Die europäische Idee ist in Gefahr

von Dr. Jos Schnurer
24.11.2015

Collage, zusammengestellt von Dr. Jos Schnurer
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Im Entwurf der 2003 vom Europäischen Konvent vorgelegten und von den europäischen Staaten bis heute nicht etablierten VERFASSUNG FÜR EUROPA [1], heißt es in der Präambel u.a.: „... der Kontinent Europa (ist) ein Träger der Zivilisation ... seine Bewohner (haben) ihn seit den Anfängen der Menschheit in immer neuen Schüben besiedelt ...im Laufe der Jahrhunderte die Werte entwickelt ( ), die den Humanismus begründet (haben): Gleichheit des Menschen, Freiheit, Geltung der Vernunft“; „... aus den kulturellen, religiösen und humanistischen Überlieferungen Europas (schöpfend), deren Werte in seinem Erbe weiter lebendig sind und die zentrale Stellung des Menschen und die Vorstellung von der Unverletzlichkeit seiner Rechte sowie vom Vorrang des Rechts in der Gesellschaft verankert haben“; „ (überzeugt davon), dass ein ... geeintes Europa auf diesem Weg der Zivilisation, des Fortschritts und des Wohlstands zum Wohl all seiner Bewohner, auch der Schwächsten und der Ärmsten, weiter voranschreiten will, dass es ein Kontinent bleiben will, der offen ist für Kultur, Wissen und sozialen Fortschritt, dass es Demokratie und Transparenz als Wesenszüge seines öffentlichen Lebens stärken und auf Frieden, Gerechtigkeit und Solidarität in der Welt hinwirken will“. Die Idee, dass sich aufgrund der Geschichte und der Philosophien und Wertvorstellungen des europäischen Kontinents ein verfassungsgemäß, politisch und empathisch geeintes Europa bilden solle, ist uralt – und hat bis heute zu keiner Einigung geführt. Die Entwicklung einer „europäischen Dimension“, wie sie z. B. vom „Zentrum für Europäische Bildung“ [2] in den 1980er und 1990er Jahren besonders als schulischer und außerschulischer Bildungsauftrag propagiert und mit der „Entschließung des Rates und der im Rat vereinigten Minister für Bildung“ vom 24. Mai 1988 als gemeinsame Ziele für Bildung und Erziehung in den europäischen Ländern vereinbart wurde, nämlich
  • „bei den jungen Menschen das Bewusstsein der europäischen Identität zu stärken und ihnen den Wert der europäischen Kultur zu verdeutlichen“,
  • „die künftigen Bürger in Europa auf ihr Leben in der Europäischen Gemeinschaft und auf ihre Beteiligung an der Verwirklichung der Europäischen Union vorzubereiten“,
  • „der jungen Generation insgesamt eine bessere Kenntnis der Gemeinschaft und ihrer Mitgliedsstaaten zu vermitteln sowie die Bedeutung der Zusammenarbeit mit den übrigen Staaten Europas und der Welt verständlich zu machen“.
Bereits 1978 hat die Kultusministerkonferenz den Schulen in Deutschland mit dem Beschluss  „Europa Unterricht“ den pädagogischen Auftrag erteilt, Kenntnisse und Einsichten zu vermitteln über
  • die Besonderheit und die Vielfalt des europäischen Raums,
  • die prägenden geschichtlichen Kräfte in Europa,
  • die sozialen und wirtschaftlichen Strukturen in Europa,
  • die Entwicklung des europäischen Rechts-, Staats- und Freiheitsdenkens,
  • die Entwicklungen im Sinne der Neuordnung und der Integrationsbestrebungen nach 1945,
  • die Bedeutung gemeinsamen Handelns und überregionaler Institutionen zur Lösung wirtschaftlicher, sozialer und politischer Probleme,
  • die Notwendigkeit eines Interessenausgleichs in Europa,
  • die Bedeutung der Zusammenarbeit der Europäischen Gemeinschaft,
  • die Bedeutung der Zusammenarbeit der Europäischen Gemeinschaft mit anderen Staaten der Welt,
  • die Wertvorstellungen und Interessen, die den Entscheidungen in Europa zugrunde liegen.
Das Europäische Parlament in Straßburg hat vom 21. – 22. November 1991 ein Kolloquium zum Thema „Weltkultur und Europa – ein Dialog der Zivilisationen“ durchgeführt und dabei die Frage diskutiert, ob das Universelle europäisch sei. Der spanische Europapolitiker Enrique Barón Crespo, der die Veranstaltung leitete, bejahte dies mit der Antwort: „Zweifellos deswegen, weil jeder einzelne von uns tagtäglich die Verantwortung für die Zukunft der gesamten Menschheit trägt“ [3]. Es gibt also vielfältige Argumente, Anregungen und Anforderungen, dass die Europäer sich endlich gemeinsam aufmachen, ein Geeintes Europa, ob als Staatenbund oder Bundesstaat zu verwirklichen. In der aktuellen Situation allerdings herrschen eher Skepsis bis Ablehnung vor. Die Analyse, wie sie beim Dialog 1991 als Bestandsaufnahme vorgenommen wurde – „Was sehen wir um uns herum? Einen Rückzug ins eigene Ich, das Wiederaufleben eines aggressiven Partikularismus, eine wachsende Welle von Nationalismen, eine Rückkehr zum Fundamentalismus. Wir werden Zeugen einer kollektiven Identitätskrise, die in manchen Fällen mit dem Zusammenbruch jener Kräfte einhergeht, die die Gesellschaften bisher zusammengehalten haben“ – könnte von heute sein! Während die einen, die den europäischen und globalen Zusammenschluss der Ethnien und Gesellschaften als einzige Lösung für eine gerechte, friedliche und soziale Weiterexistenz der Menschheit sehen, die bange Frage stellen, ob Europa gescheitert sei, triumphieren die anderen, die in Nationalismen, Rassismen und Höherwertigkeitsvorstellungen verharren: „Europa ist gescheitert!“. In dieser Situation, in der individuell und kollektiv nationale Gesellschaften und universale Entwürfe auseinanderdriften in diejenigen, die „Haben“ [4] (und darauf beharren, ihren Wohlstand auch behalten und vermehren zu können), und in die „Habenichtse“ – Die Reichen werden reicher und die Armen ärmer, und zwar lokal und global! – kommt es darauf an, Verstand und Empathie [5] zusammen zu führen. Der Münchner Philosoph und Politiker Julian Nida-Rümelin hat in einem Gespräch am 25.10.2015 im Deutschlandfunk die Sorge geäußert, dass die deutsche Gesellschaft auseinanderdriftet in diejenigen, die aufgeklärt und damit in der Lage sind, individuelle, gesellschaftliche, lokale und globale Entwicklungen zu erkennen und dabei mitzuwirken, sie zu etablieren und zu verändern, und in jene, die unaufgeklärt ihr tumbes Denken in egoistisches, ethnozentrisches, nationalistisches und rassistisches Handeln umsetzen. Letztere Einstellungen tragen ohne Zweifel auch dazu bei, ethische Formen des globalen Zusammenlebens der Menschen als Bedrohung der eigenen Existenz zu empfinden. Es könnte deshalb lohnen, einen (durchaus subjektiven) Blick auf ausgewählte, neuere Literatur zum Europadiskurs zu lenken, und zwar insbesondere zur Frage, welches europäische Bewusstsein in wissenschaftlichen Forschungen präsent ist, analysiert und diskutiert wird. Auf die Frage, wie sich die Situation in den europäischen Ländern angesichts der Asyl- und Flüchtlingsproblematik darstellt, wird verwiesen auf die Annotationen des Autors in www.socialnet.de und www.sozial.de [6].

Was ist Europa ?

Auf diese uralte Frage gab es in der Geschichte und gibt es bis heute unzählige Antworten – und doch kein stimmiges Verständnis, wie etwa die aktuelle Krise zeigt. Damit aber ein gemeinsames Europa nicht eine Illusion oder eine Vision bleibt, sondern Wirklichkeit wird, bedarf es eines intensiven Nachdenkens und politischen Bemühens, den Völkern und Gemeinschaften in Europa nicht nur eine "europäische Identität" zu ermöglichen, sondern auch ein Bewusstsein zu schaffen, dass es eines intensiven Integrationsprozesses bedarf. "Europa als Ganzes ist nicht identisch mit seinen Teilen, mit den Ländern der Europäischen Union und des Kontinents"; aber es bedarf der Erinnerung, dass es im Leben der Völker in Europa so etwas wie "europäische Werte" gibt, die Gemeinsamkeit stiften können. Dieser Aufgabe widmet sich eine bemerkenswerte Buchreihe des Bielefelder transcript Verlags: "Europäische Horizonte". Darin sollen theoretische Aspekte und praktische Gegenwarts- und Zukunftsfragen auf politischen, ökonomischen und kulturellen Gebieten diskutiert und Vorschläge unterbreitet werden, wie aus dem Vielerlei der nationalen Sonderheiten eine Europäische Einheit entstehen kann. Die einzelnen Bände der Reihe sind überwiegend Dokumentationen von wissenschaftlichen Fachtagungen, bei denen konsekutive und kontroverse Themen vorgetragen und in den Diskurs eines europäischen Einigungsprozesses eingebracht werden. In einer Vortragsreihe, die von der Aachener Initiative "Europäische Horizonte" vom 23.4. bis 9.5.2007 angeboten wurde, ging es um die Frage nach "Europas Gedächtnis". Der Politikwissenschaftler am Institut für Politische Wissenschaft der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule (RWTH) in Aachen, die Geschäftsführerin der Initiative Europäische Horizonte, Julia Schmidt und der Co-Dezernent für Wirtschaftsförderung und Europäische Angelegenheiten der Stadt Aachen und Lehrbeauftragter, Manfred Sicking, legen als Herausgeber den Tagungsband "Europas Gedächtnis. Das neue Europa zwischen nationalen Erinnerungen und gemeinsamer Identität" vor. Angesichts der Zeiten der Krise, des Pessimismus und der gezielten Verbreitung von Falschinformationen und Vorurteilen ist es hilfreich und aktivierend, einen optimistischen Blick aufzuzeigen, der es ermöglicht, an die Vision zu glauben und dabei mitzuarbeiten, dass ein geeintes Europa möglich werden kann [7]

