Charlotte Zach

Die Idee der Ableismus-informierten Psychotherapie

von Charlotte Zach
15.10.2022 | Gastbeiträge

 Da ich Psychologie studiere und mich seit einigen Jahren zunehmend mit dem Thema Ableismus auseinandersetze, komme ich nicht umhin, diese beiden Welten miteinander zu verbinden. Ich denke seit einiger Zeit zunehmend über die Notwendigkeit nach, Ableismus-informierte Psychotherapie zu etablieren. Ich glaube, Ableismus-informierte Psychotherapie ist ein wichtiger Bestandteil auf dem Weg zu der selbstbestimmten Teilhabe von Menschen mit Behinderung in unserer Gesellschaft. Ich stelle mir da drunter viel mehr vor, als nur, dass Psychotherapeut:innen sich darüber bilden, was Ableismus ist und wie auch sie ableistische Überzeugungen verinnerlicht haben. Das wäre die absolute Mindestgrundlage, um dafür Sorge zu tragen, dass Menschen mit Behinderung ihre Diskriminierungserfahrungen in der Therapie überhaupt thematisieren können, ohne Gefahr zu laufen, sofort in diesem vermeintlich besonders sicheren Raum erneut diskriminiert zu werden.

Aber was ist Ableismus-informierte Psychotherapie noch?

Dazu möchte ich zunächst einmal sagen, dass Psychotherapie meiner Meinung nach heutzutage alle möglichen Diskriminierungsformen berücksichtigen sollte. Diskriminierung zu erleben, kann Auslöser oder aufrechterhaltender Faktor für psychische Erkrankungen sein. Aber da kommen wir auch eigentlich gleich schon zu einem wesentlichen Problem, welches ich sehe. Dass Diskriminierungserfahrungen psychische Erkrankungen auslösen oder aufrechterhalten können, ist bei anderen Diskriminierungsformen bereits zunehmend bekannt. Bei der Thematisierung von Ableismuserfahrungen in der Psychotherapie kann es jedoch schnell zur nächsten Ableismuserfahrung kommen, weil nicht unterschieden wird, zwischen der Belastung durch die Behinderung und der Belastung durch die Diskriminierung. Stattdessen herrscht das Bild des traurigen, depressiven, lebensmüden Menschen mit Behinderung, auf dessen Lebensrealität man überhaupt nicht reagieren kann, weil man nie gelernt hat, differenziert und auf Augenhöhe mit dieser Personengruppe über ihre Lebensrealität zu sprechen.

Häufig ist überhaupt kein Verständnis dafür vorhanden, dass wir Menschen mit Behinderung eben nicht oder nicht nur durch unsere Behinderung belastet sind, sondern vor allem durch die Diskriminierungserfahrung, die auf die Behinderung folgt. Dies zu unterscheiden, setzt ein Verständnis vom sozialen Konstrukt von Behinderung voraus. Dies zu unterscheiden ist Grundlage dafür, nicht total stereotyp darauf zu reagieren wenn ein:e Patient:in mit Behinderung Belastungen in ihrem Leben, die mit der Behinderung zusammenhängen, thematisiert. Viele Menschen mit Behinderung möchten dem Stereotyp des traurigen, depressiven Behinderten nicht entsprechen. Es degradiert und zementiert unsere diskriminierende Erfahrung, anstatt sie als Problem anzuerkennen. Der erste Schritt hinzu einer Ableismus-informierten Psychotherapie wäre also nicht nur, diese Form der Diskriminierung anzuerkennen, sondern auch das Stereotyp des depressiven Behinderten in der Psychotherapie direkt zu dekodieren und zu demaskieren.

Im nächsten Schritt stelle ich mir unter einer Ableismus-informierten Psychotherapie vor, dass einige Grundkonflikte und Problematiken, welche die meisten Menschen mit Behinderungen erleben, bei den Therapeut:innen bekannt sind. Auch in diesem Schritt ist essentiell, das der/die Therapeut:in sich über den Unterschied zwischen Belastung durch die Behinderung selbst und Belastung durch die Diskriminierungserfahrung im klaren ist und diese auch immer wieder zu dem Menschen mit Behinderung zurück spiegeln kann. Wesentliche Konflikte für Menschen mit Behinderung, die häufig eine große und auch andere Rolle spielen, als für Menschen ohne Behinderung, sind meiner Meinung nach:

  • Autonomie vs. Sicherheit
  • Schuld und sich selbst als Belastung empfinden
  • Wahrung der eigenen Rechte und Grenzen
  • Umgang mit der eigenen Vulnerabilität, Abhängigkeit und Sterblichkeit
  • Scham und Minderwertigkeit
  • Absprechen von Sexualität und Partnerschaft
  • Absprechen von Wertigkeit für die Gesellschaft und Produktivität/ Sinnhaftigkeit des eigenen Lebens

All diese Themen sind miteinander verknüpft und verwurzelt in einem ableistischen Menschenbild, dass auch wir Menschen mit Behinderungen verinnerlicht haben. An welchen Stellen genau unsere Glaubenssätze von diesem Menschenbild durchzogen sind, wie wir uns auf realistische Art und Weise und ohne Naivität von ihnen befreien können und davor schützen können, dass unser Umfeld uns mit diesem Bild über uns selber zu sehr belastet sollte ein wesentliches Kernelement von Ableismus-informierter Psychotherapie sein.

Die Königsdisziplin wird dann sein, anzuerkennen, dass man auch von der Behinderung selbst belastet sein kann und nicht nur von der Diskriminierung, dass diese beiden Belastungsformen miteinander verwoben sein können, dass sie beide valide sind und man trotzdem nicht diesem blöden Stereotyp entspricht. Dass man trotzdem ein Recht auf Hilfe hat. Auf Hilfe, welche die eigene Situation angemessen beurteilen und auf sie reagieren kann.