles und gesellschaftliches, verantwortungsvolles politisches und soziales Handeln: „Das Ohr aufwecken, die Augen, das menschliche Denken, die Intelligenz, die größtmögliche entäußerte Innerlichkeit. Das ist heute das Entscheidende“[14].

Gier macht einsam und unmenschlich 

Über die Gier, die Menschen antreibt, um ein materielles Immer-Mehr zu erlangen, wird vielfach spekuliert, vermutet, geklagt und argumentiert. Die katastrophalen und unverantwortlichen Auswirkungen auf individuelles, gesellschaftliches, lokales und globales Dasein der Menschen werden aufgezeigt und angeprangert. Argumente und Analysen werden seit Jahrzehnten vorgelegt. Intellektuell, moralisch, psychologisch, theoretisch und praktisch sind es die Fingerzeige und mahnenden Worte und Taten, die uns darauf aufmerksam machen, dass eine gerechtere (Eine?) Welt nicht nur möglich, sondern auch notwendig ist, damit die Menschheit sich human weiter entwickeln kann. Materialismus- und Kapitalismuskritik ist zwangsläufig System- und Konsumkritik; was bedeutet, dass der kritische Umgang mit den Ressourcen der Erde (eigentlich) Bestandteil der dem Menschen angeborenen Vernunftbegabung sein sollte. Dass dies in der Möglichkeitsform formuliert wird, heißt allerdings auch, dass das Wirken des menschlichen Verstandes nicht per se und auch nicht gottgegeben ist, sondern der Anstrengung und intellektuellen Anstrengung bedarf. Der Heidelberger Philosoph und Befreiungstheologe Ulrich Duchrow appelliert mit seinem Buch „Gieriges Geld“ an die religiös gläubigen Menschen überall in der Welt. Er ist davon überzeugt, dass, wenn „auch nur eine wachsende Minderheit in den Glaubensgemeinschaften sich auf ihre Quellen zurückbesinnen und an der Seite der geschundenen Menschen und Erde handeln würde, sähe die Welt schon morgen anders aus“. Gier, als Denk- und Verhaltensweise, ist menschengemacht. Die Krisen, die die Menschheit bedrohen – von der Umwelt-, bis zur Finanzkrise – beruhen auf der „Sucht der Gier“, die durch eine neue Kultur einer „humanen Empathie“ (Jeremy Rifkin) überwunden werden muss. Die allzeit bereite Frage „Rechnet sich das für mich?“ muss umgewandelt werden in die Erkenntnis, dass es eines klaren, mitfühlenden Sehens und Verstehens bedarf, dass ein klares Urteilen über Alternativen angesagt und ein klares Handeln notwendig ist, um einen Perspektivenwechsel zustande zu bringen[15].

Hass isst Seelen auf

Warum gibt es so viel Hass in der Welt? Im Individuellen wie im Gesellschaftlichen? Im Lokalen wie im Globalen? Das Hässliche als das Böse und als Gegenteil des Guten wird in der anthropologischen, abendländischen Philosophie immer mit der Abwesenheit des Göttlichen und der Erdhaftigkeit des Menschlichen bezeichnet. Der griechische Philosoph Platon hat im aischrón, dem Hässlichen, das Minderwertige und Verabscheuungswürdige gesehen. Und Aristoteles sprach dem anthrôpos, dem Menschen, durch seine Vernunftbegabung die Fähigkeit zu, zwischen Gut und Böse unterscheiden und darauf sein Streben nach einem guten, gelingenden Leben ausrichten zu können. Weil Hass überall ist, sich als Aggression, Gewalt, Machtmissbrauch, Herrschaft, Fanatismus, Fundamentalismus und Ideologie im Gesellschaftlichen und Politischen, bis hin zu individuellen und narzisstischen Formen darstellt und bewusst und unbewusst ausgeübt wird, kommt es darauf an, die Tatsache des menschlichen Hassens nicht zu tabuisieren, sondern bewusst zu machen und dem Hass das entgegen zu setzen, was Menschen (eigentlich) auszeichnet: Human denken zu können! Denn wer hasst, gibt seinen eigenen Verstand ab an Mächte, Einflüsse, Ideologien und Weltanschauungen, die nicht mehr und nicht weniger zum Ziel haben, als Menschen zu manipulieren; und zwar so, dass sie nicht einfach hassen, weil andere das auch tun, sondern sich ihres Hassens sicher sind. Diese höchste Form des Oktroyierens von Hass, der sich in Rassismus, Dogmatismus, Fanatismus, Demokratie-, Fremden- und Menschenfeindlichkeit ausdrückt, macht Menschen zu hemmungs- und verantwortungslosen Subjekten. Die am einfachsten erscheinende Antwort darauf, die Hasser zu hassen, sie zu ignorieren, sie bei Seite zu stellen und aus der Gemeinschaft der Gutwilligen auszuschließen, ist allerdings nicht die beste; denn „Hass ist nicht einfach da“. Er wird gemacht! Und es gilt, „Hass und Gewalt nicht allein zu verurteilen, sondern in ihrer Funktionsweise zu betrachten ... (sondern) immer auch zu zeigen, wo etwas anderes möglich gewesen wäre, wo jemand sich hätte anders entscheiden können, wo jemand hätte einschreiten können, wo jemand hätte aussteigen können“[16].

