Das Individuelle und das Kollektive

von Dr. Jos Schnurer
17.12.2018

Collage: Dr. Jos Schnurer
Bild anklicken zum Vergrößern

Inhalt
  1. Wer bin ich?
  2. Die Repräsentation bin Ich
  3. Kollektivitätsverständnis
  4. Vitalität als individuelle und kollektive Lebenskraft
  5. Persönlichkeitsentwicklung
  6. Selbststeuerung = Selbstfürsorge + Selbstkontrolle 
  7. Tugenden und ihre Fallstricke
  8. Perspektivenwechsel
  9. Haben und/oder Sein?
  10. „Gleichheit in der Differenz – Differenz in der Gleichheit“
  11. Vorurteile und Stereotypen
  12. Sinnlichkeit braucht Transzendenz
  13. Aufrechter Gang
  14. „Crisis and Collapse“
  15. Freiheit ist nicht nur ein Wort
  16. Frieden = Gemeinschaft  = Friedenskultur + Menschlichkeit 
  17. Zeugnisse der Menschlichkeit
  18. Globale Verantwortung
  19. Zivilcourage: Demokratische Grundtugend und bedachter Mut
  20. Wir brauchen eine politische Alphabetisierung!
  21. Homo faber
  22. Singularitäten oder Kollektivitäten?
  23. Fazit

Bereits in der antiken griechischen Philosophie wird zum Ausdruck gebracht, dass der anthrôpos, der Mensch, ein individuelles, einzigartiges, unverwechselbares  und unteilbares (atomon) Lebewesen ist, das aber zur Existenz und zur Erfüllung seines Lebenszwecks, nämlich ein gutes, gelingendes, humanes Leben zu führen, die Mitmenschen braucht.

Über die Jahrtausende hinweg hat es im philosophischen und anthropologischen Denken und Handeln immer wieder Versuche gegeben, die Konstellation – Individualität und Kollektivität – entweder voneinander abzugrenzen oder miteinander zu verbinden. Wilhelm von Humboldt, Fr. Schlegel, Kierkegaard, Nietzsche, Heidegger, Adorno und andere haben sich mit der emotionalen und rationalen Bedeutung des Individualbegriffs auseinandergesetzt und dessen Vor- und Nachteile diskutiert, den Verlust von Individualität bedauert, oder auch vor ihm gewarnt. Goethe etwa schreibt in den „Biographischen Einzelheiten“, dass das Individuum verloren gehe, das Andenken desselben verschwinde, „und doch ist ihm und andern daran gelegen, dass es erhalten werde“; denn: „Jeder ist selbst nur ein Individuum, und kann sich auch eigentlich nur fürs Individuelle interessiren. Das Allgemeine findet sich von selbst, dringt sich auf, erhält sich, vermehrt sich“. Er setzt auf das Individuelle, bedauert aber: „Wir benutzen’s, aber wir lieben es nicht“[1]. Es war insbesondere in der Zeit der (europäischen) Aufklärung, auf der einen Seite die Bedeutung des Individuellen hervorzuheben, andererseits das Notwendige des Kollektiven, Gemeinsamen der Menschheit zu betonen. In der „globalen Ethik“, der von den Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 proklamierten Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, verbindet sich das Individuelle mit dem Kollektiven, wenn es in der Präambel heißt: „Die Anerkennung der allen Mitliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte bildet die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt“[2].

Es sind die Egoisten, Egozentriker und Egomanen, die das schöne Bild vom Individualisten stören. Sie kommen nicht selten daher als Diktatoren, Alleinbestimmer und Narzissten, die den Egoismus zum System und zum Machtsymbol erheben, wie die Trumps, Putins, Erdogans, Kims und andere heute. Der Journalist der Wochenzeitung DIE ZEIT, Michael Thumann, bezeichnete das „System Putin“ als eine Politik und Macht, der es gelingt, das Kollektiv auszuschalten[3]. Kollektivisten fühlen sich eher dem Gemeinwohl als dem Eigenwohl verpflichtet. Extreme Ausprägungen des Kollektivismus zeigen sich in Gesellschaftsformen wie dem Kommunismus und können ebenfalls diktatorische Züge annehmen.      

