„Der Terror wirkt durch das schwarze Gift der Angst“

von Dr. Jos Schnurer
04.09.2016

Collage (JoS / 060816)
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Das Kalkül von Terroristen und Menschenfeinden lautet: Menschen sollen überall Argwohn haben, Angst vor Anschlägen, Gewalt, Selbstmord- und Amok-Attentaten. Aus diesen Szenarien entwickeln sich unkalkulierbare, kaum mehr steuer- und beeinflussbare, fundamentalistische, demokratiefeindliche und  populistische Einstellungen, die in einer Gesellschaft Recht und Ordnung hinwegfegt. Die Zielsetzung von Terroristen: Die Menschen „sollen sich so lange radikalisieren, bis die Gesellschaft keine Gesellschaft mehr ist, sondern das zerfallende Spiegelbild von Hass und Gewalt“[1]. Die Analyse, dass Terror nicht nur von ideologisierten, fundamentischen und salafistischen Mächten kommt, sondern in freiheitlichen, demokratischen Gesellschaften auch im Innern lauert und erzeugt wird, ist erst einmal irritierend. Beim näheren Hinsehen jedoch zeigen sich Einstellungen und Entwicklungen, die Freiheit, Autonomie und Friedfertigkeit entweder als Selbstverständlichkeiten betrachten, und von daher nicht erworben, verteidigt und bewahrt werden müssen – „Das Verlangen nach Sicherheit bringt Trägheit hervor“[2] - zum anderen sind Kenntnisse und Herausforderungen für demokratisches Denken und Handeln in den freiheitlichen Gesellschaften oft nicht ausgeprägt genug[3]. Das Bewusstsein, dass der zôon politikon“, das politische Lebewesen Mensch kraft seiner Vernunftfähigkeit und Sozialität danach strebt, ein gutes Leben für sich und die Menschheit zu erwerben, Allgemeinurteile bilden zu können und in der Lage ist, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, darauf angewiesen ist, friedlich und gerecht mit anderen Menschen zusammen zu leben (Aristoteles). Ein politisches Leben allerdings fällt weder vom Himmel, noch liegt es in den Genen; vielmehr muss es in Erziehung und Bildung, im Alltag wie im gesellschaftlichen Miteinander intellektuell und mühsam erworben werden[4]Am Beispiel des Begriffs „Argwohn“ wird der wissenschaftliche Diskurs um Sicherheit und Unsicherheit, Freiheit und Unfreiheit, Friedfertigkeit und Terrorismus anhand von ausgewählten, im Internet-Rezensionsdienst vom Verfasser besprochener Fachliteratur vorgestellt. Die Betonung ist notwendig, dass die subjektiv hier diskutierte Literatur nur einen kleinen Teil des engagierten, wissenschaftlichen Engagements zur Klärung und Systematisierung von Begrifflichkeiten und Bedeutungswirklichkeiten umfassen kann. Argwohn wird im Wörterbuch als „schlimme Vermutung, Verdacht, Misstrauen“ bezeichnet. Und im etymologischen Wörterbuch (Wasserzieher: Woher? 1963) wird „arg“ aus der mittelhochdeutschen Sprache als geizig, feige, „argirõ  aus dem Angelsächsischen als „earg, dem Langobardischen als „arga“, im Niederländischen als „argwaan“ <Wahn> abgeleitet, in der schwäbischen Mundart jedoch im positiven Sinne als „arg lieb“ benannt. Im rechtsverbindlichen Zusammenhang wird „Argwohn“ als nicht beweiskräftiger oder nicht bewiesener Verdacht verstanden, im polizeilichen Vollzug jedoch kann ein Anfangsverdacht zu weiteren Ermittlungen führen. Im alltäglichen Umgang kann „Argwohn“ Ausgrenzung, Vorurteile und Ächtung bewirken.


Argwohn hat Schwestern:
Angst und Furcht

Angst ist ein Gefühl mit schwankendem Boden. Zum einen wird in den Evolutionstheorien verdeutlicht, dass Angst „eine ursprünglich zum Überleben notwendige Reaktion“ ist; zum anderen wird das Gefühl der Angst als  „verlockende wie bedrohliche Erfahrung menschlicher Freiheit“bezeichnet (Kierkegaard). Meinungsumfragen zeigen auf, dass wir im „Zeitalter der Angst“ leben. In Untersuchungen über die Angstmotive der Deutschen hat das Meinungsforschungsinstitut Emnid festgestellt, dass die Ängste von Jahr zu Jahr zunehmen. Die Forscher unterscheiden dabei zwischen realen Ängsten und der so genannten „Signalangst“. Zur „Realangst“ etwa gehören Ängste vor Krankheiten, vor Unfällen, vor dem Tod, vor Umweltbelastungen, Kriegen, usw., während die rote Ampel vor einem unbeschrankten Bahnübergang, an einer verkehrsreichen Straßenkreuzung uns ein Signal gibt, stehen zu bleiben, um nicht in Gefahr zu geraten. „Angst isst Seele auf“, diese Metapher aus einem Theaterstück von Rainer Werner Fassbinder verdeutlicht die Gefahren und Gefährdungen, wenn Menschen Angst haben. „Angst zeigt uns, was mit uns los ist“, so formuliert es der Soziologe von der Universität Kassel, Heinz Bude. „In Begriffen der Angst fühlt sich die Gesellschaft selbst den Puls“. Angst kennt weder nationale noch soziale Grenzen; diese Einschätzung ist Bestandteil der Systemtheorie von Niklas Luhmann, die Heinz Bude als eine der Referenzen heranzieht, um das Phänomen soziologisch und erfahrungswissenschaftlich zu analysieren. Das Ziel „Freiheit ohne Furcht“ (Bertrand Russel) zu erlangen. Gibt es Auswege aus der Angst? Wenn Angst nicht als psychische Störung auftritt, und deshalb einer professionellen Aufmerksamkeit und Therapie bedarf, sondern als ein gesellschaftliches Phänomen auftritt, dessen Ursachen erkennbar und damit im kommunikativen Prozess zu einer bewältigbaren Herausforderung wird, kommt es darauf an, die Ursachen von Ängsten aufzuspüren und kognitiv und emotional zu bearbeiten. Das ist möglich, wenn es gelingt, die Imponderabilien und Fälschungen zu deuten, wie Ängste gemacht werden. In jedem Fall aber gilt es, ein Bewusstsein zu entwickeln, dass Angst immer persönlich und gesellschaftlich, lokal und global zugleich wirkt; was bedeutet, aktiv und interessiert in die Welt zu schauen und sich als ein Mitglied der Menschheitsfamilie zu verstehen und zu erkennen, dass „die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt bildet“, wie dies in der „globalen Ethik“, der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 proklamiert wird[5].