Erinnern heißt aktiv leben

 Die Erkenntnis, dass der Mensch grundsätzlich und existentiell ein wandelbares Lebewesen ist, durchzieht die Menschheitsgeschichte von Anbeginn an; aber die Versuche, Selbstbestimmung und Selbstwertigkeit ideologisch, machtpolitisch oder anthropo-orientiert zu interpretieren und festzulegen, sind gleichzeitig als Markierungen in die Entwicklungsgeschichte der Menschen eingelassen[17].  „Wenn man mit dem Gedächtnis tätig ist, sagt man in der Seele, dass man in der Vergangenheit etwas wahrgenommen oder gelernt hat“, das ist die aristotelische Vorstellung von mnêmê, dass das Gedächtnis in der Form des Erinnerns das menschliche Dasein zu einem Ganzen zusammenfasst. In der Gedächtnis- und Erinnerungsforschung kommt es also darauf an, die historisch entstandenen Phänomene zusammen zu bringen mit den modernen, veränderten Auseinandersetzungen mit erinnertem, gewordenem und entstandenem Wissen:  „In modernen Gesellschaften (verlaufen) Lebensläufe nicht mehr linear, auf generationellen und traditionellen Konzepten fußend. Sie sind hochriskant, von Brüchen gekennzeichnet, so dass eine fortwährende Vergewisserung der Vergangenheit erforderlich ist“. Weil die Forschungsgegenstände um die Phänomene „Gedächtnis und Erinnerung“ grundsätzlich nur interdisziplinär und interaktiv bearbeitet werden können, ist es angebracht, in der Form eines wissenschaftlichen Handbuchs die vielfältigen zusammen wirkenden Aspekte darzustellen, die von den Sozialwissenschaftlern Christian Giudehus, Ariane Eichenberg und Harald Welzer als Herausgeberteam vorgestellt werden. Gerade in den Zeiten von Geschichtsverklitterung, Erinnerungsvergessenheit, -umsteuerungsversuchen und Ignoranz des Historischen und Politischen für die Lebensgestaltung der Menschen kommt es darauf an, die Bedeutung von individueller und kollektiver Erinnerung bewusst und deutlich zu machen, dass „der funktionale Überlebenswert des Gedächtnisses von seinem Zukunftsbezug abhängt,… die konstitutiv (ist) für das Gedächtnis ( ),  und nicht die Vergangenheit“[18].

„Wohin aber gehen wir?“

Mit der im Gedicht „Reklame“  von Ingeborg Bachmann gestellten Frage werden die erdachten und gemachten Unbekümmertheiten, Beruhigungs-, Ruhestellungsstrategien und Sorglosigkeiten der Welt aufgespießt. Es sind Fragen, die im wissenschaftlichen, gesellschaftspolitischen Diskurs immer deutlicher gestellt werden, angesichts der konsumtiven[19], medialen[20],  vorurteilsbestimmten[21] und risikobehafteten[22] Entwicklung in der Welt. Die Kakophonien, wie sie durch rechtsradikale, ethnozentristische, nationalistische, populistische, fundamentalistische und rassistische Parolen laut werden, bedürfen einer engagierten und überzeugten demokratischen Antwort. Wir stehen vor der Frage, wie es gelingen kann, die Menschen davon zu überzeugen, dass sie informiert, aufgeklärt sein wollen und bereit sind, soziale und globale Verantwortung zu übernehmen. Da ist zum einen der altruistische und moralische Ansatz[23], und zum anderen der bürgerlich-rechtliche, wie er sich etwa in den Konzepten einer „Betätigungsdemokratie“[24] und in den Aufforderungen nach mehr Aufmerksamkeit im individuellen und gesellschaftlichen Leben zeigt[25]. Der Politikwissenschaftler von der Ev. Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe in Bochum, Ernst-Ulrich Huster, setzt sich in seinem Büchlein „Soziale Kälte“ mit den Zuständen in der Gesellschaft auseinander. Er verweist auf das (früh-)bürgerliche, abendländische Denken und versucht so der Frage nahe zu kommen: Wie sind wir geworden, was und wie wir sind. Er deckt dabei eine Reihe von neoliberalen Ideologien und programmatischen Erzählungen und Versprechungen auf und verweist auf die „Un-Kultur der Abwertung: Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Homophobie“, die sich bei den Verlierern und Abgehängten in der Gesellschaft breit macht und die staatliche Gemeinschaft auseinander zu brechen droht[26].