Europäische Identität – Bilder und Wirklichkeiten

„Man kann Europa nicht von den Bildern trennen, die sich die Europäer von ihrem Kontinent gemacht haben“ – und machen. In zwei wissenschaftlichen Tagungen haben Politik-, Kultur- Medien- und Sprachwissenschaftler, Historiker, Didaktiker und Journalisten zu den Themen „Europabilder im Wandel der Geschichte“ (Oktober 2007 in Aachen) und „Europabilder: Innen- und Außenansichten“ (Dezember 2008 in Essen) über „Innen- und Außenansichten (Europas, JS) von der Antike bis zur Gegenwart“ reflektiert und danach gefragt, wie die Vorstellungen, Ideen und Imaginationen von Europa in den Geschichten und Köpfen der Menschen entstanden sind und sich entwickelten. In diesem Europa, das ja mit dem geographischen Blick als von anderen Räumen abgegrenztem Raum, kein Kontinent im Vergleich mit den anderen Erdteilen, jedoch kulturell, historisch und nicht zuletzt mythisch, als ein „Raum der Vorstellungen“ und nicht zuletzt der Ideologien im Sinne der (Euro-) Zentrierung in der historischen Entwicklung entstanden und „mächtig“ wirksam ist, hat es im Laufe der Geschichte mehrere Versuche gegeben, den Kontinent zu einen, mit Dominanz, Besitzanspruch und Waffengewalt. In den sich nach den verheerenden Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs entwickelten Ideen zur Einigung Europas schwingt deshalb immer wieder der Spagat zwischen religiösen und weltlichen Machtansprüchen auf der einen Seite und der historischen Entwicklung und des mythischen Auftrags wider. Es sind die Bilder, die sich die Europäer von sich machen, die eben historisch, kulturell und nicht zuletzt in der Auseinandersetzung mit den anderen, die sich auch Europäer nennen (wollen), entstanden sind; aber auch den Bildern, die sich die anderen Menschen, die außerhalb dieses Europas leben, von Europa und den Europäern machen. So entstehen Konflikte, Kriege, aber auch Einigungen. Jede Situation, ob Machtanspruch, Eroberung oder Zusammenschluss, vermittelt und stellt sich in tatsächlichen, visionären oder irrationalen Selbst- und Fremdbildern dar. Sie können aggressivieren und integrieren; es können Leit- oder Horrorbilder sein; und im Alltags- wie im Wissenschaftsdiskurs zeigen sich dabei ganz unterschiedliche Tendenzen zur Habhaftwerdung von Bildern von einem gemeinsamen Europa – als „Europa der Europäer“, als Staatenbund, Bundesstaat, als Union… Der wissenschaftliche Blick auf Europa vollzieht sich heute zwar nicht mehr aus der nationalen Perspektive; doch die Schwierigkeiten im Einigungsprozess, wie in den aktuellen Krisenbewältigungen machen deutlich, dass die Zentrismen und Egoismen nach wie vor stark sind und ein Gemeinsames Europa, in welcher konstitutionellen Form auch immer, bis heute verhindern. Da ist es ganz nützlich, die Selbstbilder der Europäer, die Bilder, die sich Europäer von Menschen aus den anderen Kontinenten gemacht haben und machen, und die „ikonografischen Dimension von Europabildern“ in der Geschichte und Gegenwart zu reflektieren. Benjamin Drechsel vom Kulturwissenschaftlichen Institut an der Universität Duisburg-Essen, der Historiker an der Universität Witten/Herdecke, Friedrich Jaeger, der Aachener Politikwissenschaftler Helmut König, die wissenschaftliche Mitarbeiterin des Essener Instituts, Anne-Katrin Lang und der Kultur- und Politikwissenschaftler an der Justus-Liebig-Universität in Gießen, Claus Leggewie vermitteln einen Querschnitt dieses wissenschaftlichen Diskussionsprozesses und zeigen auf,  „wie wir Europäer geworden sind, was wir sind“ [8]

Unser gemeinsames Haus Europa

„Europa in der Schule“, das Bildungs- und Lernprogramm, das mit der Einrichtung von „Europaklassen“ in den Schulen und mit „Europaschulen“ als herausgehobene Einrichtungen für internationales, multisprachliches und interkulturelles Lernen in Deutschland erst Ende der 1990er Jahre in Schwung kam [9], baute natürlich auf den Erfahrungen auf, wie sie in der Nachkriegszeit durch Schüleraustausch-, Begegnungs- und  Partnerschaftsprogrammen, etwa mit dem Deutsch-Französischen Jugendwerk, dem UNESCO-Schulnetz und anderen internationalen Initiativen, zustande kamen. Jede (weiterführende) Schule, die etwas auf sich hält, hat mittlerweile selbstverständliche Austauschprogramme mit Schulen außerhalb Deutschlands im Profil [10]. „Bildung für alle“, eine Forderung, wie sie als globale Ethik und dem Postulat: „Jedermann hat das Recht auf Bildung“ in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte festgelegt ist, ist ja globaler Auftrag und Herausforderung zugleich, wie dies z. B. in den von den Vereinten Nationen im Jahr 2000 vorgelegten Millenniumszielen zum Ausdruck und, weil zur Zielmarke 2015 die Vorhaben nicht verwirklicht werden konnten, mit den fünf nachhaltigen Entwicklungszielen bis zum Jahr 2013 gestreckt wurden:
  1. Armut in jeder Form und überall beenden.
  2. Den Hunger beenden, Ernährungssicherheit und eine bessere Ernährung erreichen und eine nachhaltige Landwirtschaft fördern.
  3. Ein gesundes Leben für alle Menschen jeden Alters gewährleisten und ihr Wohlergehen fördern.
  4. Inklusive, gerechte und hochwertige Bildung gewährleisten und Möglichkeiten des lebenslangen Lernens für alle fördern.
  5. Geschlechtergerechtigkeit und Selbstbestimmung für alle Frauen und Mädchen erreichen.
Die Kultusministerkonferenz der Länder (KMK) hat, in Kooperation mit dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) im Juni 2007 den "Orientierungsrahmen für den Lernbereich Globale Entwicklung im Rahmen einer Bildung für nachhaltige Entwicklung" vorgelegt. Dort wird der Bildungsauftrag "Interkulturelles Lernen" weiter entwickelt zum Konzept "Globale Bildung und nachhaltige Entwicklung". Kinder und Jugendliche sollen "zukunftsorientierte Kompetenzen für ihre eigene Lebenswelt und ihre beruflichen und gesellschaftlichen Perspektiven erwerben. Dazu gehören Weltoffenheit, Sprachkenntnisse, Verständnis fremder Kulturen und Mobilitätsfähigkeit [11].