Argwohn macht dumm und starrköpfig

Es gibt kein Ich ohne ein Du! Die Suche nach dem ontologischen Gefüge des menschlichen Daseins ist ein uraltes Begehren menschlichen Denkens und Forschens, über alle Zeiten hinweg. Die Anthropologie als das Wissen und die Lehre vom Menschen ist zwangsläufig darauf angewiesen, einen Rundblick einzuüben. Denn die Suche nach den Wesenszügen des Menschen muss sich an den vielfältigen physischen und psychischen Grundlagen des anthrôpos, als dem mit Vernunft ausgestattetem Gemeinschaftslebewesen orientieren. Es sind biologische, kulturelle, philosophische und politische Fragen, die in der Anthropologie bedeutsam sind. Die Frage „Was ist der Mensch?“ wird von den verschiedenen Disziplinen unterschiedlich beantwortet. Die Bedeutung, die dabei den jeweiligen Existenz- und Einflusssphären zugeschrieben wird, formt auch das individuelle und kollektive Weltbild. Weil bei der Interaktion zwischen dem Ich und einem anderen immer auch gleichzeitig mehrere Phänomene aktiv sind, kommt es darauf an, auf die Struktur der Person ein besonderes Augenmerk zu lenken, und zwar vornehmlich in Richtung auf „die Intersubjektivität der Person“. Mit dieser Unterscheidung zwischen einem archaischen und einem reflektierten Selbst ergibt sich die Erkenntnis, dass das eine genau so notwendig und unvermeidlich ist wie das andere. Das allerdings ist kein Zufall oder eine Sensation, sondern„Alltag des Daseins, denn wir leben in einer ständigen Verhandlung mit anderen, und der menschliche Umgang verlangt die Einberufung und Zusammenarbeit der verschiedenen Instanzen des Selbst“. Der in Sofia geborene, französische Wissenschaftler Tzvatan Todoro ist einer, der immer wieder über die Tellerränder und Zäune der Humanwissenschaften schaut und denkt. Es ist das philosophische und anthropologische Wagnis, die Conditio humana nicht nur von den Urgründen der Sprach- und Vernunft-, und der sich daraus ergebenden Leistungsfähigkeit des Menschen her zu denken, sondern danach schaut, welche Bedeutung und Wirkungen das Bedürfnis nach Anerkennung im individuellen und gesellschaftlichen Leben der Menschen hat[6].


Gegen Argwohn hilft Autonomie

Der heftige, kontroverse, theoretische und praktische Diskurs in den Sozialwissenschaften über die Formen und Zuschreibungen zum Autonomiebegriff, und in diesem Zusammenhang zu den Modernisierungstendenzen hin zu „flachen Hierarchien“, scheint sich von den Flachgewässern und sumpfigen Gebieten bis zu den Untiefen der Existenznachschau zu vollziehen. Die Paradigmen, wie sie sich zu den Bestandsaufnahmen und Analysen über Freiheit und Gemeinschaft, Normativität und Kritik, Wahrheit und Ideologie, Recht und Subjektivität, Kapitalismuskritik und Klassenkampf und Politische Praxis Hier und Heute darstellen, verweisen ja einerseits darauf, dass mit dem traditionellen Begriff der Autonomie eher Beziehungslosigkeit und Isolation entstehen, die wiederum zu Einschränkungen bei den Ansprüchen für eine autonome Lebensführung führen; andererseits zeigt sich an der Kritik am traditionellen Autonomie-Paradigma, dass sich der Mensch als homo faber durch denkendes Tun erschafft und entwickelt: Kooperation verbessert die Qualität des sozialen Lebens. Darin steckt der Gedanke: Global denken, lokal handeln. So lässt sich Gemeinschaft als ein „Prozess des In-die-Welt-Kommens vorstellen, in dem die Menschen den Wert direkter persönlicher Beziehungen und die Grenzen solcher Beziehungen herausarbeiten“ (Richard Sennet). Die Wissenschaftstheoretikerinnen Martina Franzen und Arlena Jung vom Berliner Wissenschaftszentrum für Sozialforschung und der Soziologe vom Forum Internationale Wissenschaft an der Universität Bonn, David Kaldewey, haben vielstimmige Argumentationen und Reflexionen gesammelt, um die Bedeutung von „Autonomie“ Hier und Heute zu verdeutlichen. Autonomie als einerseits abgeschriebener, überholter, andererseits als aktuell moderner und perspektivenreicher Begriff wird im wissenschaftlichen Diskurs hoch gehandelt. Insbesondere in der Soziologie führen Fragestellungen nach der Bedeutung von Autonomie für soziale Daseinsformen und -existenzen darum, den normativen, öffentlichen Begriffsverwendungen deskriptive und analytische Beschreibungen entgegen zu setzen. Das erfolgt zum einen dadurch, Autonomie als gesellschaftlichen Wert zu definieren; zum anderen aber – und das in zunehmendem, engagiertem Maße – werden Theorie- und Praxisfragen danach gestellt, wie Autonomie konzeptionell gefasst ist und Autonomiegewinne und- verluste empirisch zu ermitteln sind[7].