Technisches und Soziales

Beim Sprechen über Modernes, Technisches und Machbares dürfen wir uns nicht vom Sozialen entfernen. Der am Institut d´Études Politiques de Paris (IEP) lehrende Soziologe und Philosoph Bruno Latour zeigt mit der „Akteur-Netzwerk-Theorie“ (ANT) auf, dass die Prozesse, die die Welt bewegen, netzwerkartig agieren, was bedeutet, dass die sozialen Elemente aus verschiedenen Zusammenhängen bestehen, sich aber in ihren unterschiedlichen Phänomene und Wirkungsweisen gegenseitig ergänzen, miteinander korrelieren und Handlungspotentiale anbieten. Es geht darum, mit dem Geist und den Werkzeugen der Wissenschaft „Assoziationen nachzuzeichnen“. Für den wissenschaftlichen, intellektuellen und alltäglichen Diskurs kreiert er eine neue Form einer digitalen Kommunikation, die den möglichen Wahrheiten in der Welt näher kommt, als dies mit den üblichen, traditionellen Mitteln und Gewohnheiten möglich ist. Es geht darum, den „Widerspruch zwischen den Erfahrungen der Welt und den Berichten, in denen darüber … Rechenschaft gegeben wird“ aufzulösen, zumindest aber habhafter zu werden.  Zwangsläufig landen wir bei diesem Diskurs bei der Frage, welche Bedeutung, Zielführung wie Fehlleitung, die Sprache hat, mit der wir kommunizieren; mit „wir“ bezeichnet er die „Modernen“, die oft genug erfahren, dass  „im Moment, wo die Dinge sich klären, (an)fangen …  sich schrecklich zu (ver)komplizieren“. Um einen echten und wahrhaftigen Wertediskurs führen zu können, stoßen wir auf Hol- und Bringe-Pflichten, Gewohnheiten und Handlungsspielräume, die sich als soziale, traditionelle, kulturelle, chronosbedingte oder ökonomische Pflichten zeigen. „Die Wesen des leidenschaftlichen Interesses mobilisieren“, diese Aufforderung  wird mit den Erfahrungen entwickelt, dass das Ganze nicht nur aus Teilen besteht, sondern ihnen auch unterliegt; was bedeutet, dass die Abhängigkeit sich als hierarchisch darstellt, aber nicht als unabdingbar[27].

Wer keine Probleme hat, hat ein Problem.