In allen menschen- und lebensbejahenden Theorien, Konzepten, Programmen und Konstitutionen wird eines deutlich: Individuelles und kollektives Denken und Verhalten der Menschen fällt weder vom Himmel, liegt nicht in den Genen und darf auch nicht per Ordre du Mufti verfügt werden. Es muss in humanen, anthropologischen und pädagogischen Prozessen erworben werden. Bildung ist das Zauberwort! In den folgenden Annotationen wird  der neuere, wissenschaftliche Diskurs zu den Zwillings- und Gegensatzpaaren aufgezeigt. Der Autor beschränkt sich dabei auf die Literatur, die er im Internet-Rezensionsdienst www.socialnet.de vorgestellt hat. Es handelt sich deshalb um eine subjektive und natürlich weit unvollständige Auswahl. Es besteht jedoch der Anspruch, den wissenschaftlichen Diskurs  in den Hauptlinien abzubilden. 

Wer bin ich?

 „Alles Interesse meiner Vernunft (das speculative sowol als das praktische) vereinigt sich in folgenden drei Fragen: Was kann ich wissen? Was soll ich thun? Was darf ich hoffen?“ – so bringt Immanuel Kant die Herausforderungen im „Zeitalter der Kritik“ in seinem Hauptwerk „Kritik der reinen Vernunft“ (1781) auf den Punkt. Die (richtige) Beantwortung dieser Fragen könne dazu beitragen, die entscheidende Erkenntnis darüber, „Was ist der Mensch?“, zu gewinnen. Das abendländische Denken, die Bestimmungen über Identität, Moral und Dasein, leiten sich von der Frage: „Wer bin ich?“ ab – ob man will oder nicht, ob es einem bewusst ist oder nicht, ob man diese Suche nun philosophisch, existentiell oder einfach nur alltäglich nennt. Dem erkennenden, existenziellen „ego sum“ – Ich bin – muss ja eine Selbst- und Welterkenntnis vorausgehen; das heißt, dass die Frage nach dem „Wer bin ich?“ einschließen muss die Frage nach dem: „Wer sind die anderen?“.

Philosophen haben sich darüber zu allen Zeiten des menschlichen Denkens und Sinnens Gedanken gemacht, haben darüber gestritten und Gemeinsamkeiten definiert. Und doch, so stellt der Philosoph Richard David Precht fest, fehlt bis heute, trotz der vielen gelehrten Gedanken und Reflexionen, das Bemühen, „das systematische Interesse an den großen übergreifenden Fragen“ nicht nur in den Gelehrtenstuben zu diskutieren, sondern an den Mann, die Frau, das Kind zu bringen. Eine existenzielle Standortbestimmung bedarf der zeitlichen und räumlichen Vergewisserung. Der Autor wendet dazu die intelligente Methode an, dass er die jeweiligen Fragen, wie – Woher kommen wir? Wer ist ich? Wer sind wir? Was ist Wahrheit? Was sind Gefühle? ... Gedächtnis? Sprache? – Orten und Landschaften zuordnet, die in der Menschheitsgeschichte eine besondere Bedeutung gewonnen haben: Sils Maria, um Friedrich Nietzsche ins Spiel zu bringen; Hadar, um die Entstehung der Menschen zu diskutieren; Madrid, um sich auf die Spuren der rationalen Psychologie zu begeben; Wien, um den Zusammenhang von körperlichen Empfindungen und geistiger Vorstellung zu verdeutlichen.  In der gleichen Weise begibt er sich auf die Entdeckungsreise wie: „Brauchen wir andere Menschen? und den vielfältigen Aspekten der Moral und der, ob der Mensch, etwa in der Gehirnforschung, in der Gentechnik, usw., alles tun darf, was er kann; wie schließlich auch nach den Fragen aller Fragen, wie "Gibt es Gott?", "Was ist Liebe?", "Was ist Freiheit?" oder "Was ist ein glückliches Leben?".