Aufmerksamkeit vertreibt Argwohn

Im philosophischen und kulturwissenschaftlichen Diskurs werden neuerdings Wertvorstellungen und Markierungen thematisiert, die in der alltäglichen und gesellschaftsrelevanten Praxis eher keine bevorzugte Positionen einnahmen und in der „Jetzt- und Sofort“ – Euphorie vergessen oder vernachlässigt werden; wie z. B. Fragen nach Sinn und Sinnlichkeit, nach Geschichts- und Erinnerungskompetenz, Autonomie, Vertrauen, Religiosität und intellektuelle Redlichkeit, Gelassenheit. Mit dem Begriff der Achtsamkeit wird Fähigkeit bezeichnet, „bewusst hinzusehen oder hinzuhören, anstatt andere zu übersehen oder einfach wegzuhören“. Es ist die Erfahrung mit sich selbst, mit anderen Menschen und mit der Welt, also ein Instrument zur Selbst- und Welterfahrung. In der anthropologischen Betrachtung dieser humanen Tugend kommt zum Ausdruck, dass Aufmerksamkeit Geschehen, Zustand und Disposition ist.. Sie ist auf etwas gerichtet und eingebunden in die menschliche Urfrage: Wer bin ich? Aufmerksamkeit also gründet auf aktive und passive Denk- und Verhaltensweisen, sie bildet sich sowohl im menschlichen Bewusstsein, als auch im Unbewusstem, und sie äußert sich im individuellen und kollektiven Denken und Tun. An der Universität Würzburg gibt es an der Fakultät für Humanwissenschaften das Human Dynamics Centre (HDC). Ziel der Lehr- und Forschungseinrichtung ist, „Grundlagen, Erscheinungsformen und Möglichkeiten der Gestaltung menschlichen Wandels in einem interdisziplinären Rahmen zu erforschen“. Im Juni 2015 fand eine wissenschaftliche Tagung statt, die den Fragen nach der humanwissenschaftlichen Bedeutung des Phänomens „Aufmerksamkeit“ nachgegangen ist. „Gerade in der heutigen postmodernen ‚Sensationsgesellschaft‘ scheint zumindest konzentrierte Aufmerksamkeit immer weiter untergraben und in die Vielfalt ständiger wechselnder neuer Reize diffundiert zu werden“. Aufmerksamkeitsstörungen in den verschiedenen, generationsübergreifenden Situationen führen sowohl zu individuellen Defiziten und behindernden Lebensbewältigungsstrategien, als auch zu gefährlichen, lokalen und globalen gesellschaftspolitischen Entwicklungen. Die intentionale, faktische und gestörte Bedeutung von Aufmerksamkeit ist Grundlage jedes gelingenden und misslingenden, individuellen und kollektiven, lebensweltlichen Zusammenlebens der Menschen. Die sich in den humanwissenschaftlichen Diskursen herausgebildeten Theorien und Handlungsanweisungen verdeutlichen die anthropologische Dimension des Phänomens. Weil „Aufmerksamkeit ( ) nicht nur eine auf Selektion beruhende Orientierung (ermöglicht), sondern ( ) auch ein Indikator für unser motivationales Interesse an bestimmten Gehalten (ist)“, kommt es darauf an, psychologische, philosophische, pädagogische … Aufmerksamkeit darauf zu richten, was Aufmerksamkeit ist, was sie sein kann und ausmacht[8].


Die Mystifizierung der Aggression kann und muss beendet werden.