Mit dieser Dreh-Argumentation tut sich ein ganzes Feld von Sicherheiten und Unsicherheiten, Gewissheiten und Möglichkeiten, Wahrheiten und Lügen[28] auf. Mit den Stichworten Organisationsentwicklung, -beratung, -theorie, -forschung öffnen sich Felder, die sich als Einrichtungen und Instanzen darstellen, um Menschen in ihren privaten und beruflichen Lebens- und Arbeitszusammenhängen zu beraten und Organisationsformen wirkungsvoll und effektiv werden zu lassen. Es wird von „lernenden Organisationen“ gesprochen, als Hinweis darauf, dass Veränderungsprozesse nicht nur individuell, sondern auch kollektiv, in festgefügten Produktions- und Arbeitsabläufen lernend ablaufen können. Bei den Tätigkeitsbereichen der Organisationsberatung haben sich verschiedene „Schulen“, Theorie- und Praxiszentren gebildet, die im wissenschaftlichen und beruflichen Diskurs Führungs- und Definitionshoheit beanspruchen. Der US-amerikanische Organisationstheoretiker James Gardner March gilt als einer der wichtigsten Vertreter der Organisationsforschung und der verhaltenswissenschaftlichen Entscheidungstheorie, die auf der eigentlich einfachen und selbstverständlichen Entscheidungsprozessen beruht: Lösungen anstreben - Probleme lösen - Entscheidungsgelegenheiten suchen - Beteiligte integrieren. Diese Grundsätze jedoch sind nicht schematisch anzuwenden, sondern unterliegen alltäglichen, individuellen, kulturellen, mentalen und unerwarteten Einflüssen, die es im Prozess der Organisationsentwicklung zu beachten gilt. Der beinahe paradox klingende Rat – „Individuen und Organisationen müssen Wege finden, um Dinge zu tun, für die sie keine guten Gründe haben“ – hat in der „Carnegie Mellon School“ in Pittsburgh / Pennsylvania große Bedeutung. Im Mittelpunkt stehen dabei die Fähigkeiten, sich Dinge denken zu trauen, die erst einmal rational und vom Verstand her bestimmt, scheinbar nicht gedacht werden können oder dürfen. Es sind Kreativitäten, die Dinge neu entstehen lassen; es ist der Mut, quer zu denken; das Bewusstsein, mit trial and error und Erfahrung zu lernen, um begreifen zu können, dass die vielfältigen „Unwägbarkeiten“ des Lebens nur ganz selten und schon gar nicht systematisch gewissermaßen auf Flaschen gezogen bzw. modell- oder gar rezepthaft angewendet werden können[29].

„Erkenne dich selbst, damit du aus dir heraustreten kannst; diene der Gerechtigkeit und fördere den Frieden“,

dieser Imperativ stammt von der großen US-amerikanischen Psychologin und Philosophin Martha Nussbaum. In ihrem Buch „Die neue religiöse Intoleranz“ setzt sich die Autorin mit der Situation in den USA auseinander. Sie verweist darauf, dass in der (an sich) offenen Gesellschaft in den Vereinigten Staaten zwar offiziell Gesetze gegen religiöse und andere Diskriminierungen existieren, Vorurteile und Übergriffe aber auf Andersdenkende meist lokal und regional ablaufen. Es sei – zumal im Melting Pot der US-amerikanischen Gesellschaft – besonders bemerkenswert, dass die Idee der nationalen Identität ausschließlich mit den Forderungen nach (religiöser) Homogenität und Zugehörigkeit verbunden wird. Diese Auffassungen und Mentalitäten bewirken dort und überall in der Welt Probleme bei der Immigration und Integration von Menschen anderer Herkunft, anderen Aussehens und anderer Weltanschauung. Und sie erzeugen Angst, die sich als „narzisstisches Gefühl“ darstellt und dafür herhalten muss,  um Interessen und Ideologien zu verteidigen. Mit dem Bild des „inneren Auges“ stellt die Autorin Einstellungen und Tugenden gegenüber, wie Respekt und mitfühlende Phantasie. Die Bedeutung von emotionalem Denken und Tun für ein friedliches, gesellschaftliches Zusammenleben der Menschen, hat sie bereits in ihrem Buch „Politische Emotionen“ zum Ausdruck gebracht[30]. Angelehnt an die sokratische Aufforderung, dass Menschen, wollen sie friedlich und gerecht miteinander in der EINEN WELT leben, ein „selbsterforschtes Leben“ führen sollten. Wie dies aussehen könne, darüber reflektiert Martha Nussbaum über Sokrates hinaus – und hinein in unsere reale Welt. Sie kann human nur entwickelt werden, wenn es Allgemeingut und Selbstverständlichkeit wird, dass alle Menschen frei und gleich an Würde und Rechten geboren, mit Vernunft und Gewissen begabt und fähig sind, einander im Geiste der Brüderlichkeit zu begegnen, wie dies in Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte zum Ausdruck kommt und in Artikel 18 spezifiziert wird: „Jedermann hat das Recht auf Gedanken- Gewissens- und Religionsfreiheit“. Um das zu erreichen braucht es Zuversicht und die Abkehr von Angst: „Wir brauchen ( ) den Geist der Neugier und der Freundschaft“[31].