Europa-Ideen und Institutionalisierungen einer Völkergemeinschaft

Von der universitären „Europa-Schmiede“, dem Jean Monnet-Lehrstuhl für vergleichende europäische Zeitgeschichte und die Geschichte der europäischen Integration an der Universität Hildesheim, kommt ein weiterer Baustein zur Gestaltung des europäischen Hauses. Der Hildesheimer Institutsleiter, gleichzeitig Senior Fellow am Zentrum für Europäische Integrationsforschung der Universität Bonn und Mitglied der Historischen Kommission der Österreichischen Akademie der Wissenschaft in Wien, Michael Gehler, zeigt in dem umfangreichen Buch „die historischen Hintergründe und größeren Zusammenhänge zwischen den über Jahrhunderte entwickelten Europa-Ideen und den nach 1945 geschaffenen Institutionen Europas auf“. Mit seiner Analyse orientiert er sich an dem für Historiker wichtigem Bewusstsein von der „longue durée“ (Braudel) der Geschichte. Er zeigt die einzelnen, epochalen Entwicklungen in Europa auf, setzt sich mit den Mythen und Wirklichkeiten über die Ursprünge und Charakteristika der Entwicklung im Kontinent auseinander, macht sich auf die Suche nach „historische(n) Europa-Ideen im Spannungsfeld von Vision und Wirklichkeit“ und zeichnet die Fassetten vom „Weg vom Europa der Institutionen zur Vereinigung des Kontinents“ auf. Mit dem „Versuch einer Synthese“ beschließt Michael Gehler sein Konvolut, indem er mit dem „Triumph einer Trias: Ideen – Institutionen – Vereinigung“ deutlich macht, dass der europäische Integrationsprozess darauf beruht, „dass die Kombination aus bewusster Entwicklung und der gezielten Propagierung von Ideen mit ihrer gewollten Verwirklichung und konkreten Umsetzung durch dauerhaft gebildete Institutionen erst zur Einigung des Kontinents führen konnte“. Zwar ist dieser Einigungsprozess noch nicht zufriedenstellend vollzogen, und es bedarf erhöhter politischer und gesellschaftlicher Anstrengungen, um die Einigung Europas zu vollenden; aber die Visionen sind mit der Agenda „Europa 2020“ vorhanden, mit der, mit der lokalen, regionalen, europäischen und globalen Blickrichtung, Zukunftsstrategien formuliert werden, die sich in der Erhöhung der Beschäftigungsquoten für die europäische, erwerbstätige Bevölkerung zeigt, in den Anstrengungen zum Klimaschutz artikuliert, das Bildungsniveau steigert, die Forschungsbemühungen voranbringt und die Armutsbekämpfung forciert; also eine eher optimistische und positive Perspektive, die sich wohltuend und aktivierend gegen die Pessimismen und Fatalismen der Zeit abgrenzt [12].

Kommunikation in Europa

„Ich spreche mit dir in deiner Sprache und verstehe dich in meiner“; mit dieser Charakterisierung, die gleichzeitig ein Votum für die Bewahrung der eigensprachlichen Identität, der Prozesshaftigkeit und Veränderbarkeit der Muttersprache und der Forderung nach Kulturaustausch darstellt, hat der aus Martinique stammende, französischsprachige Schriftsteller Edouard Glissant (1929 – 2011) die Bedeutung der menschlichen Sprache dargestellt („Über Babel hinaus“, Deutscher UNESCO-Kurier 7/1983, S. 9); der mehrsprachige englische Romanschriftsteller und Komponist Anthony Burgess (1917 – 1993) hat die Bedeutung des menschlichen Sprechens charakterisiert mit dem Hinweis: „Als ein Tier zu sprechen begann, nannte es sich Mensch" (“Unser größter Besitz“, a.a.o., S. 4): und der afrikanische Sprachwissenschaftler und Historiker Clifford N. Fyle (1933 – 2006) hat darauf hingewiesen, dass Sprache „eine wichtige Form der Identifikation (ist). Sie verbürgt dem Einzelnen eine bestimmte Zugehörigkeit, indem sie ihn fest in eine Gemeinschaft einwurzelt und ihn mit den übrigen Angehörigen der gleichen Kultur verbindet“ („Landessprachen und kulturelle Identität“, a.a.o., S. 6). Mit diesen Splittern aus dem differenzierten Diskurs über die Bedeutung der (Mutter- und Fremd-)Sprache, insbesondere im Zusammenhang mit der Integration Europas und der sich immer interdependenter, entgrenzender und digital entwickelnden (Einen) Welt und damit auch der (neuen) Bedeutungsfrage nach dem Kommunikationsmittel Sprache, soll auf das traditionelle Bild von der „babylonischen Sprachverwirrung“ aufmerksam gemacht werden. Die UNESCO, die Bildungs-, Wissenschafts- und Kulturorganisation der Vereinten Nationen, hat am 20. Oktober 2005 unter Bezugnahme auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (1948) und die internationalen Übereinkünfte, wie etwa die zur kulturellen Vielfalt der Menschheit (2001) das „Übereinkommen über den Schutz und die Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen“ beschlossen. Zu dem Hinweis, „dass die kulturelle Vielfalt ein bestimmendes Merkmal der Menschheit ist“, wird auch hingewiesen, „dass die Sprachenvielfalt ein grundlegender Bestandteil der kulturellen Vielfalt ist, und (dabei) die Bildung beim Schutz und bei der Förderung kultureller Ausdrucksformen (eine besondere Bedeutung) spielt“ (Deutsche UNESCO-Kommission, Übereinkommen über Schutz und Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen – Magna Charta der Internationalen Kulturpolitik, Bonn, o. J. <2006>, 111 S.). Im Vergleich mit anderen Kontinenten gibt es in Europa verhältnismäßig wenig Sprachen. In der Europäischen Union existieren offiziell 23 Amtssprachen, und natürlich werden in Europa mehr Sprachen gesprochen; aber die historisch gewachsenen, dominanten Verkehrssprachen, wie etwa Englisch, Französisch und nicht mit der gleichen Bedeutung Spanisch, Deutsch, Portugiesisch und einige andere Sprachen, erreichen nicht annähernd die Sprachvielfalt, wie z. B. in Afrika mit fast 2000 Sprachen. Trotzdem hat die „babylonische Sprachverwirrung“ in der Geschichte des Kontinents intensiv gewirkt, und gewinnt heute, bei den Bemühungen um die Bildung eines gemeinsamen Europas erneut größere Bedeutung. Der Historiker und Leiter des Europainstituts an der Universität Basel, Georg Kreis, benutzt den Begriff „Babylon“, um damit zum einen die Metapher der „Verwirrung“, also der nachteiligen Positionen im „Sprachenstreit“ in Europa deutlich zu machen, vor allem aber und zuvorderst den Aspekt der „Vielfalt“ als positive Erscheinung und Wirkung im zusammenwachsenden Europa und der (Einen) Welt zu diskutieren. Dazu hat er Sprachwissenschaftler, Soziologen, Historiker und Europawissenschaftler zusammen geführt und lässt sie zu den je spezifischen Aspekten der Sprachenvielfalt in Europa zu Wort kommen. Die im Sammelband „Babylon Europa“ diskutierten und dargestellten Entwicklungen in der europäischen Sprachenlandschaft sind ohne Zweifel wichtig und bedeutsam für die in den unterschiedlichen individuellen, gesellschaftlichen und institutionellen Ebenen sich darstellenden Formen in der europäischen Sprachenvielfalt. Es geht darum,  einerseits die Möglichkeiten bei der Bildung von dominanten Sprachen, etwa dem Englischen als Weltsprache einzuschätzen und für die Sprachpraxis und -politik zu nutzen, andererseits aber auch die Chancen von Mehrsprachigkeit für eine gelingende, interkulturelle Kommunikation zu erkennen [13]

Europa erforschen heißt: Internationalen, interdisziplinären Dialog initiieren

Der „Europäische Traum“ ist ja von vielen Facetten gespeist: „Denk ich an ... Europa in der Nacht“, wäre die eine, die bestimmt ist von Enttäuschungen und nicht erfüllten Erwartungen und Hoffnungen; die andere in der (griechischen) Mythologie auf Zeus als Stier reitende Europa, als Urmutter des Kontinents; dann die „Verflechtung einer potentiellen Einheit mit einer grundsätzlichen Vielfalt, die Vermischung der Völker, die Teilungen und Widersprüche zwischen Ost und West, zwischen Nord und Süd, die Uneindeutigkeit der Grenze zum Osten, die vereinigende Bevorzugung der Kultur“, wie sie sich die „Mentalitätsgeschichte“ (Jacques Le Goff) vorstellt; oder die politische Uneinigkeit mit der Europäischen Einigung und der etappenhaften Springprozession vom Gemeinsamen Europäischen Markt zur (begrenzten oder unbegrenzten) Europäischen Union; vom Euro als Heilsbringer für mehr Wohlstand, mehr Wachstum und mehr Währungssicherheit; oder etwa die „europäische Dimension“ mit dem Auftrag zur Bildung einer europäischen Identität; oder die Schaffung einer gemeinsamen Verfassungs- und Rechtsgrundlage für die Europäer... Die Aufzählung der Facetten lässt sich vielfach fortsetzen. Es gibt mehrere Initiativen, wie im Rahmen von politischen und historischen Disziplinen eine „Europawissenschaft“ entwickelt werden kann. Da ist zum einen der Zugang über „Global Governance“, wie ihn das Herausgeberteam – Gunnar Folke Schuppert, Inhaber der Forschungsprofessur „Neue Formen von Governance“ am Wissenschaftszentrum Berlin, Ingolf Pernice, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Europa- und Völkerrecht an der Humboldt-Universität Berlin und Ulrich Haltern, Lehrstuhl für deutsches und europäisches Staats- und Verwaltungsrecht der Universität Hannover – des Buches „Europawissenschaft“ vornehmen, nämlich „Europa als Erscheinungsform postnationaler politischer Herrschaft“ zu verstehen und gleichzeitig eine „Europäisierung der Nationalstaatlichkeit“ auf allen Gebieten des individuellen und gesellschaftlichen Handelns der Menschen in Europa voran zu bringen [14]. Und da ist der interdisziplinäre Blick, der Europa als wissenschaftliches Forschungsfeld betrachtet. An der Universität Hildesheim hat sich in den Bereichen der Lehre und Forschung eine Initiative entwickelt, bei der Bildungs-, Sprach-, Geschichts-, Politik- und Kulturwissenschaftler, Philosophen und Rezeptionsforscher zusammenarbeiten, um über Theorien und Methoden der Europaforschung zu diskutieren. Der wissenschaftstheoretische Begriff „Europäistik“, der bereits von Harald Haarmann 1976 als linguistische Kennzeichnung in der europäischen Sprachforschung eingeführt und in den 1990er Jahren von Wolfgang Schmale für die Historiografie verwendet wurde, hat mit dem „European Turn“ in den Geschichts- und Kulturwissenschaften  eine neue, weiterreichende Bedeutung gewonnen. Die Hildesheimer Initiatoren wollen mit dem Leitbild „Europäistik“ mehr als eine kooperierende und interdisziplinäre Forschung der einzelnen Fachdisziplinen initiieren: „Unter der Leitperspektive der Europäistik … dominiert nicht die Geschichte der Nationen die europäische Geschichte, sondern umgekehrt die europäische Geschichte die der Nationen“. Diese europäische „Zurück zu den Quellen“ – Denken lässt sich mit dem Paradigma charakterisieren: Die Kategorie Zeit dominiert den Raum [15].