Ist der Mensch ein Lebewesen, das Macht, Kampf und Gewalt in sich trägt und die Herrschaft über andere Menschen anstrebt, gewissermaßen also ausgestattet mit dem „Gewalt“- Gen? Und geboren mit dem (göttlichen) Auftrag: „Mache dir die Erde und alles was um dich herum und mit dir ist, untertan“? Ist der Mensch eine „Bestie“ oder ein „Gott“? Ein „Mutter-Teresa“-Typ oder ein Tyrann? Ist „Gewalttätigkeit“ ein Überlebensmerkmal? Oder ist der Gegensatz davon, die „Friedfertigkeit“, eine hoffnungslos veraltete und nostalgische Illusion? Angesichts der zunehmenden physischen, psychischen und machtorientierten, politischen und gesellschaftlichen Gewalt auf der Erde? Ist die „Gewaltenteilung“, die in der Demokratie zu den konstitutiven und unverzichtbaren Merkmalen gehört, eine überholte Einrichtung, angesichts der ökonomischen und politischen Zwänge, die in der globalisierten Welt herrschen? Der griechische Philosoph Aristoteles ist sich bei der Frage nicht sicher gewesen, ob das Gewaltsame im Menschen natürlich, also triebbestimmt angelegt oder widernatürlich sei. Und die Adepten und Kontrahenten in der Geschichte haben die Bedeutung der Gewalt, entweder als Aggressionspotential oder als Auswuchs, immer wieder thematisiert, bis hin zu den Fragen, wie mit der Gewalt im 21. Jahrhundert umgegangen werden solle. Der an der Universität Freiburg lehrende Neurobiologe, Arzt und Psychotherapeut Joachim Bauer widerspricht der vorherrschenden Auffassung, dass es einen Aggressionstrieb gäbe, der den Menschen dazu verdamme oder auch leite, Gewalt als Überlebensstrategie auszuüben. Damit leitet er einen grundlegenden Perspektivenwechsel ein, der es lohnt, beachtet zu werden. Er setzt sich kenntnisreich und überzeugend damit auseinander, wie der „Mythos Aggression“ in der Theoriebildung und im gesellschaftlichen und politischen Handeln der Menschen entstanden ist, durch deren Vertreter wie Sigmund Freud, Charles Darwin, Konrad Lorenz und anderen theorietauglich gemacht, experimentell scheinbar bewiesen wurde und sich in Ideologien, wie etwa den Rassentheorien verfestigt und viel Unheil in der Welt angerichtet hat. Mit Hilfe der Neurobiologie weist er nach, dass der Mensch kein „Trieb“-Wesen, sondern „ein in seinen Grundmotivationen primär auf soziale Akzeptanz, Kooperation und Fairness ausgerichtetes Wesen“ ist. Weil es aber weder sinnvoll noch möglich ist, Aggression im menschlichen Dasein abzuschaffen, bedarf es zur Festlegung der „Schmerzgrenze“ der Nachschau, wie in menschlichen Gesellschaften Gewalt akzeptiert und ausgeübt oder geächtet und präventiv dagegen vorgegangen wird; welchen Stellenwert also gesellschaftliche Gleichheit, Gerechtigkeit und soziale Fairness haben[9].


Skepsis ist nicht Argwohn

Der Österreichisch-US-amerikanische Physiker und Philosoph Heinz von Foerster (1911–2002) war als Vertreter des radikalen Konstruktivismus ein gefragter Experte und Vortragender. Foerster hielt beim 14. Weltkongress für soziale Psychiatrie im Frühjahr 1994 in Hamburg den Eröffnungsvortrag, den er, in Anlehnung an das Kongressthema „Abschied von Babylon“ den Titel gab: „Die Magie der Sprache und die Sprache der Magie“. Der junge Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen interviewte von Foerster im Auftrag des Hamburger Abendblatts. Die Ergebnisse des Gesprächs Pörksens mit Foerster erscheinen mit dem Titel: „Ich versuche einen Tanz mit der Welt“. Der Carl-Auer-Systeme Verlag in Heidelberg schlägt daraufhin vor, das Gespräch 1997 am Wohnort von Foerster in Kalifornien fortzusetzen. Daraus entsteht 1998 die erste Auflage des Buches mit dem durchaus irritierenden Titel: „Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners“. 2012 erschien die neunte Auflage. Foersters Forschungen kreisten immer wieder um die Fragen: „Was ist Wahrheit?“, „Wie unterscheidet sich Wahrheit von Unwahrheit?“ und „Wer oder was bestimmt, was Wahrheit ist?“. Er entwickelt das grundlegende Prinzip kypernetischen Denkens, das ankert in er Frage: „Wie gehen wir mit unserer (Um-) Welt um?“. Er kommt dabei zu der Antwort: „So, wie wir sie geschaffen haben!“. Damit bindet er sowohl die „Erdhaftigkeit“ des Menschen (Wolfgang Welsch), als auch die die Unterscheidung zwischen trivialen und nichttrivialen Denk- und Verhaltensweisen in den Prozess der Denk- und Realitätsphilosophie ein: „Kybernetisches Denken ist ... die Idee der Zirkularität“, und damit verschieben sich objektive und subjektive Eindrücke: „Wir sehen nicht, dass wir nicht sehen“[10].