Gelingende oder gestörte Menschwerdung

In der philosophischen Anthropologie, der Sozialisations-, Bindungs- und Hirnforschung haben Fragen nach der Bildung, den Sozialisations- und Veränderungsprozessen der Persönlichkeitsentwicklung einen bedeutsamen Stellenwert. Den Vorstellungen, dass Persönlichkeit gewissermaßen „naturwüchsig“, also „biologistisch“ entstehe, stehen Auffassungen gegenüber, die „den Prozess der Menschwerdung des Menschen… als einen ergebnisoffenen und dynamischen“ betrachten. Es sind anthropologische, philosophische, neuronale, pädagogische und gesellschaftspolitische Fragen nach Vorbestimmtheit, Veränderbarkeit, Formbarkeit, Anlage und Vererbung, Begabung, Chancen und Risiken bei der Persönlichkeitsentwicklung des Menschen. Sozialisation vollzieht sich im gesellschaftlichen Raum und wird wesentlich mitbestimmt von den sozialen Bedingungen, bei denen Menschen aufwachsen. Sie lassen sich sowohl wissenschaftlich als auch ideologisch beantworten. Damit letzteres nicht Überhand in den Denk- und Verhaltensweisen, den Macht- und Moralvorstellungen der Menschen nimmt, kommt es darauf an, die Möglichkeiten „als Entfaltung seiner geistig-seelischen Anlagen, ferner als Ausformung seiner Moral und seines Gewissens, als Entwicklung seiner Urteilsfähigkeit und seiner Handlungskompetenz“ zu erkennen. Der Münsteraner Anthropologe und Pädagoge Johannes Schwarte nimmt die Gedanken zum Zusammenhang von Persönlichkeits- und Gesellschaftsentwicklung auf, die er in seinem 2002 erschienenem Buch „Der werdende Mensch“ thematisiert hat. Inwieweit sich in diesem vor mehr als einem Jahrzehnt formulierten Grundlagen die individuellen und gesellschaftlichen, lokalen und globalen Bedingungen ge- und verändert haben, wird nachgefragt – und zudem festgestellt, dass die Zusammenhänge nach wie vor im öffentlichen Bewusstsein unterrepräsentiert und defizitbehaftet sind. Es sind die Herausforderungen in der sich immer interdependenter, entgrenzender und ideologisch entwickelnden (Einen?) Welt, die nach humanen, demokratischen und anthropogenen Ankern rufen und die notwendigen Persönlichkeitsstrukturen bewusst und lebbar machen. Mit dem Ziel einer „anthropologischen Aufklärung“ und gegen „anthropologische Ignoranz“ breitet Johannes Schwarte in seiner Analyse zur „Plastizität des Menschen“ die Bandbreite des wissenschaftlichen, anthropologischen Diskurses aus. Die Forderung, eine anthropologische Grundbildung und Aufklärung müsse integraler Bestandteil einer elementaren Grundbildung und Erziehung sein, wäre in das gesellschaftliche Tagebuch zu schreiben. Mit dem Plädoyer für eine Dynamisierung des christlichen Menschenbildes formuliert der Autor schließlich einen „Entwurf einer offenen und imperativen Anthropologie“, mit dem Ziel: „Der menschliche Mensch in einer humanen, der menschlichen Würde angemessenen Gesellschaft“[32].

Homo faber: Der Mensch erschafft sich durch denkendes Tun

 Schaffendes, handwerkliches Tun verbindet die Herstellung eines materiellen Gegenstandes mit Intelligenz, Ästhetik und Veränderung in sich – sonst ist es Pfusch. Der US-amerikanische Soziologe und Kulturphilosoph Richard Sennett gilt in den USA und weit darüber hinaus als ein Sezierer der Zeitläufte und des gesellschaftlichen Zusammen- (und Gegeneinander-)lebens der Menschen in den verschiedenen Lebensumständen und –räumen. Er setzt sich mit den (vermeintlichen und tatsächlichen) Notwendigkeiten und Überflüssigkeiten beim individuellen und kollektiven Leben der Menschen auseinander und fragt, was wir Menschen mit den materiellen Dingen tun, die uns umgeben, die wir haben wollen, meinen, haben und benutzen zu müssen:  „Ich habe das Gefühl, dass wir angesichts der mit physischen Gegenständen vollgestopften Welt nicht recht wissen, wie wir von materiellen Objekten und Maschinen guten Gebrauch machen können“. In diesem Unbehagen steckt auch etwas, was wir mittlerweile als Gesellschafts-, Kultur- und Lebenskritik formulieren: Soll der Mensch alles machen (dürfen), was er kann (oder zu können glaubt)? Dieses Nachdenken subsummiert er in einem Denk- und Schreibvorhaben, das er das „Homo-Faber-Projekt“ bezeichnet; es „kreist um die ethische Frage, in welchem Maße wir Herren unserer selbst werden können“, und darum zu begreifen, dass „der Mensch sein Leben und sich selbst durch konkretes praktisches Handeln erschafft“. Die tiefgehenden Reflexionen des Autors, die komplizierten und einfachen Fragen und ein paar Antworten, die sich wiederum in Frage stellen lassen, münden in Beweisen, dass „Kooperation die Qualität des sozialen Lebens verbessert“. Direkt erfahrbar werden solche Erfahrungen in lokalen Gemeinschaften, die als Grundlage für größere dienen können. Darin steckt der einfache Gedanke: Global denken, lokal handeln. So lässt sich Gemeinschaft als ein „Prozess des In-die-Welt-Kommens vorstellen, in dem die Menschen den Wert direkter persönlicher Beziehungen und die Grenzen solcher Beziehungen herausarbeiten“[33].