Es ist weder zu erwarten noch möglich, die einzigen, richtigen Antworten darauf zu finden; vielmehr hält es Precht eher mit dem Zauberer Dalben in Lloyd Alexanders Prydain Chronicles: „Oft ist die Suche nach der Antwort wichtiger als die Antwort selbst“. Das ist wohl das Geheimnis, wenn man sich auf die Suche nach dem "Ich" begibt: Fragen lernen, sich fragen trauen, neugierig auf sich, die Mitmenschen und die Welt zu sein und Respekt zu haben vor sich, den anderen Lebewesen und der Natur[4]

Die Repräsentation bin Ich

Die missverständliche Metapher bedarf der Erläuterung: Als Repräsentation wird in der Erkenntnistheorie die Darstellung, Abbildung oder Vorstellung einer Gesamtheit durch ein Einzelnes verstanden, als mentale Vergegenwärtigung von etwas nicht Gegenwärtigen[5]

Im Zusammenspiel von Philosophie, Psychologie und den Kognitionswissenschaften werden Repräsentationen als Spiegelungen und innere Vorstellungen von etwas, was der Mensch im Geist wahrnimmt, verstanden, als Teile von Erinnerungen der Wahrnehmung vom "Ich" und der Beschreibung der Vorgänge, die sich bei Sinnesreizen im Gehirn vollziehen. Es ist letztlich die Frage nach der Vorstellungskraft und –fähigkeit des Menschen angesichts seiner Selbstwahrnehmung. Der Mainzer Philosoph Thomas Metzinger setzt sich mit dem Phänomen auseinander, dass all das, was wir mit unseren Sinnesorganen sehen und hören, ertasten und erfühlen, riechen, schmecken…, nur ein Bruchteil dessen ist, was wirklich in unserer Umwelt passiert und existiert. Bewusstes Erleben gleicht einem „Tunnel“. Das Schlagwort für seinen Buchtitel ist erfunden: „Ego-Tunnel“. Und das Ego, von dem wir meinen, es sei unser „Selbst“, ist nichts anderes als „ein transparentes mentales Bild“, das uns ein Bild von der Wirklichkeit spiegelt. Denn in Wirklichkeit existiert so etwas wie „das“ Selbst gar nicht. Das ist die über die Maßen aufregende, beunruhigende und neue Betrachtung unserer „Gewissheiten“, wenn auch mit der tröstlichen Ankündigung, dass der Ego-Tunnel kein Gefängnis und auch kein Irrgarten sei; vielmehr ist das Bewusstsein  das Erscheinen einer Welt, und zwar sowohl als Teil der Welt, als auch ihr Bestand(teil). Es vermag den Menschen in einer besonderen Weise und mit unterschiedlichen Erscheinungsformen die Welt, also seine Wirklichkeit präsentieren und gewissermaßen situieren.

Wenn wir davon ausgehen, dass diese wahr genommene Wirklichkeit nur eine simulierte „in unserem Gehirn ist und dass das Gefühl des Daseins selbst ein Teil dieser Simulation ist“, dann benötigen wir, um eine (neue) Theorie des Bewusstseins zu entwickeln, eine Reflexion in sechs Schritten dazu:

1. die Frage nach der Einheit des Bewusstseins – das Eine-Welt-Problem;
2. die Betrachtung des Rätsels, wie das Erscheinen eines gelebten Moments bewusst werden kann – das Jetzt-Problem;
3. die Frage, warum wir als naive Realisten geboren wurden – das Wirklichkeitsproblem;
4. die Frage danach, worüber wir niemals sprechen können – das Problem der Unaussprechlichkeit;
5. die Frage, wozu Bewusstsein notwendig war – das Evolutions-Problem;
6. die Frage nach der Entität, die bewusste Erlebnisse in Wirklichkeit hat – das Wer-Problem[6]