Das Erlebnis der Freiheit:
Mittel gegen Argwohn

Der Mensch als frei und gleich an Würde und Rechten geborenes, mit Vernunft ausgestattetes, zwischen Gut und Böse unterscheidungsfähiges, zur Bildung von Allgemeinurteilen befähigtes und auf die Gemeinschaft mit den Mitmenschen angewiesenes Lebewesen, wie dies in der abendländischen, anthropologischen (aristotelischen) Philosophie zum Ausdruck kommt und in der globalen Ethik der Menschenrechtsdeklaration der Vereinten Nationen proklamiert wird, ist verwiesen auf die Individualität und Selbstbestimmung des menschlichen Daseins. Kaum ein Wert, der die Humanität der menschlichen Existenz ausmacht, wird jedoch in der Geschichte der Menschheit so in Frage gestellt wie der Freiheitsbegriff und durch die (un-)freiheitliche Wirklichkeit konterkariert. Es sind Fragen, die das persönliche und kollektive, das lokal- und globalgesellschaftliche und das physisch-psychologische Menschsein betreffen, wie z. B.: Worin besteht das Erlebnis der Freiheit? - Ist der Wille zur Freiheit naturgegeben oder menschengemacht? - Welche Einflüsse haben individuelle, kulturelle, politische und ideologische Wertvorstellungen? - Bedeutet Freiheit nur Abwesenheit von äußerem Druck oder auch die Anwesenheit von etwas Positivem? - Welche sozialen und ökonomischen Ursachen hat das Streben nach Freiheit? - Kann Freiheit auch zur Last werden? Mit diesen Fragen wird die Janusköpfigkeit des Freiheitsbegriffs deutlich. Denn Freiheitsstreben wird den Menschen weder in die Gene gelegt, noch entsteht es ausschließlich durch soziale und kulturelle Umweltprozesse: „Gesellschaftliche Bedingungen beeinflussen ideologische Erscheinungen vermittels des Charakters. Charakter andererseits ist nicht das Ergebnis passiver Anpassung auf Grund von Elementen, die entweder der menschlichen Natur eingeboren sind, oder als Resultat historischer Entwicklung ihr inhärent werden“ (Erich Fromm). Keine menschliche Gemeinschaft kann ohne Freiheit existieren, will sie sich nicht aufgeben oder darauf verzichten, was Menschsein ausmacht! In kaum einem anderen Existenz- und Sehnsuchtsbegriff verdeutlicht sich die Diskrepanz von Willentlichkeit und Wirklichkeit so wie im Wort und in der Wirkung von Freiheit. Es sind sowohl die unendlichen Weiten und Horizonte, die Freiheit ermöglichen, als auch die von Menschen gebauten Zäune, Mauern und Minenfelder, wie auch die unsichtbaren Wände, die Freiheit einschränken oder verhindern. „Die Freiheit hat für den Menschen generell und für die Moderne im besonderen eine konstitutive Bedeutung“; diese These stellt der Tübinger Philosoph Otfried Höffe an den Anfang seiner Studie über die „Kritik der Freiheit“, ganz im Sinne der abendländischen philosophischen Traditionen, dass ein Nachdenken über sich, Gott und die Welt immer Lebenskunst darstellt und verbunden sein muss mit individueller Identitätsfindung und Gesellschaftskritik. Er erinnert daran, dass die Freiheit keine Erfindung der Moderne ist, wie auch daran, dass es zur Freiheit in d er Moderne keine Alternative gibt. Mit historischen Begründungen und aktuellen Bezügen zeigt Höffe auf, dass der Freiheitsbegriff, soll er für den aufgeklärten Menschen Lebensbedeutung haben, ausdifferenziert werden muss: Freiheit von Naturzwängen - Freiheit in Wirtschaft und Gesellschaft – In Wissenschaft und Kunst – als politische Freiheit – als personale Freiheit[11].


Selbstbestimmung und kritisches Bewusstsein

Gehorsamkeit ist die Unterwerfung des eigenen Willens unter den eines anderen. Die Wortbedeutung „Gehorsam“ unterliegt gesellschaftlichen, kulturellen und ideologischen Bedingungen, wie sich dies in Sprichwörtern, Volksliedern, politischen Programmen, in Theaterstücken und in der Literatur ausdrückt; da wird „militärischer Gehorsam“ vom Soldaten gefordert; das Kind soll den Eltern gehorchen; die Gläubigen von Religionsgemeinschaften sollen die religiösen Gebote befolgen;; von „Gehorsamspflicht“ wird gesprochen, wenn es darum geht, die Gesetze einzuhalten, die für ein Gemeinschaftsleben notwendig sind; und „Kadavergehorsam“ wird bezeichnet, wenn jemand seinen eigenen Verstand und seine Kritikfähigkeit an Regeln abgibt, die andere Autoritäten aufstellen und einfordern. Die Auseinandersetzung mit dem Begriff und die Einstellung muss also differenziert geführt werden: Eine „solidarische Gehorsamkeit“, bei der eigene, egoistische Erwartungshaltungen zugunsten von gesellschaftsförderlichen und demokratischen Zielsetzungen und Perspektiven zurückgestellt werden, ist ohne Zweifel anders zu bewerten, als eine an die herrschende Macht und Ideologie abgegebene Anpassung. Es geht nicht um Anarchie, also um die Ablehnung von Werten und Normen, die für ein friedliches, gerechtes, humanes Zusammenleben der Menschen in einer Gesellschaft und in der Weltgesellschaft unverzichtbar und geboten sind, sondern um den kritiklosen, blinden Gehorsam, der den Menschen zum Werkzeug für Machtausübung degradiert und dadurch zu einer leeren Hülle des Gehorchens macht. Der 1923 in Berlin geborene, 1936 in die USA emigrierte, lange Jahre in der Schweiz lebender und praktizierender und am 20. 10. 2015 gestorbener Psychoanalytiker Arno Gruen, hat sich auch mit der schillernden Tugend des Gehorsams auseinandergesetzt. Er identifiziert das Problem des Gehorsams identifiziert  als einen pathologisch zu bezeichnenden Aspekt unserer kulturellen Identitätsfindung. Mit „Entwicklung und Gehorsam“ verweist er auf die subtilen, bewussten wie unbewussten Einstellungen und Verhaltensweisen, wie sie sich in Erziehungs- und Akkulturalitätsprozessen vollziehen; mit der Suche nach den „Ursachen des Gehorsams“ kommt er zu der Überzeugung, dass sie „unmittelbar mit der Entfremdung verbunden“ sind; Zusammenhang und Zwiespalt von „Autorität und Gehorsam“ zeigt er mit den Begriff der „pathologischen Treue“ auf; mit Verweis auf Staatstheorien, die Machtstrukturen des Gehorsams herausbilden, erklärt er die Strukturen, die zu Unterordnung, Gehorsamkeit und Anpassung fordern und diese sogar erzwingen:  Und er kommt zu der Vision: „Eine bessere Welt wird sichtbar, wenn der verblendete Gehorsam aufgebrochen wird und sich in echte zwischenmenschliche Empathie verwandelt“[12].