Fazit

Die (subjektiv ausgewählte und selbstverständlich unzureichende ) Literaturnachschau über den aktuellen und komplexen Diskurs um Individualismen und Kollektivismen kreist weitgehend um die kontroversen Auffassungen, Einstellungen, Möglichkeiten und Zwängen vom Selbst und dem Wir. Es sind intellektuelle Anforderungen, die auf einem stabilen Selbstbewusstsein und einem humanen Menschen- und Weltbild gründen und die rationalen und emotionalen Fähigkeiten des Menschen berücksichtigen sollten. Von entscheidender Bedeutung wird dabei sein, in welcher Weise und Intensität die individuellen und kollektiven moralischen Standards zum Tragen kommen[34].

Kontakt zum Autor:

Dr. Jos Schnurer
Immelmannstr. 40
31137 Hildesheim
Tel.: (05121) 59124
jos2@schnurer.de



[1] Deutsche UNESCO-Kommission, Unsere kreative Vielfalt. Bericht der Weltkommission „Kultur und Entwicklung <1995>, 2. erweit. Ausgabe, Bonn 1997, S. 22
[2] Silvio Vietta, Die Weltgesellschaft. Wie die abendländische Rationalität die Welt erobert und verändert hat, 2016, https://www.socialnet.de/rezensionen/21880.php
[3] Ulrich Menzel, Die Ordnung der Welt. Imperium oder Hegemonie in der Hierarchie der Staatenwelt, 20ß15, https://www.socialnet.de/rezensionen/18967.php
[4]Jan Morris, Wer regiert die Welt? Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden, 2011, https://www.socialnet.de/rezensionen/12186.php
[5] Hans-Jürgen Jakobs, Wem gehört die Welt? Die Machtverhältnisse im globalen Kapitalismus, 2016, https://www.socialnet.de/rezensionen/
[6] Valentin Beck, Eine Theorie der globalen Verantwortung. Was wir Menschen in extremer Armut schulden,  2016, https://www.socialnet.de/rezensionen/21228.php
[7] Tvetan Todorov, Abenteuer des Zusammenlebens. Versuch einer allgemeinen Anthropologie, 2015, https://www.socialnet.de/rezensionen/20386.php
[8] Adam Soboczynski, „Wir werden unsere Nationen mit amerikanischen Händen wieder aufbauen“, DIE ZEIT, Nr. 5 vom 26. 1. 2017, S. 37; vgl. auch: Noam Chomsky, Wer beherrscht die Welt? Die globalen Verwerfungen der amerikanischen Politik, 2016, https://www.socialnet.de/rezensionen/
[9] Jos Schnurer, Individuum und Gesellschaft, 23. 9. 2015, https://www.sozial.de/index.php?id=94
[10] Helmut Junker, Intersubjektivität und implizites Gedächtnis. Reflexionen veränderter therapeutischer Praxis, 2013, www.socialnet.de/rezensionen/14553.php
[11] Eugenio Gaddin,: »Das Ich ist vor allem ein körperliches «. Beiträge zur Psychoanalyse, 2015, https://www.socialnet.de/rezensionen/19463.php
[12] Steffen Martus, Aufklärung. Das deutsche 18. Jahrhundert - ein Epochenbild, 2015, https://www.socialnet.de/rezensionen/20253.php
[13] Lydia Maria Arantes / Elisa Rieger, Hrsg., Ethnographien der Sinne. Wahrnehmung und Methode in empirisch-kulturwissenschaftlichen Forschungen, 2014, https://www.socialnet.de/rezensionen/17991.php
[14] Karsten Michael Drohsel, Das Erbe des Flanierens. Der Souveneur - ein handlungsbezogenes Konzept für urbane Erinnerungsdiskurse, 2016, https://www.socialnet.de/rezensionen/20872.php