Kollektivitätsverständnis

Im philosophischen und gesellschaftswissenschaftlichen und -kritischen Denken wird die Spannweite zwischen distributiven und kollektiven Einstellungen immer wieder kontrovers diskutiert. Während die zuerst genannte Haltung, abgeleitet vom lateinischen distributive – jedem Einzelnen für sich – der individualisierte und eher egoistische Gedanke zugrunde liegt, wird „collective“ verstanden als „alle zusammen genommen“. Ein Kollektivbewusstsein wird demnach von der „politeia“, die eine rechtlich-soziale, ökonomische und sittliche Ordnung in einem Gemeinwesen ermöglicht, bestimmt. Diese Perspektivenerweiterung provoziert gleichsam eine Reihe von Fragen zur Beziehungshaftigkeit des Subjekts: „Inwiefern lässt sich das Eingewobensein in soziale Bezüge in einem stärkeren Sinn als Form kollektiver Bindung verstehen?", "Um welche Art von Kollektiven handelt es sich dabei?" oder "In welchem Verhältnis stehen derartige Kollektivitätsverständnisse zu jenen, die in der feministischen Intersektionalitätsdiskussion eine Rolle spielen?".

Wenn das eine Subjekt im Vielen seiner Beziehungen aufgeht, wenn das einheitliche Selbst einer Vielzahl von Stimmen weicht, muss dann nicht in einem neuen Anlauf diese Pluralität selbst zum Untersuchungsgegenstand werden?“. Diese Fragen stellen sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus den interdisziplinären Bereichen der Politischen Theorie, der Politischen Philosophie, der Sozialtheorie, der Rechtstheorie, der Soziologie, der Literatur- und Kultur-, der Erziehungs- und Religionswissenschaften. Sie setzen sich im wissenschaftlichen Diskurs damit auseinander, wie „sich Gemeinschaften denken lassen und wie Kollektivität vorgestellt werden kann, wenn die scheinbar zentrale Kategorie zur Vergemeinschaftung, die Kategorie der Identität, zum kritischen Projekt geworden ist“. Die vielfältigen, interdisziplinären, auch kontroversen Zugänge zu Fragen und Entwicklungen im wissenschaftlichen Kollektivitätsdiskurs nehmen die Tatsache auf, dass Formen von Kollektivität in nahezu allen Lebenslagen und gesellschaftlichen Bezügen der Menschen wirksam sind. Die Frage, „wie sich Gemeinschaften denken lassen und wie Kollektivität vorgestellt werden kann, wenn die scheinbar zentrale Kategorie zur Vergemeinschaftung, die Kategorie der Identität, zum kritischen Projekt geworden ist“, lässt sich weder als Ordre Mufti noch als Ideologie beantworten. Mögliche Antworten und Lösungsansätze ergeben sich jedoch im interdisziplinären Dialog[7]