Vertrauen und Verlässlichkeit

Den Boden unter den Füßen verlieren; mit diesem Sprichwort kommt zum Ausdruck, dass es im Leben von Menschen selbstgemachte wie schicksalhafte  Situationen gibt, die das Gebäude von Selbstsicherheit, Selbstbewusstsein und Identität ins Wanken bringen. Keinen Boden unter den Füßen zu haben, die Metapher lässt sich sowohl real und menschheitsexistentiell deuten, als auch im metaphorischen und philosophischen Sinn interpretieren. Bodenlos sein heißt, den Halt zu verlieren, sich auf Werte-, Normvorstellungen, Gewissheiten und Gewohnheiten nicht mehr verlassen zu können, und gewissermaßen dem Ausverkauf und den menschengemachten Abhängigkeiten ausgeliefert zu sein. Es wird Zeit, eine „Philosophie des Bodens“ neu zu denken und sich bewusst zu werden: „Achtet, worauf ihr steht, geht – und lebt!“ – diese Aufforderung ist heute nötiger denn je, angesichts der treibenden und getriebenen Veränderungen menschlichen Daseins, lokal und global. Die Kolleginnen, Kollegen, Wegbegleiter und Freunde von Marianne Gronemeyer haben ihr zu ihrem 70. Geburtstag eine Festschrift gewidmet, die sich, in der Lektüre der vielfältigen, individuellen und kulturkritischen Standpunkte, tatsächlich als eine Eingangspforte zu einer „Philosophie des Bodens“ darstellt. Als Schlusswort wird ein Textauszug aus einem Vortrag abgedruckt, den Marianne Gronemeyer am 20. 10. 2010 in der Arche Nebra zu den Stichworten „Die Macht der Bedürfnisse“ und „Das Leben als letzte Gelegenheit“ hielt, mit der Mahnung, dass die Bestrebungen der Menschen, das „unzulängliche Hier und Jetzt aufzubessern“ dahin münde, das Hier und Jetzt dadurch doppelt negiert würde. Denn das ist tatsächlich die Frage, ob das erstrebte „gute Leben“, im aristotelischen Sinn wie in der realen Wirklichkeit, mit einem „Immer-mehr“ erreicht werden kann, oder ob wir Menschen, als Individuen und Menschheit, nicht mehr und mehr den Boden unter unseren Füßen verlieren und dadurch bodenlos werden! Aus Anlass des 70. Geburtstages der Erziehungswissenschaftlerin Marianne Gronemeyer haben Freunde und Weggefährten eine interdisziplinäre Wegweisung vorgelegt, wie dem Verschwinden des Verlässlichen begegnet werden kann[13]. Es ist nicht zuletzt der zunehmende Egoismus, Ethnozentrismus und Narzissmus, der in den Zeiten der Globalisierung Werte wie Vertrauen und Verlässlichkeit vernachlässigt. Der bekannte Spruch „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser!“ zeigt auf, in welchem Dilemma Vertrauenswürdigkeit im Zusammenleben der Menschen steht; aber eben auch, welche individuellen und kollektiven, lokalen und globalen Herausforderungen die Tugend notwendig macht[14]. Weil Narzissten sich in den meisten Fällen selbst zu solchen machen, oder von ihrer Umgebung und den gesellschaftlichen Umständen zu Narzissten gemacht werden, kommt es darauf an, psychologisch, soziologisch, anthropologisch und klinisch nach den Ursachen dieser falschen Identitäts- und Persönlichkeitsbildung Ausschau zu halten[15].