Die Janusköpfigkeit Europas

Die Auseinandersetzungen darüber, welche positiven und negativen geschichtlichen und politischen Entwicklungen sich in Europa vollzogen haben, wie Kriege entstanden sind und Friedensprozesse ereigneten, und nicht zuletzt, wie unmenschliche Taten, wie etwa Sklavenhandel, Kolonialismus, Holocaust ... möglich waren, macht es notwendig, geschichtlich, ethisch und moralisch zu reflektieren. Mit dem Begriff „Postkolonialismus“ wird zum einen zum Ausdruck gebracht, dass die vergangene, imperiale und koloniale Dominanz von Ländern und Mächten über Individuen und Völker zwar vorbei ist, aber in anderen Formen wieder auflebt; zum anderen, dass Machtstrukturen, die den Kolonialismus entstehen ließen, weiterhin bestehen und apodiktisch nach den gleichen Ideologien wie zu Zeiten des Kolonialismus wirken und sich auch moralisch und human ummanteln. Es geht um die „Dekolonisation des Denkens“ [16] und um die Herausforderung, „Critical Whitness“ zu denken [17]. Die Psychologin, Pädagogin und Politikwissenschaftlerin von der Berliner Alice Salomon Hochschule, Maria do Mar Castro Varela, forscht und publiziert zusammen mit der Politikwissenschaftlerin von der Leopold-Franzen-Universität in Innsbruck und Direktorin des „Frankfurt Research Center for Postcolonial Studies“ an der Goethe-Universität in Frankfurt/M.(FRCPS), Nikita Dhawan, in vielfachen globalen Zusammenhängen. Mit ihrer kritischen Einführung in postkoloniales Denken verweisen sie auf die Notwendigkeit, mit der „postkolonialen Theorie“ die historisch-soziologischen, politischen, ökonomischen, kulturellen, individuellen und gesellschaftlichen Interdependenzen, Verflechtungen, Abhängigkeiten und Machtstrukturen, die durch den Kolonialismus entstanden sind und bis heute wirken, zu erkennen, um die Ursachen der Macht- und Ohnmachtverhältnisse, der Gerechtigkeits- und Ungerechtigkeitssituationen, der Gleichheits- und Ungleichheitsprozesse zu analysieren und sie im Sinne einer „globalen Ethik“ zu verändern [18].

Die Europäisierung der Bildungspolitik und -praxis

Europäisierung und Universalität sind uralte Bemühungen und Sehnsüchte, zwischen dem Sosein des Individuums und dem globalen gesellschaftlichen Gebundensein des Kollektivs der Menschheit eine Brücke zu schlagen. Während sich die Europäisierung auf vielen Gebieten des menschlichen Lebens und Schaffens nach und nach und immer stringenter vollzieht, zeigen sich in den Bereichen der Bildungspolitik und -wirklichkeit erhebliche Lücken und blinde Flecken. Das hat sicherlich zum einen damit zu tun, dass die Bildungspolitik traditionell als eine nationale und ethnokulturelle Bastion bezeichnet und verteidigt wird; zum anderen wohl aber auch, dass auf diesem Feld den inter- und transnationalen Bedürfnissen und Zwängen zur Zusammenarbeit länger (und leichter?) widerstanden werden kann. Das Tübinger Promotionskolleg „International-vergleichende Forschung zu Bildung und Bildungspolitik“ hat sich 2009 als interdisziplinäre Initiative gebildet. Sie wird von der Hans-Böckler-Stiftung und der Universität Tübingen gefördert. Ziel des Forschungsverbundes ist es, vergleichende Wohlfahrtsstaats- und international-vergleichende Bildungsforschung miteinander zu verbinden. Die Forschungsverläufe und -ergebnisse werden jeweils bei Jahrestagungen präsentiert und diskutiert. Die Jahrestagung 2010/11 brachte den Band „Bildung und Bildungspolitik im Wohlfahrtsstaat“ (Schmid / Amos / Schrader / Thiel, 2011) hervor, und 2011/12 wurde der Band „Kultur – Ökonomie – Globalisierung“ (Amos / Schmid / Schrader / Thiel, 2012) veröffentlicht. Im November 2012 fand die dritte Jahrestagung statt. Die Ergebnisse werden mit dem hier vorgestellten Band vorgelegt. Die beim Promotionskolleg beteiligten politikwissenschaftlichen Forscherinnen und Forscher fokussieren ihr Augenmerk dabei vor allem auf Modelle der Wohlfahrtsstaats-, der Governance-Forschung und (neo-)institutionalistische Ansätze. Die Nachschau beim Diskurs von Europäisierungsprozessen in der Bildungspolitik und -praxis ergibt, dass „die Analysen sich auf jene Segmente des Bildungssystems beziehen, deren Relevanz für den europäischen Integrationsprozess als besonders groß erachtet wird“. Die Autorinnen und Autoren identifizieren dabei insbesondere die Entwicklungen, wie sie sich im Hochschul- und Berufsbildungsbereich ergeben. Dass dabei die ohne Zweifel ebenso bedeutsamen Verläufe in der Frühpädagogik, der Schule, der Weiterbildung und im Gesundheitswesen in diesem Diskurs nicht im Vordergrund stehen, ist – das zeigt nicht nur der Forschungsdiskurs, sondern auch die Wirklichkeit – wiederum der Tatsache geschuldet, dass die europäischen Länder ihre nationalstaatliche Bildungssouveränität eher eifersüchtig denn behutsam verteidigen, und der integrative Wirkungs- und Nutzungsgrad in diesen Bereichen der Europäisierung nicht bedeutsam genug eingeschätzt wird. Die Bestandsaufnahme der aktuellen Bemühungen, zu einer europäisch abgestimmten und passenden Bildungspolitik macht deutlich, dass es auf dem Koordinierungs- und Integrationsdiskurs noch viel zu tun gibt, etwa bei den Fragen, wie sich die Wandlungs- und Veränderungsprozesse steuern lassen, wie sich Prozesse und Wirkungen der Governance-Modi in verschiedenen Bildungssystemen und -bereichen darstellen, inwieweit durch neue Governance-Formen die für den jeweiligen Bildungsbereich proklamierten Ziele erreicht werden können, wie sich die theoretisch postulierten Wirkungen neuer Governance-Modi empirisch nachweisen lassen, und inwieweit verwendete Analyseinstrumente sich als geeignet erweisen [19].

„Das Ende des Eisernen Vorhangs hat ein rundum neues Europa hervorgebracht“

Denk ich an Europa in der Nacht..., dann, so könnte man – anders als dies Heinrich Heine bei seinem Nachdenken über das marode Deutschland seiner Zeit empfunden hat  und um seinen Schlaf gebracht wurde -  im Sinne von Erhard Busek, dem ehemaligen österreichischen Vizekanzler und seit 2002 als Sonderkoordinator des EU-Stabilitätspaktes für Südosteuropa formulieren, bin ich aufgewacht! Nicht in erster Linie deshalb, weil ich schlechtes und peinigendes geträumt habe, sondern weil ich weiß und hoffe, dass Europa eine Seele hat, zumindest eine bräuchte, wie dies der ehemalige Präsident der EU-Kommission, Jacques Delors sich wünschte. Es sind die (zunehmende?) politische, staatliche und internationale Krisen heute, in der Zeit der sich immer interdependenter entwickelnden Welt, nicht mehr mit militärischen Mitteln gelöst werden dürfen, sondern mit denen einer Zivilgesellschaft, mit „Good Governance“. Busek legt als internationaler Krisenmanager für Europa den Finger in die Wunden, die von dominanten Staaten (des Westens) gerne gegen die so genannten „kleinen“, als unbedeutender angesehenen Länder (des Südens und Ostens) aufgemacht werden. Er stellt fest, dass mit zweierlei Maß gemessen wird, wenn es um politische Krisensituationen geht. Er ruft auf zum Umdenken, indem er feststellt: „Das Ziel des Krisenmanagement ist nicht mehr Macht, sondern mehr Humanität“; bis hin zum Blick nach Innen, nämlich: „Krisenmanagement erfordert eine Reform der EU“. Sein Credo ist und bleibt dabei die drängende Aufforderung an die Europäer, sich im Alltagsleben wie beim Zusammenleben im Gemeinsamen Europa auf die erworbenen Prinzipien der Toleranz, nämlich auf „die faszinierende Freiheit und Vielfalt“ zu besinnen. Daraus entsteht eine Antwort auf die vielgestellte Frage, was denn, in den Zeiten der Globalisierung, einen Europäer ausmache? Sie ist so einfach wie kompliziert, so selbstverständlich wie (noch) fremd: Ein Europäer bekennt sich zu Menschenrechten und Menschenwürde, er sieht Grundfreiheiten, demokratische Legitimation als unverzichtbar an, er setzt sich für Frieden und die Ablehnung von Gewalt ein, erachtet die Achtung der anderen Menschen und die Solidarität für sie als Auftrag und ist überzeugt, dass eine ausgewogene Entwicklung, Chancengleichheit, wissenschaftliches Denken, ethisches Handeln, die Bewahrung des Ökosystems und die Verantwortung des Individuums das Menschsein ausmachen [20].