Vitalität als individuelle und kollektive Lebenskraft

Vital sein bedeutet im Umgangssprachlichen lebendig und aktiv sein, und zwar zuvorderst im körperlichen Sinn. Erst mit dem zweiten Schritt wird dabei die geistige Vitalität als ein Merkmal der psychischen Verfasstheit des Menschen gewissermaßen als intellektuelle Wachheit aufgefasst. In der Einschätzung der Menschen zueinander und im Umgang miteinander, real und als ferne, fiktionale und virtuelle Wahrnehmung, manifestiert sich Vitalität als Augenschein und (Vor-)Urteil. Aus den Heilslehren des 18. und 19. Jahrhunderts kennen wir den Begriff der vis vitalis, der „Lebenskraft“, die sich als eine erhaltende, immer wieder neu bildende Kraft entwickelt, und bis heute, etwa in der Homöopathie, verwendet wird. „Lebenskraft“ als philosophische und existentielle Verortung, kennen auch andere Kulturen, etwa die afrikanischen mit „muntu“ und „Sages“, wie auch asiatische und lateinamerikanische. Der US-amerikanische Entwicklungspsychologe und Psychoanalytiker Daniel N. Stern greift den Aspekt der psychischen menschlichen Entwicklung auf, die sich als Kraft oder Stärke im humanen Dasein manifestiert. Er betrachtet dabei die miteinander zusammenhängenden dynamischen Vorgänge: Bewegung, Zeit, Kraft, Raum, Intention/Gerichtetheit, identifiziert sie als „Vitalität“ und fragt, warum es wichtig ist, die verschiedenen, dynamischen Vitalitätsformen gründlich(er) zu erforschen; und zwar mit dem Blick auf neuere neurowissenschaftliche Fragestellungen. Weil Vitalitätsformen immer Inhalte transportieren, etwa Emotionen, Gedankengänge, körperliche und mentale Bewegungen - und damit eine Dynamik in Gang setzen – ist es wichtig danach zu fragen, wie die neuronale Infrastruktur beschaffen ist, die das Erleben von Vitalitätsformen ermöglicht. Im Zeitalter des kulturellen „prinzipiellen Polyglottismus“ (Juri Lotman) ist es angezeigt, auch diejenigen psychischen, vitalen Ausdrucksformen näher zu betrachten, die sich umgangssprachlich, scheinbar spontan und ungerichtet aufdrängen, etwa, wenn ein Gedanke auf einen „hereinbricht“ oder „aufscheint“, „sich nach und nach entwickelt“ oder „blitzartig überfällt“. Der Autor beschreibt die Bedeutung und den Stellenwert von vitalen Erlebnisformen für die Psychologie, den Künsten, der Psychotherapie, der Kinderentwicklung und den Neurowissenschaften und zeigt neue Zusammenhänge und Forschungsansätze auf[8].

„cogito ergo sum“ 

Ich denke, also bin ich - diese Allerweltsweisheit ist ja nichts anderes als die Aufforderung und Herasusforderung, über sich selbst, das eigene Dasein und die Eingebundenheit in die Umwelt sicz bewusst zu werden. Dadurch zeigt sich unser Bewusstsein als Bestandteil des individuellen und kollektiven, kulturellen und sozialen Geistes: „Ohne Bewusstsein ist die persönliche Sichtweise aufgehoben, wir wissen nichts von unserer Existenz, und wir wissen auch nicht, dass irgendetwas anderes existiert“. Es sind philosophische, intellektuelle Fragen. Die Antworten darauf stellen sich als Selbstverständlichkeiten wie Überraschungen und Entdeckungen dar.

Wie aber entsteht unser Bewusstsein? Auch auf diese Frage gibt es philosophische Antworten und Vermutungen. Eine der Antworten lautet: Aus unserem bewussten Geist. Was aber unser Geist ist, lässt sich wiederum nicht messen und schon gar nicht anschauen; denn unseren Geist spüren wir nur selbst aus unserem Innern heraus. Die Vermutung, dass unser Geist in unserem Gehirn entsteht, ruft – neben den Philosophen – diejenigen auf den Plan, die unser Gehirn als ein Organ kennen: Die Neurologen und Psychologen. Der portugiesische Neurowissenschaftler von der University of Southern California, António R. Damásio, setzt sich in seinem Buch „Selbst ist der Mensch“ mit zwei spannenden Fragen auseinander: „Wie baut das Gehirn einen Geist auf?“ und „Wie sorgt das Gehirn in diesem Geist für Bewusstsein?“. Damasios Forschungen zum Bewusstsein gehen auf Konfrontation zu der bisherigen, durch Descartes überkommenen Postulate, dass es eine Trennung zwischen Körper und Geist gebe; er geht vielmehr davon aus, dass ein konstitutiver Zusammenhang zwischen Körper und Geist bestehe und sich die Eigenschaften ständig gegenseitig beeinflussten. „Das Geheimnis des Bewusstseins“, sagt Antonio Damasio, „ist nach wie vor ein Geheimnis, auch wenn wir ein wenig weiter vorgedrungen sind“. Der Autor liefert mit seiner Arbeit über Körper, Geist und Entstehung des menschlichen Bewusstseins einen wichtigen Baustein für ein Bewusstsein des Selbst. Der bewusste Geist wächst aus der Geschichte der Lebenssteuerung, was bedeutet, dass das Individuum in der Lage ist, Bewusstsein als dynamischen Prozess wahrzunehmen und zu verstehen[9].