Respekt und Empathie

 „Respekt ist ein knappes Gut“, so der US-amerikanische  Soziologe Richard Sennett. Er stellt fest, dass Autonomie und Abhängigkeit die zwei Seiten derselben Medaille sind. In einer Mischung aus eigenen, prekären Lebensverhältnissen und intellektueller Reflexion entwickelt Sennett „seine“ Schlüsselfrage: „Ungleichheit kann Unbehagen verursachen, und Unbehagen mag den Wunsch auslösen, eine Verbindung herzustellen“; jedoch diese Gefühlkette von Zurückhaltung, dem Unbehagen über die eigenen Privilegien  und dem Wunsch nach Kontakt erschwere die Absicht, jemandem Respekt zu erweisen, der auf der sozialen oder ökonomischen Stufenleiter tiefer stehe als man selbst. Er stellt die spannende Behauptung auf, dass „Abhängigkeit“ ein wichtiges, vielfach unterschätztes und vernachlässigtes soziales Gut sei: “Kümmere dich nicht um mich, ich kann schon selbst für mich sorgen“ – diesem Menschen sollte man die Tür weisen, denn jemand, der andere so wenig braucht, kann unsere Bedürfnisse niemals ernst nehmen! Er bezeichnet die Reformer des Sozialstaates als schlechte Soziologen, weil sie meinten, Arbeit sei eine bessere Grundlage für Selbstachtung als eine monatliche Überweisung aus der Sozialhilfe; damit würde nur die Ungleichheit des Respekts vergrößert und die Kluft zwischen den Sozialhilfeempfängern und der übrigen Gesellschaft vertieft. Daraus entwickeln sich, so Sennett, in flachen, kurzfristig orientierten Organisationen und Institutionen soziale Defizite, die von der Gemeinschaft ausgeglichen werden müssten. Sennets Plädoyer für Respekt knüpft an die Visionen nach einer „lebendigen Demokratie“, nach Zivilcourage und Mut im Alltag an. Er plädiert für eine Alternative, mit der eine Gesellschaft die Menschen befähigt wird, den Respekt der anderen zu gewinnen – nämlich den anderen etwas zurück zu geben[16]. Die Philosophin Martha Nussbaum spricht sich dafür aus: Gerechtigkeit braucht Liebe! Stabilität ist ohne ein emotionales Engagement nicht möglich! Das Streben nach Gerechtigkeit geht mit Unvollkommenheit einher! Sie steigt damit nicht auf das Podest oder auf die Kanzel und predigt „permanent echte Gefühle“, sondern „nur, dass genügend Menschen in einem genügend großen Zeitraum genügend empfinden“. Sie weist darauf hin, dass Emotionen sind nicht nur Affekte und Gemütsbewegungen sind; sie sollen vielmehr bestimmt werden von Einschätzungen und Bewertungen. Diese Zuschreibung berührt die ganze Tragweite des philosophischen Nachdenkens über Rationalität und Emotionalität. In der griechischen Philosophie wird „pathos“ als Widerfahrnis und Affekt bezeichnet, „was einem widerfährt“ und „was man erleidet“, also als negative und positive Vorgänge, wie etwa Begierde, Zorn, Furcht, Mut, Neid, Freude, Zuneigung, Hass, Sehnsucht Eifersucht und Mitleid benannt, oder als Affekte, Sanftmut, Scham, Freundlichkeit als Tugenden und Verhaltensweisen bezeichnet. Sie ermuntert dazu, nach neuen Stellschrauben, Denk- und Verhaltensmodellen Ausschau zu halten und den Anschluss an eine „globale Ethik“ zu suchen, wie sie in der allgemeingültigen und nicht relativierbaren Menschenrechtsdeklaration, der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948, formulert und der Menschheit aufgegeben ist: „Die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte bildet die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt“[17].


Risiko: Alltägliche Herausforderung und Gefährdung

Menschliches Leben vollzieht sich im Spannungsfeld von Wagnis  und Vorsorge und ist fokussiert darauf, dass „moderne Gesellschaften … ( ) vor der Frage (stehen), wie und in welchen Formen das Verhältnis Risiko – Sicherheit neu bestimmt und auf soziale, rechtliche und politische Weise neu arrangiert werden kann“. An der Berliner Humboldt-Universität hat das Forschungsprojekt „Sicherheit & Risiko“ eine Reihe von Aspekten und Aufmerksamkeiten zutage gefördert, die es verdienen, sowohl im individuellen, als auch im lokal- und globalgesellschaftlichen Leben beachtet zu werden. Die Forscher verweisen darauf, dass im öffentlichen Diskurs die Begriffe allzu separat und ultimativ herausgestellt werden; es sei viel sinnvoller, Augenmerk auf die Rahmenbedingungen zu richten, unter denen Sicherheit und Freiheit zueinander in Beziehung treten.. Die Freiheit des Einzelnen müsse dabei im Einklang gebracht werden mit der Freiheit eines jeden Anderen, genau so wie die Freiheit eines Jeden mit der Sicherheit eines jeden Anderen. Risiko als individuelle, gesellschaftliche, politische und soziale Gefährdung macht es notwendig, die Aufmerksamkeit darauf zu richten, „wie und in welchen Formen das Verhältnis Risiko – Sicherheit neu bestimmt und auf soziale, rechtliche und politische Weise neu arrangiert werden kann“[18]. Beim Versuch, Risiken zu erkennen, einschätzen und mit ihnen umgehen zu lernen, bietet sich dabei zum einen die wissenschaftliche Analyse an, mit der etwas festgestellt und bewertet wird, um die Diagnose in einem Gutachten, einem Regelwerk, einem Gesetz oder einer Handlungsanweisung umzusetzen; oder (und) das Wagnis einzugehen, sich bei einem gemeinsamen Entdeckungsprozess und Dialog auf die Suche nach der individuell und gesellschaftlich passenden und adäquaten Risikokompetenz zu begeben. Der Psychologe, Direktor des Berliner Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung und des Harding-Zentrums für Risikokompetenz, Gerd Gigerenzer, macht sich auf den Weg, anhand von einleuchtenden, eher alltäglich erscheinenden Beispielen und Erfahrungen aufzuzeigen, dass jeder den Umgang mit Risiko und Ungewissheit lernen kann, Experten(meinungen) eher ein Teil des Problems als die Lösung sind und weniger mehr ist, wenn es um die Frage nach Problemlösungen geht. Es sind nämlich die Ungewissheiten, Imponderabilien und Paradoxien, die eine Verwechslung von Logik und Leben provozieren[19]. Wie kann man Risikokompetenz in die Köpfe und Herzen der Menschen bringen? Nicht mit einem Zauberstab; auch eher nicht mit einem weltweit ausgestrahlten Computerprogramm; schon gar nicht durch Verordnungen. Hier ist die Erziehung gefragt, in der Familie, im Kindergarten und in der Schule, und zwar wieder mit einem scheinbar simplen Rat: Fürs Leben lernen! Nicht mit autoritären, frontalen und paternalistischen Konzepten und Methoden: „Dazu brauchen wir Mut, den Mut, selbständige Entscheidungen zu treffen und Verantwortung zu übernehmen“[20].