Mitteldeutschland als „deutsche Mitte“ und „Herz Europas“

An der Friedrich-Schiller-Universität Jena, der Hochschule für Musik „Franz Liszt“ in Weimar und dem Kulturverbund „Klassik Stiftung Weimar“ wurde von 2003 bis 2007 ein Forschungsprojekt durchgeführt, um  „Werte - Räume – Erinnerungskulturen. Sinnstiftungsprozesse des 19. und 20. Jahrhundert in europäischer Perspektive“ zu erkunden. Das wissenschaftliche Interesse an der kulturhistorischen Arbeit orientierte sich dabei zum einen an dem, was die Forscher „erinnerungskulturellen Wertehaushalt“ nennen, in Bezug auf einen bindungs- und geborgenheitsbestimmten Heimatbegriff, der sich in den Metaphern „Natur, Wald und Landschaft“ als nationale Wertvorstellungen ausdrückt; zum zweiten in der Darstellung von komplementären oder gegensätzlichen Wertesystemen; schließlich in der Konstruktion von nationalen und europäischen Wertezentren in der Musikkultur. Gesucht wurde also nicht die geographische Mitte Europas, die sich, wie die erfindungsreichen Tourismusmanager heraus gefunden haben, an der deutsch-tschechischen Grenze, in der Nähe des nordostbayerischen Neualbenreuth befinden (soll), sondern eine „Geographie des Imaginären“ und der Zusammenhang von Raum, Wert und Erinnerung. Markierungspunkte sind dabei die im 19. und 20. Jahrhundert sich vollziehenden Entwicklungstrends und Konstellationswechsel, insbesondere die sich in gesellschaftlichen Krisen-, Umbruchs- und Neugestaltungssituationen darstellenden Wandlungsprozesse um 1900, 1918, 1933, 1945 und 1989/90. So gerät die Analyse einer „deutschen Sinnkrise“ mit den „inflationär anmutenden Beschwörungen nationaler Identität und Geschichte“ zur Betrachtung einer „europäischen Sinnkrise“; eine möglicherweise in der heutigen Situation der „ostdeutschen Irritationen“ interessante Analyse über europäische Wertelandschaften und Erinnerungskulturen mit Grenzüberschreitungen [21].

Ernüchterung und Europa-Pessimismus – die Suche aus der Krise

Es gibt keine Alternative zu einem geeinten Europa – es sei denn, der Vielvölkerkontinent versinkt wieder in Nationalismen, Egoismen und Eingrenzung. Dieser Konsequenz sind sich (scheinbar) zunehmend mehr Europäer nicht bewusst. Da ist es gut, danach zu fragen, wie das politische Projekt Europa wieder eine neue Faszinationskraft und Akzeptanz bei den Bürgern des Kontinents gewinnen kann. Eine erste Antwort darauf liegt vor: Wenn ein gemeinsames Europa „in der konkreten Lebensrealität der Bürger überzeugt“. Wie ein „neues Europa“ aussehen könnte, mit welchen Antworten eine Europäische Union den Bürgerinnen und Bürgern Europas „eine Orientierung im Zeitalter der globalisierten Moderne bieten“ kann, dieser Herausforderung stellt sich ein Expertenteam in dem Buch: „Das neue Europa“. Anhand von Positiv-Negativ-Analysen nehmen sie Stellung zu Fragen der Erweiterung der EU, von Beitrittskandidaten, „Beitrittseuphorie“ bis zum „Europapessimismus“. Sie diskutieren das Für und Wider und  zeigen auf, dass es in der Europapolitik (neue) Ansätze und Antworten gibt, die es gilt, zu beachten. Denn die Völker Europas haben nur die Chance, die Vision für ein Vereintes Europa weiter zu denken und mitzuarbeiten, „auf der Grundlage gemeinsamer Werte eine friedliche Zukunft zu teilen, indem sie sich zu einer immer engeren Union verbinden“, (europäische) Werte wie Demokratie, Gleichheit, Freiheit, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit hochhalten und verteidigen [22].

„Durch Dämonisierung ist Fundamentalismus nicht zu entzaubern“,

diese mittlerweile gängige Auffassung über die Auseinandersetzung mit fundamentalistischen Gedankengängen und Politik beinhaltet eigentlich zwei Aspekte: Fundamentalismen als individuelle und kollektive Einstellungen richten sich gegen vernunftbestimmtes und damit demokratisches Denken und Handeln der Menschen; und sie lassen sich nicht mit den üblichen Mitteln der Machtausübung „bekämpfen“, sondern die Ideen müssen „entzaubert“, also auf die Ursprünge der fundamentalistischen Einstellungen und Heilserwartungen hinterfragt und damit ad absurdum geführt werden. Die politische Auseinandersetzung über fundamentalistisches Denken und Politik wird nicht selten mit ungleichen Mitteln geführt. Eine auf den Prinzipien der Toleranz geführte Konfrontation erscheint ohnmächtig dann, wenn fundamentalistische Einstellungen tolerante und demokratische Ideale nicht anerkennen, sondern mit den Mitteln der terroristischen wie kapitalistischen Macht vorgehen. Die Zürcher Juristin, Politologin, Mitglied des Schweizerischen Parlaments, Botschafterin beim Europarat und von der OSZE gewählte Ombudsfrau für Menschenrechte in Bosnien und Herzegowina, Präsidentin der Schweizerischen Gesellschaft für Außenpolitik, setzt sich in ihrem Buch „Politik der Götter“ mit diesen Fragen auseinander. Sie zeigt auf, dass Europa mit mehreren fundamentalistischen Strömungen konfrontiert sei: Dem  islamischen Fundamentalismus, dem  christlichen und dem Fundamentalismus US-amerikanischer Provenienz. Sie zeigt auf, welche fundamentalistischen und ethnozentrierten Machtansprüche und –ausübungen vom amerikanischen „Republikanismus“ und Bewegungen wie der „Tea-Party“ und anderen nationalen oder religiösen Ideologien ausgehen; diskutiert die zunehmenden christlichen und eurozentrierten Höherwertigkeitsbestrebungen und macht Vorschläge, wie dem islamistischen Fundamentalismus und Extremismus begegnet werden kann [23].