Persönlichkeitsentwicklung

In der philosophischen Anthropologie, der Sozialisations-, Bindungs- und Hirnforschung haben Fragen nach der Bildung, den Sozialisations- und Veränderungsprozessen der Persönlichkeitsentwicklung einen bedeutsamen Stellenwert. Den Vorstellungen, dass Persönlichkeit gewissermaßen „naturwüchsig“, also „biologistisch“ entstehe, stehen Auffassungen gegenüber, die „den Prozess der Menschwerdung des Menschen… als einen ergebnisoffenen und dynamischen“ betrachten. Es sind uralte, anthropologische, philosophische, neuronale, pädagogische und gesellschaftspolitische Fragen nach Vorbestimmtheit, Veränderbarkeit, Formbarkeit, Anlage und Vererbung, Begabung, Chancen und Risiken bei der Persönlichkeitsentwicklung des Menschen. Sozialisation vollzieht sich im gesellschaftlichen Raum und wird wesentlich mitbestimmt von den sozialen Bedingungen, bei denen Menschen aufwachsen. Sie lassen sich sowohl wissenschaftlich als auch ideologisch beantworten. Damit letzteres nicht Überhand in den Denk- und Verhaltensweisen, den Macht- und Moralvorstellungen der Menschen nimmt, kommt es darauf an, die Möglichkeiten „als Entfaltung seiner geistig-seelischen Anlagen, ferner als Ausformung seiner Moral und seines Gewissens, als Entwicklung seiner Urteilsfähigkeit und seiner Handlungskompetenz“ zu erkennen.

Der Münsteraner Anthropologe und Pädagoge Johannes Schwarte nimmt die Gedanken zum Zusammenhang von Persönlichkeits- und Gesellschaftsentwicklung auf, die er in seinem 2002 erschienenem Buch „Der werdende Mensch“ thematisiert hat. Inwieweit sich in diesem vor mehr als einem Jahrzehnt formulierten Grundlagen die individuellen und gesellschaftlichen, lokalen und globalen Bedingungen ge- und verändert haben, wird nachgefragt – und zudem festgestellt, dass die Zusammenhänge nach wie vor im öffentlichen Bewusstsein unterrepräsentiert und defizitbehaftet sind. Mit dem Ziel einer „anthropologischen Aufklärung“ und gegen „anthropologische Ignoranz“ breitet Johannes Schwarte in seiner Analyse zur „Plastizität des Menschen“ die Bandbreite des wissenschaftlichen, anthropologischen Diskurses aus. Die Forderung, eine anthropologische Grundbildung und Aufklärung müsse integraler Bestandteil einer elementaren Grundbildung und Erziehung sein, wäre in das gesellschaftliche Tagebuch zu schreiben. „Es geht dabei um Erkenntnisse über den Geburtszustand des Menschen, über die Ergebnisoffenheit und ‚Riskanz‘ des Persönlichkeitsentwicklungsprozesses sowie über die gesellschaftliche Bedingtheit dieses Prozesses; ferner um Erkenntnisse der Bindungsforschung über die Bedeutung einer stabilen Mutter-(Vater? JS)Kind-Beziehung, um Erkenntnisse der Hirnforschung über die Plastizität des Gehirns und die Beeinflussung der frühkindlichen Hirnentwicklung durch das Sozialisationsmilieu sowie schließlich um Erkenntnisse der Moralisationsforschung über den Prozess der Aneignung von Werten, der Entwicklung einer individuellen Moralität und eines persönlichen Gewissens im Verlauf des Sozialisisationsprozesses“. Mit dem Plädoyer für eine Dynamisierung des christlichen Menschenbildes formuliert der Autor schließlich einen „Entwurf einer offenen und imperativen Anthropologie“, mit dem Ziel: „Der menschliche Mensch in einer humanen, der menschlichen Würde angemessenen Gesellschaft“[10].