[15] Ulrich Duchrow, Gieriges Geld. Auswege aus der Kapitalismusfalle – Befreiungstheologische Perspektiven, 2013, https://www.socialnet.de/rezensionen/15484.php
[16] Carolin Emcke, Gegen den Hass,  2016, https://www.socialnet.de/rezensionen/21832.php
[17] Bernhard Rathmayr, Selbstzwang und Selbstverwirklichung. Bausteine zu einer historischen Anthropologie der abendländischen Menschen, Bielefeld 2011, www.socialnet.de/rezensionen/11820.php
[18] Christian Gudehus / Ariane Eichenberg / Harald Welzer, Hrsg., Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Handbuch, 2010, https://www.socialnet.de/rezensionen/12904.php
[19] Jean Baudrillard, Die Konsumgesellschaft. Ihre Mythen, ihre Strukturen, 2014, www.socialnet.de/rezensionen/18005.php
[20] Mark Ludwig, u.a., Hrsg., Mediated Scandals. Gründe, Genese und Folgeeffekte von medialer Skandalberichterstattung, 2016, www.socialnet.de/rezensionen/20683.php
[21] Anton Pelinka, Hrsg., Vorurteile. Ursprünge, Formen, Bedeutung, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/12918.php
[22]  Herfried Münkler, Hrsg., Handeln unter Risiko. Gestaltungsansätze zwischen Wagnis und Vorsorge, 2010, https://www.socialnet.de/rezensionen/10384.php; sowie: Gerd Gigerenzer, Risiko. Wie man die richtigen Entscheidungen trifft, 2013. www.socialnet.de/rezensionen/15271.php
[23] Valentin Beck, Eine Theorie der globalen Verantwortung. Was wir Menschen in extremer Armut schulden, 2016, www.socialnet.de/rezensionen/21228.php
[24] Pierre Rosanvallon, Die gute Regierung, 2016, www.socialnet.de/rezensionen/20955.php
[25] Jörn Müller, u.a., Hg., Aufmerksamkeit. Neue humanwissenschaftliche Perspektiven, 2016, www.socialnet.de/rezensionen/21112.php
[26] Ernst-Ulrich Huster, Soziale Kälte. Rückkehr zum Wolfsrudel? 2016, https://www.socialnet.de/rezensionen/21666.php
[27] Bruno Latour, Existenzweisen. Eine Anthropologie der Modernen,2014, http://www,socialnet.de/rezensionen/17792.php; sowie: Antje Dresen / Florian Freitag, Hrsg., Crossing. Über Inszenierungen kultureller Differenzen und Identitäten, 2016, https://www.socialnet.de/rezensionen/21222.php
[28] Heinz von Foerster / Bernhard Pörksen, Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. Gespräche für Skeptiker, 2011, https://www.socialnet.de/rezensionen/13980.php
[29] James March, Zwei Seiten der Erfahrung. Wie Organisationen intelligenter werden können, https://www.socialnet.de/rezensionen/21298.php
[30] Martha Nussbaum, Politische Emotionen. Warum Liebe für Gerechtigkeit wichtig ist, 2014, https://www.socialnet.de/rezensionen/17720.php
[31] Martha Nussbaum, Die neue religiöse Intoleranz. Ein Ausweg aus der Politik der Angst, 2014, https://www.socialnet.de/rezensionen/18020.php
[32] Johannes Schwarte, Die Plastizität des Menschen. Ergebnisoffenheit und Beeinflussbarkeit der Persönlichkeitsentwicklung, 2015, https://www.socialnet.de/rezensionen/20282.php
[33] Richard Sennet, Zusammenarbeit. Was unsere Gesellschaft zusammenhält, 2012, https://www.socialnet.de/rezensionen/14034.php   
[34] Michael Tomasello, Eine Naturgeschichte der menschlichen Moral, 2016, https://www.socialnet.de/rezensionen/(21987.php