„Jedermann hat das Recht, jedes Land ... zu verlassen“

In Artikel 13 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte wird das Recht auf Freizügigkeit innerhalb der eigenen staatlichen Grenzen, wie auch über diese hinweg geregelt. Damit werden die uralten Instinkte und Aktivitäten der Menschheit, nämlich zu wandern, den angestammten Wohn- und Arbeitsort zu wechseln, als Menschenrecht ausgewiesen. Im anschließenden Artikel 14 wird ohne Wenn und Aber festgelegt: „Jedermann hat das Recht, in anderen Ländern vor Verfolgung Asyl zu suchen und zu genießen“. Dem Recht auf freie Orts- und Existenzwahl wird also damit das Recht auf Zuflucht beigegeben. Der in Artikel 14 genannte Grund für das Asylrecht „Verfolgung“ korrespondiert mit Artikel 3: „Jedermann hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person“ – und sowieso mit dem ersten Grundsatz der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen“. 1993 hat eine Gruppe von 60 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in Deutschland aus verschiedenen Fach- und Forschungsrichtungen das sogenannte „Manifest der 60. Deutschland und die Einwanderung“ vorgelegt. Dort heißt es unter anderem: „Die weltweiten Wanderungs- und Fluchtbewegungen sind individuelle und gesellschaftliche Antworten auf politische, ökonomische und ökologische Krisensituationen“. Gleichzeitig wird darin beklagt, dass hierzulande wie auch anderswo das „Problemfeld Migration“ gesellschafts- und globalpolitisch viel zu egoistisch, verzögert, dilettantisch und verantwortungslos gehandhabt wird. Diesen Missstand will das von der Kulturstiftung des Bundes 1989 initiierte Forschungsprojekt TRANSIT MIGRATION verändern und den „Migrationsraum Europa“ als globale Herausforderung aufweisen. Die Metapher von der „Festung Europa“ entlarvt sich dabei als ein untauglicher Versuch „auf die Vorverlagerung und Verschärfung von Einwanderungskontrollen an den Außengrenzen der Europäischen Union sowie auf den Ausbau der Anrainerstaaten zu Pufferzonen für Angehörige von Drittstaaten“ zu machen. Mit dem Projekt TRANSIT MIGRATION soll demgegenüber der Versuch unternommen werden, „die Turbulenzen der Migration adäquat zu fassen und ein repräsentatives Gefüge zu denken, in dem Migrationen Gesellschaften verändern und nicht gleichsam an ihnen abprallen“. Dabei werden Grenzen als „Aushandlungsräume“ verstanden, in denen die Chancen wie auch die Konflikte, die sich durch die Migration ergeben, ausgetragen werden. Und zwar politisch, kulturell und existentiell. Deshalb arbeiten im Projekt TRANSIT MIGRATION Kulturanthropologen, Politologen, Soziologen und Kulturschaffende zusammen. Sie betrachten dabei die Phänomene und Entwicklungen in den europäischen Grenzregionen, in Griechenland, in Osteuropa und in der Türkei und stellen die als Forschungsdesign erarbeitete „ethnographische Regimeanalyse“ in den Mittelpunkt ihrer These, dass Migration als soziales Verhältnis und dynamische Kraft und nicht als „zu steuernde Naturabläufe“ zu verstehen seien. So vollzieht sich mit der Annahme, dass „Regime... ein Ensemble von gesellschaftlichen Praktiken und Strukturen – Diskurse, Subjekte, staatliche Praktiken – (seien), deren Anordnung nicht von vorneherein gegeben ist, sondern das genau darin besteht, Antworten auf die durch die dynamischen Elemente und Prozesse aufgeworfenen Fragen und Probleme zu generieren“, ein Perspektivenwechsel, der eine neue, notwendige Aufbruchstimmung in der Migrationsforschung und –politik schaffen könnte [24].

Integration: Wort und Tat

Integration und Inklusion sind Wertvorstellungen, die den Blick vom Individuum hin zum Kollektiv, zur Gemeinschaft leiten. In der antiken, aristotelischen und anthropologischen Philosophie stellt koinônia, Gemeinschaft, ein Grundelement des menschlichen Zusammenlebens dar: „Denn es muss doch entweder allen Bürgern alles gemeinsam sein oder nichts oder endlich einiges gemeinsam und anderes nicht“; mit dieser Formel markiert Aristoteles die gesellschaftliche Herausforderung [25]. Mit dem Begriff „Leitkultur“ wird in der aktuellen Diskussion um Einwanderung eher missverständlich und fehlgeleitet die eigentlich selbstverständliche Fähigkeit der Menschen verstanden, sich – freilich unter Beibehaltung der eigenen kulturellen Identität – an vorherrschende Werte und Normen anzupassen. Der in Münster ansässige Verein „Ethnologie in Schule und Erwachsenenbildung“ (ESE) hat sich schon mehrfach zu Wort gemeldet, wenn es um die Frage geht, wie es gelingen kann, ein Bewusstsein bei Kindern und Erwachsenen zu entwickeln, dass wir Menschen in Einer Welt leben und es deshalb notwendig ist, im Alltags- wie im gesellschaftlichen Leben interkulturell kompetent zu denken und zu handeln [26]. In Zusammenarbeit mit der Akademie Franz-Hitze-Haus des kath. Bistums Münster veranstaltete ESE eine Fachtagung zum Thema „Integration und Ethnologie“. Die Ergebnisse und weitere Beiträge zur Fragestellung werden nun von der Ethnologin und Vorstandsvorsitzenden des Vereins ESE, Ursula Bertels, im Sammelband vorgelegt. Wenn man davon ausgehen kann, dass Ethnologen „den Menschen aufs Maul schauen“ und durch das Beschauen des alltäglichen Tuns Eindrücke gewinnen können, wie Menschen in bestimmten Lebenssituationen denken und handeln, dürfte eine Betrachtung interessant sein, wie Integration aus ethnologischer Sicht gelingen kann. Interkulturelle Kompetenz erwerben, das ist eine herausragende, notwendige und sinnstiftende Herausforderung, wie wir Menschen in der sich immer interdependenter, entgrenzender und (scheinbar) egozentrisch sich entwickelnden (Einen?) Welt friedlich und gerecht, also human miteinander umgehen sollen. Das Einwanderungsland Deutschland ist darauf bisher nur unzureichend vorbereitet. Es bedarf also einer interdisziplinären Zusammenarbeit, bei der – auf Augenhöhe – alle relevanten, für Aufklärung, Bildung und Erziehung geforderten Kräfte sich zu einem Netzwerk der „Willigen“ zusammen finden. Ethnologinnen und Ethnologen sind dabei wichtige Partner! [27].

„Wir haben wesentlich mehr Gemeinsames als Unterschiedliches“

Den gezielt verbreiteten Parolen, dass die Integrationsbemühungen in unserer Gesellschaft gescheitert seien, wird von Betroffenen wie von Analysten deutlich widersprochen. Die Erfolgsgeschichten der Zugewanderten, die in der Mehrheitsgesellschaft angekommen und erfolgreich sind, sprechen eine deutliche Sprache; und sie erlauben die Aussage: Integration gelingt, wenn eingewanderte und eingesessene Menschen einen gemeinsamen gleichberechtigten und fairen Diskurs über die individuelle und gesellschaftliche Entwicklung aller führen und mögliche Probleme bei der Integration in die deutsche Gesellschaft als gemeinsame Herausforderung verstehen. Dabei ist wichtig, die Frage nach der „deutschen Identität“ nicht mehr mit dem Panzerhemd und dem Abwehrschild zu stellen, sondern mit dem Bewusstsein, wie dies in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (10. 12. 1948) in der Präambel formuliert wird: „Die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte bildet die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt“. Es sollte sich doch mittlerweile herumgesprochen haben, dass das (unbedachte wie bewusst gesteuerte) Gerede vom Scheitern der Integrationsbemühungen in Deutschland (und Europa) Unsinn ist. Dass auch Integration scheitern kann oder sogar von Einzelnen aus ideologischen oder unbedarften Gründen gar nicht gewollt wird, ist nichts Besonderes. Gesellschaftliche Prozesse, auch in scheinbar homogenen Gesellschaften, verlaufen auch verquer, und Probleme bei Einzelnen sollten als gesellschaftliche Herausforderung verstanden und nicht als Argument benutzt werden, Integration abzulehnen. Es sind Lebensgeschichten, erinnerte, vielleicht sogar euphorisierte oder auch fatalistische Erzählungen, die Lebenswege bestimmen können. Der 1968 in Siegen als Sohn türkischer Gastarbeiter geborene Mehmet Gürcan Daimagüler kann als Vorzeige- und Paradebeispiel für jemand gelten, der erfolgreich Deutscher wurde: Er absolvierte erfolgreich die Schule, studierte Jura, VWL und Philosophie in Bonn, Kiel, Witten-Herdecke, Harvard und Yale; er wurde als »World Fellow« der Yale University und als »Littauer Fellow« der Harvard University ausgezeichnet; er war Mitglied des Bundesvorstandes der FDP (die er 2007 verließ), Berater der Boston Consulting Group, wurde 2005 vom „World Economic Forum“ in Davos zum „Young Global Leader“ gekürt und ist als erfolgreicher Rechtsanwalt und Strategieberater in Berlin tätig. Eine Bilderbuchkarriere, die sich mancher „Ur“-Deutscher wünschte. Interessanterweise wählt er für sein Buch als Titel das heute sentimental anmutende alte Volkslied: „Kein schöner Land in dieser Zeit“, das (fälschlich) Friedrich Sigismund (1856) zugeschrieben wird und in dem es weiter heißt: „… als hier das unsre weit und breit, / wo wir uns finden, wohl unter Linden, zur Abendzeit…“. An das Lied, das der deutsche Heimatschriftsteller und Volksliedforscher Anton Wilhelm Florentin von Zuccalmaglio, genannt Wilhelm von Waldbrühl (1803 – 1869) nachgedichtet hat, erinnert sich Daimagüler; und er wünscht sich „wie damals als kleines Kind in Niederschelden mit leuchtenden Augen und flammendem Herzen mein Lied über Deutschland singen zu können“. Er nennt seinen Bericht eine „Zwischenbilanz“; was zum Ausdruck bringen soll, dass Mehmet Gürcan Daimagüler und viele andere „neue“ Deutsche bereit und in der Lage sind, gemeinsam und auf Augenhöhe für ein gedeihliches, friedliches und sozial gerechtes gesellschaftliches Zusammenleben einzutreten [28]

Auf dem Wartegleis der Geschichte?