Selbststeuerung = Selbstfürsorge + Selbstkontrolle 

In der Ratgeberliteratur, den Erziehungsprinzipien und Tugenddiskussionen wird immer wieder auf die anthropologische Festlegung verwiesen, dass der Mensch kraft seiner Intellektualität und der ihm von Natur aus gegebenen Vernunftfähigkeit dafür prädestiniert ist, zwischen Gut und Böse unterscheiden und ein gutes, gelingendes Leben führen zu können; und zwar sowohl individuell als auch kollektiv. Die kulturellen und gesellschaftlichen Aspekte zeigen sich vor allem darin, dass die Fragen, wie der Mensch mit sich und seiner Umwelt umgeht, äußerst differenziert und unterschiedlich beantwortet werden. Weil nämlich soziale Erfahrungen die Gehirnentwicklung des Menschen formen, kommt es darauf an, Selbststeuerung nicht als ein Glücks- oder Zufallsprodukt zu verstehen, sondern als eine Bildungs- und Lernherausforderung zu begreifen.

Der Freiburger Arzt, Neurobiologe und Psychotherapeut Joachim Bauer setzt sich mit einer Reihe von Experimenten und Versuchen auseinander, wie Selbstkontrolle und Selbststeuerung gelernt und erfahren werden kann. Sein Plädoyer für eine „Erziehung zu Selbstkontrolle“ sollte deshalb eine allgemeine Aufmerksamkeit bewirken. „Selbststeuerung ist schön!“. Diese Behauptung gilt es zu beweisen. Dabei zu Hilfe kommt ohne Zweifel das in den Zeiten der Kapitalismus- und Globalisierungskritik wachsende Bewusstsein, dass ökonomische Wachstums- und Neokolonialisierungs-Ideologien die Menschheit nicht zu einer humanen Weiterentwicklung bringen, sondern in den Untergang führen. Nachhaltigkeitsdenken und -handeln heißt, gegen den bequemen, ökonomistischen und konsumtiven Mainstream leben. Der zunehmende „Verlust der gesunden Balance“, wie sie sich in allen Bereichen des menschlichen Lebens zeigt, führt ja mehr und mehr „zur süchtigen Gesellschaft“, zumindest in den westlichen Industrieländern und Schwellenländern. Da ist sicherlich ein Blick darauf zu richten, wie sich die Situation in Deutschland darstellt. Es gilt, sich mit dem „Unbewussten“ auseinander zu setzen und aus der Sicht der Neurowissenschaften das Unbewusste ins Bewusstsein zu bringen. Mit der Freudschen Arbeitshypothese: „Wo Es war, soll Ich werden“ thematisiert der Autor „die sublime Unterwanderung des freien Willens“. Weil unser Denken, Fühlen und Handeln durch äußere Einflüsse verändert werden kann, ist es wichtig, die daraus entstehenden Mechanismen und Wirkungen kennenzulernen: etwa die Bedeutung der Spiegelneurone, wie sie auf ganz bestimmte Verhaltensweisen reagieren und Verhalten beeinflussen[11].