Fazit

Die Feststellung, dass sich in den menschlichen Gesellschaften „Epidemien des Argwohns“ ausbreiten und sich dabei weniger Sicherheit, Selbstbewusstsein und Gelassenheit bilden, sondern mehr Hysterie und Misstrauen entstehen und die Gefahr besteht, dass nicht Demokratie sondern Diktatur, nicht Solidarität sondern Egoismus, nicht Friedlichkeit sondern Feindschaft, nicht Ordnung sondern Chaos, nicht Menschlichkeit sondern Unmenschlichkeit entstehen, stand am Anfang der Informationen über den lokalen und globalen gesellschaftlichen Diskurs über den Zustand in der Welt. Es gilt die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, dass Argwohn erzeugende Einstellungen und Verhaltensweisen nicht vom „Bösen draußen“ kommen, sondern in uns sind, individuell und gesellschaftlich. Kontakt zum Autor:
Dr. Jos Schnurer
Immelmannstr. 40
31137 Hildesheim
Tel: 05121 59124
E-Mail: jos2@schnurer.de


[1] Thomas Assheuer, Epidemie des Argwohns, in: DIE ZEIT (Feuilleton), Nr. 32 vom 28. 7. 2016, S. 37
[2]
Hans Hoch, Hrsg., Sicherheiten und Unsicherheiten. Soziologische Beiträge, 2014, https://www.socialnet.de/rezensionen/18195.php
[3]
Patrick Bahners, Die Panikmacher. Die deutsche Angst vor dem Islam, 2011, https://www.socialnet.de/rezensionen/11268.php
[4]
Hans Berkessel / Wolfgang Beutel, Hrsg., Demokratiepädagogik und Rechtsextremismus. Jahrbuch Demokratie-Pädagogik 3, 2015, https://www.socialnet.de/rezensionen/18742.php
[5]
Heinz Bude, Gesellschaft der Angst, 2014, https://www.socialnet.de/rezensionen/18499.php
[6]
[6] Tvetan Todorov, Abenteuer des Zusammenlebens. Versuch einer allgemeinen Anthropologie, 2015, https://www.socialnet.de/rezensionen/20386.php
[7]
Martina Franzen, u.a., Hrsg., Autonomie revisited. Beiträge zu einem umstrittenen Grundbegriff in Wissenschaft, Kunst und Politik, 2014, https://www.socialnet.de/rezensionen/17917.php
[8]
Jörn Müller, u.a., Hrsg., Aufmerksamkeit. Neue humanwissenschaftliche Perspektiven, 2016, https://www.socialnet.de/rezensionen/21112.php
[9]
Joachim Bauer, Schmerzgrenze. Vom Ursprung alltäglicher und globaler Gewalt, 2011, https://www.socialnet.de/rezensionen/12108.php; sowie: ders., Selbststeuerung. Die Wiederentdeckung des freien Willens, 2015, https://www.socialnet.de/rezensionen/18891.php
[10]
Heinz von Foerster / Bernhard Pörksen, Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. Gespräche für Skeptiker, 2011, https://www.socialnet.de/rezensionen/13980.php
[11]
Otfried Höffe, Kritik der Freiheit. Das Grundproblem der Moderne, 2015, https://www.socialnet.de/rezensionen/19467.php
[12]
Arno Gruen, Wider den Gehorsam, 2014, https://www.socialnet.de/rezensionen/17742.php
[13]
Charlotte Jurk / Reimer Gronemeyer, Hrsg., Bodenlos. Vom Verschwinden des Verlässlichen, 2011, https://www.socialnet.de/rezensionen/10750.php
[14]
Ute Frevert, Vertrauensfragen. Eine Obsession der Moderne, 2013, https://www.socialnet.de/rezensionen/16572.php
[15]
Werner Berschneider, Wenn Macht krank macht. Narzissmus in der Arbeitswelt, 2011, https://www.socialnet.de/rezensionen/11203.php
[16]
Richard Sennett, Respekt im Zeitalter der Ungleichheit, 2004, https://www.socialnet.de/rezensionen/1692.php
[17]
Martha Craven Nussbaum, Politische Emotionen. Warum Liebe für Gerechtigkeit wichtig ist, 2014, https://www.socialnet.de/rezensionen/17720.php
[18]
Herfried Münkler, Hrsg., Handeln unter Risiko. Gestaltungsansätze zwischen Wagnis und Vorsorge, 2010, https://www.socialnet.de/rezensionen/10384.php
[19]
siehe auch: Fritz B. Simon, Wenn rechts links ist und links rechts. Paradoxiemanagement in Familie, Wirtschaft und Politik, 2013, www.socialnet.de/rezensionen/14542.php
[20]
Gerd Gigerenzer: Risiko, Wie man die richtigen Entscheidungen trifft, 2013, https://www.socialnet.de/rezensionen/15271.php