Die Rangier-, Abstell- und Wartegleise der Bahnhöfe sind meist in den hässlichsten und herunter gekommensten Gebieten der Bahnhofsviertel in den Städten; vermutlich, weil die Waggons entweder ausgesondert, oder reparaturbedürftig sind, oder derzeit nicht benötigt werden. Dieses Bild ist ganz gut geeignet, um die Europa-Skepsis zu beschreiben, wie sie sich derzeit in den unterschiedlichsten Variationen und Kakophonien zeigt. Die Beschreibung der Zustände und Entwicklungen, die sich sowohl als Euphorien, als auch als Kassandrarufe darstellen, vermitteln immer Bilder, die der jeweiligen Gefolgschaft , wie auch der unkritischen Öffentlichkeit scheinbare Wirklichkeiten zeigen wollen. Es ist die Frage „Quo vadis, Europa?“ , die den jeweils national-, eurozentrierten und globalen Diskurs bestimmt. Wie eine Reihe anderer kulturell und gesellschaftlich engagierten Einrichtungen bemüht auch die Allianz-Kulturstiftung darum, im Prozess der öffentlichen Meinungsbildung und Gesellschaftsentwicklung mitzuwirken. Mit dem Sammelband „Das Ende der Gewissheiten“ werden Vorträge und Referate zum Thema „Reden über Europa“ abgedruckt, die im Rahmen der 2000 gegründeten Stiftung  stattgefunden haben. Es ist ein Querschnitt des intellektuellen Denkens  und Mühens um eine friedliche, gerechte und soziale (Eine) Welt. Bei den Bestandsaufnahmen, Analysen und Prognosen darüber, wie dies gelingen kann, überwiegen Realismen und Optimismen, im Gegensatz zum eher alltäglich und nicht selten allzu oberflächlich daherkommenden Schwarz-Weiß-Denken, etwa, wenn der Stifter des alternativen Nobelpreises, Jakob von Uexküll, formuliert: „Mit schmelzenden Gletschern kann man nicht verhandeln!“. Er weist darauf hin, dass das Hauptproblem der Menschen Hier rund Heute nicht ist, dass es die großen globalen Krisen gibt, sondern „dass wir diese nicht lösen, obwohl wir das Wissen, die Arbeitskraft und die Mittel dazu haben“. Mit seiner mutvollen Aufforderung, dass jeder Einzelne die Menschheitskatastrophe abwenden kann, durch „die Praxis täglicher Arbeit“, zeigt er Hoffnung auf und vermittelt die Kraft dazu [29].

Die Ordnung der Welt

Wenn es um Staatenbildung und um –verbünde und –vereinigungen geht, stehen meist Hierarchien, gottgewollte oder laizistische Ordnungsvorstellungen und Ideologien Pate. Ob, wie und von wem die Welt geordnet ist, darüber gibt es seit Jahrtausenden Aussagen, Visionen und Ge- und Verbotsdiktate. Während die einen zu wissen glauben, wer oder was die Welt zusammenhält, sind sich andere (nicht) sicher, wer eigentlich die Welt regiert. Im aktuellen Diskurs über Hegemonien, Supermächten und zerfallenden Staaten wird die Forderung nach einer „neuen Weltordnung“ immer lauter. Um, im Sinne der UNESCO, von einer „Kultur des Krieges“ zu einer „Kultur des Friedens“ zu gelangen, braucht es eine „globale Ethik“, etwa wie sie in der Menschenrechtsdeklaration der Vereinten Nationen formuliert wird. Der Politikwissenschaftler und Lehrstuhlinhaber für Internationale Beziehungen und Vergleichende Regierungslehre an der TU in Braunschweig, Ulrich Menzel, legt ein umfangreiches und anspruchsvolles Buch vor, mit dem er nicht mehr und nicht weniger als „die Welt erklären“ will. „Es soll darin gezeigt werden, was die Welt im Innersten zusammenhält, wer für Ordnung sorgt in der Anarchie der Staatenwelt, in der es keine übergeordnete Instanz, keinen Weltstaat gibt, der mit einem internationalen Gewaltmonopol ausgestattet ist“. Er formuliert bereits zu Beginn: „Die Ordnung in der Anarchie der Staatenwelt resultiert aus der Hierarchie der Staatenwelt“ und begründet damit den Untertitel seines Buches. Er verweist auf seine jahrzehntelangen Forschungen und (Fall-) Studien zu Fragen nach einer (neuen) Weltordnung. Nicht ohne Grund, sondern eher selbstverständlich kreisen Menzels Forschungsarbeiten um die Frage, wie Mächte, Imperien und Reiche internationale Ordnungen bestimmen und sich Zentrismen bilden konnten und können. Weil diese überwiegend nicht auf Zufälligkeiten oder natürlichen Entwicklungen beruhen, sondern von Menschen „gemacht“ sind, bedarf es bei der gesellschaftspolitischen und -historischen Analyse des hermeneutischen Blicks. Für die Zeitspanne von ca 1.000 Jahren wählt er aus: Das Chinesische Kaiserreich während der Song-Zeit (960 – 1204) - Das Reich des Großkhans der Mongolen (1230 – 1350) - Die italienischen Fernhandelsstädte und Kolonialmächte Genua (1261 – 1350) und Venedig (1381 – 1503) - Die frühen Ming (1368 – 1435) - Die iberischen Entdeckernationen und Feudalmächte Portugal (1494 – 1580) und Spanien (1515/19 – 1648/59) - Das Osmanische Reich auf den Spuren der Mongolen (1453 – 1571) - Die Niederlande als erste moderne Ökonomie (1609 – 1713) - Das absolutistische Frankreich (1635 – 1714) - Großbritannien auf Merkantilismus und Freihandel gestütztes Empire (1692 – 1919) - Die USA als Hegemonialmacht (1898 - ? <2035>. Der Vergleich der Fallstudien zu den ausgewählten Idealtypen von Imperium und Hegemonie soll die Antwort auf die Frage geben, „ob und wie die großen Mächte in der Lage waren, für internationale Ordnung zu sorgen und die Anarchie der Staatenwelt einzuhegen“. Menzel entwickelt daraus drei typologische Kombinationen, die ihm als Grundlage für seine „Theorie der internationalen Ordnung“ dienen. Seine Ausblick auf das Jahr 2035 ist sicherlich spektakulär, aber auch mit einer nicht unrealistischen Vermutung verbunden, ob „die USA ab etwa 2035 von China und womöglich China eines zukünftigen Tages von Indien als Ordnungsmacht abgelöst wird oder ob eine Rückkehr zur Anarchie der Staatenwelt eines möglichen Hegemoniekonflikts zwischen den USA und China ist“ [30].

Werdet so wie wir?

Es besteht ein Bedürfnis von Staaten, Vorstellungen, Werte und Normen aus der eigenen Kultur an andere Länder weiter zu geben. Es sind die immerwährenden, im Laufe der Geschichte der Menschheit in vielfältiger Weise, als Dominanz, Infiltration, Macht, Potenz und Ideologie sich darstellenden Versuche, die eigenen kulturellen Identitäten anderen Völkern und Volksgruppen, die außerhalb des eigenen staatlichen Territoriums leben, nahe zu bringen oder gar aufzuzwingen. „Werdet so wie wir“, das ist die ethnozentrierte Forderung, die das Anderssein im Denken, Aussehen und Handeln als das Andere, Ferne und Fremde kategorisiert. Wir sind bei der nationalzentrierten Außenpolitik, wenn es darum geht, das Eigene als das Erstrebenswerte auch für die Anderen darzustellen, oder, wie dies in theoretischer Perspektive verstanden wird, „als ein Interaktionsprozess, in dem ein Staat grundlegende Ziele und Werte in Konkurrenz zu den anderen Staaten zu realisieren versucht“ [31]. Wir sind bei der Kulturpolitik, die nicht als ein festgefügter Block und unverrückbares Mentalitätsgebilde verstanden wird, sondern, wie dies die Weltkommission „Kultur und Entwicklung“ 1995 in ihrem Bericht „Our creative diversity“ (Unsere kreative Vielfalt, Deutsche UNESCO-Kommission, Bonn 1997) formuliert, „Kulturpolitik sollte sich wandeln und sich die Förderung multi-kultureller Aktivitäten zur Aufgabe machen. Der Politikwissenschaftler und Germanist Patrick Schreiber hat an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt/M. in den Jahren 2003 – 2009 eine Untersuchung der Strategien und Wirkungen von außenpolitischen Aktivitäten durchgeführt. Daraus entwickelt eine „Theorie der Außenkulturpolitik“, indem er sich der Frage zuwendet: „Warum überhaupt betreiben Staaten Außenkulturpolitik? Und weiterhin: Welche Rolle spielt für Außenkulturpolitik die Aufteilung der Welt in Nationalstaaten, die sich im Kern durch ein Nation-Sein definieren? Sowie: „Wie kommt es…, dass der Außenkulturpolitik bzw. die Kultur anderer Nationalstaaten oft mit Wohlwollen und Sympathie begegnet wird? Wie lassen sich Umstände verstehen, in denen eben dies nicht geschieht? Dabei definiert er den Begriff Außenkulturpolitik als „den Versuch von Staaten, das, was Akteurinnen und Akteure für Kultur halten, in irgendeiner Form zu einem Bestandteil zwischenstaatlicher oder internationaler Beziehungen und Kontakte zu machen“. Es ist das Verdienst Patrick Schreiners, darauf aufmerksam zu machen, dass Kultur nicht per se völkerverbindend wirkt, genau so wenig, wie sie grundsätzlich als autoreferentiell interpretiert werden kann. Damit schneidet er eine Schneise in das bisherige, wissenschaftliche Verständnis zur Außenkulturpolitik, und er ebnet damit den Weg für ein Verständnis, dass „Außenkulturpolitik …ein an moderne Nationalstaatlichkeit gebundenes außenpolitisches Handlungsfeld“ darstellt. Indem er das Kulturelle und das Soziale, im lokalen wie im globalen Verständnis, als zeichenhaft konzipiert, baut er Brücken für den interdisziplinären Diskurs [32].

Denk’ ich an Europa ...

dann bin ich zwar nicht um den Schlaf gebracht; aber mir ist bang! Weil die ethnischen und nationalen Egoismen die Vision zu verdecken drohen, dass bald ein Vereintes Europa entstehen möge, in dem die Europäer die Werte leben, die sich im Humanismus und in der Universalität der Menschheit zeigen: Gleichheit, Freiheit, Gerechtigkeit und Vernunft! Diese Wertvorstellungen und Lebensperspektiven gilt es optimistisch und aktiv mit zu gestalten. Notwendig dazu ist der „aufrechte Gang“, mit dem eine humane, menschenfreundliche Gesinnung  möglich wird [33] . Autor
Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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[1] Europäischer Konvent, Entwurf eines Vertrages über eine Verfassung für Europa, dem Europäischen Rat überreicht auf seiner Tagung in Thessaloniki am 20. Juni 2003, Luxemburg 2003, 170 S.

[2] Zentrum für Europäische Bildung (Hrsg.), Die europäische Dimension in Unterricht und Erziehung. Zur Entschließung empfohlen, zur Entschließung angenommen? – Tagungsbericht, Europa Union Verlag, Bonn 1990, 111 S.; vgl. auch: Kerstin Adam / Stephanie Bruel / Andreas Keller / Anne Marschner / Michael Matern u.a.: Europäische Werte. Les valeurs européennes. Ein Bildungsprojekt für Jugendliche - Handbuch für Multiplikatoren, 2008, zur Rezension

[3] Enrique Barón Crespo, Das Doppelgesicht Europas, in: UNESCO-Kurier 7/8/1992, S. 5f

[4] Harald Weinrich, Über das Haben. 33 Ansichten, 2012, zur Rezension

[5] Jeremy Rifkin, Die empathische Zivilisation. Wege zu einem globalen Bewusstsein, 2010, zur Rezension

[6] Jos Schnurer, „Wenn ihr nicht so werdet wie wir, seid ihr unsere Feinde!“, 19.12.2002, zur socialnet Materialie; Mauern sind keine Brücken, 19.09.2013, zur socialnet Materialie; Wie Deutschland zu den Fremden kam, 20.12.2013, zur socialnet Materialie: „Damit Frieden auf der Erde eintreten kann, bedarf es der Fähigkeit eines jeden Menschen, Mitgefühl mit anderen zu haben“, 08.12.2008, https://www.sozial.de <Schnurers Beiträge>; „Rassistisch und fremdenfeindlich ist (nicht), was in der Gesellschaft normal ist, 22.04.2014, dto.; „Kein Mensch kann ein Volk hassen, von dem er mehrere Einzelpersonen zu Freunden hat“, 22.04.2014, dto; Deutschland ist ein Einwanderungsland, 22.04.2014, dto.; Das sehnsuchtsvolle Verlangen der Menschen nach Freiheit: Freiheit, die ich meine, 25.08.2015, dto.; „Angst isst Seele auf“, 25.09.2015; Wer hasst, verliert die eigene Orientierung, 09.10.2015, dto.; „Schauen Sie nicht zu, sondern hin“, 23.10.2015, dto.

[7] Helmut König / Julia Schmidt / Manfred Sicking (Hrsg.): Europas Gedächtnis. Das neue Europa zwischen nationalen Erinnerungen und gemeinsamer Identität, 2008, zur Rezension

[8] Benjamin Drechsel (Hrsg.), Bilder von Europa. Innen- und Außenansichten von der Antike bis zur Gegenwart, 2010, zur Rezension; sowie: Susanne Popp /  Michael Wobring, Hrsg., Der europäische Bildersaal. Bilder, die Geschichte machen, 2013, zur Rezension

[9] Jos Schnurer, Das europäische Klassenzimmer, Teil 1: Unser gemeinsames Haus Europa, in: Schulmagazin 5 bis 10, 1/99, S. 25ff; ders., Teil 2: Europaklassen und Europaschulen, 2/99, S. 35ff

[10] z. B.: Robert-Bosch-Gesamtschule, Bausteine der Schulentwicklung. Qualitätsbereiche und Handlungsfelder, 2. erweit. Auflage, Hildesheim 2008, 67 S; sowie: Binsteiner u.a., Teamarbeit macht Schule. Bausteine der Entwicklung. Die Robert-Bosch-Gesamtschule Hildesheim, Erhard Friedrich-Verlag, Seelze/Velber 2009, 120 S.

[11] BMZ / KMK, Orientierungsrahmen für den Lernbereich Globale Entwicklung, Bonn 2008, 235 S.; vgl. auch: Beate Schnabel / Mariagrazia Bianchi Schaeffer, Hrsg., Das interkulturelle Klassenzimmer. Potentiale entdecken. Anregungen für Lehrerinnen und Lehrer, 2008, zur Rezension

[12] Michael Gehler, Europa. Ideen - Institutionen – Vereinigung, 2010, zur Rezension

[13] Georg Kreis, Hrsg., Babylon Europa. Zur europäischen Sprachlandschaft, 2011, zur Rezension

[14] Gunnar Folke Schuppert / Ingolf Pernice / Ulrich Haltern (Hrsg.), Europawissenschaft, 2005, zur Rezension

[15] Michael Gehler /, Silvio Vietta (Hrsg.), Europa - Europäisierung – Europäistik. Neue wissenschaftliche Ansätze, Methoden und Inhalte, 2009, zur Rezension

[16] Wolfgang Reinhard, Kleine Geschichte des Kolonialismus, 2008, zur Rezension

[17] Maureen Maisha Eggers / Grada Kilomba / Peggy Piesche / Susan Arndt (Hrsg.), Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland, Münster 2005, 550 S.

[18] María do Mar Castro Varela / Nikita Dhawan, Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung, 2015, zur Rezension

[19] Karin Amos / Josef Schmid / Josef Schrader / Ansgar Thiel, Hrsg.,Europäischer Bildungsraum. Europäisierungsprozesse in Bildungspolitik und Bildungspraxis, 2013, zur Rezension

[20] Erhard Busek, Zu wenig, zu spät. Europa braucht ein besseres Krisenmanagement, 2007, zur Rezension; sowie: Hermann Schoenauer, Hrsg., Sozialethische Dimensionen in Europa. Von einer Wirtschaftsunion zu einer Wertegemeinschaft, 2014, zur Rezension

[21] Detlef Altenburg / Lothar Ehrlich / Jürgen John (Hrsg.), Im Herzen Europas. Nationale Identitäten und Erinnerungskulturen, Böhlau-Verlag, Köln / Weimar / Wien 2008, 366 S.

[22] Martin Große Hüttmann / Matthias Chardon / Siegfried Frech (Hrsg.), Das neue Europa, 2008, zur Rezension

[23] Gret Haller, Politik der Götter. Europa und der neue Fundamentalismus, Berlin 2005, 224 S.

[24] Transit Migration Forschungsgruppe (Hg.), Turbulente Ränder. Neue Perspektiven auf Migration an den Grenzen Europas, 2007, zur Rezension; siehe auch: Michael Richter, Fluchtpunkt Europa. Unsere humanitäre Verantwortung, 2015, zur Rezension

[25] R. Geiger, in: Otfried Höffe, Aristoteles-Lexikon, 2005, S. 321ff

[26] z. B.: Ursula Bertels / Irmgard Hellmann de Manrique, Hrsg., Interkulturelle Streitschlichter. Interkulturelle Kompetenz als Schlüsselqualifikation für Jugendliche, 2011, zur Rezension

[27] Ursula Bertels, Einwanderungsland Deutschland. Wie kann Integration aus ethnologischer Sicht gelingen? 2014, zur Rezension

[28] Mehmet Gürcan Daimagüler, Kein schönes Land in dieser Zeit. Das Märchen von der gescheiterten Integration, 2011, zur Rezension

[29] Michael Thoss / Christina Weiss (Hrsg.), Das Ende der Gewissheiten. Reden über Europa, 2009, zur Rezension

[30] Ulrich Menzel, Die Ordnung der Welt. Imperium oder Hegemonie in der Hierarchie der Staatenwelt, 2015, zur Rezension

[31] Helga Haftendorn, Deutsche Außenpolitik zwischen Selbstbeschränkung und Selbstbehauptung, Stuttgart/München 2001

[32] Patrick Schreiner, Außenkulturpolitik. Internationale Beziehungen und kultureller Austausch, 2011, zur Rezension

[33] Kurt Bayertz, Der aufrechte Gang. Eine Geschichte des anthropologischen Denkens, 2013, zur Rezension