Tugenden und ihre Fallstricke

Der Mensch ist ein tugendhaftes Lebewesen. Was heißt das? Bedeutet das, dass aretê, die Bestheit und Vortrefflichkeit des Menschen, wie dies in der antiken, aristotelischen Philosophie zum Ausdruck kommt, den Menschen natürlich gegeben ist, oder als ein erstrebenswerter Zustand des menschlichen Daseins aufgegeben ist? Anzustrebende Tugenden als Haltungen und Charakteristika eines Individuums sind immer auch Rufe nach Ordnungen und Gewissheiten in der sich immer interdependenter, entgrenzender und unsicher werdenden (Einen?) Welt. Das Bedürfnis nach Klassifizierung, insbesondere in politischen, gesellschaftlichen und beruflichen Zusammenhängen, wird lauter. Zu wissen, wer man selbst ist und der andere, ob in der Nähe oder in der globalen Ferne, fokussiert in deutlichem Maße die Frage nach dem Leben hier und heute. Es ist die Frage nach dem humanen Umgang der Menschen miteinander, empathisch und friedlich, oder abweisend und aggressiv.

Ist der Mensch des Menschen Freund oder Feind? Ist er anthrôpos oder lupos? Ist es die Gewalt, oder die Liebe, die das Zusammenleben der Menschen bestimmt? Diese uralten Fragen sind aktueller denn je, in einer Zeit, in der sich Empathie und Humanität als Überlebensanker der Menschheit darstellen. Diese Überlegungen äußern sich auch in der Frage, ob es spezifische, sich ethnisch oder anthropologisch darstellende Tugenden gibt, wie etwa: deutsche Tugenden? Der aus Äthiopien stammende, deutsche Essayist Asfa-Wossen Asserate nennt mit dem „Innen-Aussen-Blick“ einige Tugenden, die er als „typisch deutsch“ identifiziert, sich in der gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklung der Deutschen etabliert haben und als Alltagshandeln selbstverständlich geworden sind. Das Nachdenken darüber, wie auch die Veränderungsprozesse, die sich dabei vollzogen haben, „Selbstverständlichkeiten“ in Frage stellen, führen hin zu der Vision, dass die Tugenden sich durchsetzen werden, die sich in der Unterschiedlichkeit und Vielfalt der Menschheit als friedliche, gerechte und gleichberechtigte EINE WELT zeigt[12].       

Perspektivenwechsel

Die Erfahrung ist allgegenwärtig: „Der Versuch, mit jemandem zu kommunizieren, der ein anderes Weltbild benutzt als man selbst, und sich dessen nicht bewusst zu sein, kann nur Verwirrung auslösen“. Es gibt keine mentalen Prozesse ohne Realitätsbezug und ohne Vergewisserung der Wirklichkeit, genauso wie es keine Realitätswahrnehmung ohne Bewusstsein gibt. Weil aber Weltbilder und Weltansichten immer situations-, zeitbezogen, individuell und kollektivbestimmt  sind, unterliegt auch unsere Wahrnehmung der Realität, wie auch unser Handeln einem Wandel. Dieser entweder selbstbestimmte oder von äußeren Anlässen vollzogene Perspektivenwechsel ist ja nichts anderes als die Aufforderung zum Umdenken, zur Horizonterweiterung und zur Umkehr vom Trott eines business as usual, wie dies 1995 die Weltkommission „Kultur und Entwicklung“ dramatisch formuliert hat: „Die Menschheit steht vor der Herausforderung umzudenken, sich umzuorientieren und gesellschaftlich umzuorganisieren, kurz: neue Lebensformen zu finden“. Dieser Problematik widmet sich der New Yorker klinische Psychologe Lawrence LeShan.  In seiner Studie „Das Rätsel der Erkenntnis“ fragt der Autor, wie Realität entsteht. Er benutzt dabei Weltbilder, wie sie sich in den menschlichen Realitäten darstellen. Dabei geht er so vor, dass er danach fragt, „auf welche Weise und anhand welcher Parameter sich unsere verschiedenen Weltbilder voneinander unterscheiden“. Es gelingt ihm deutlich zu machen und beispielhaft darzustellen, „dass die Verwendung eines falschen Weltbildes bei der Lösung eines bestimmten Problems dazu führt, dass eine Lösung unmöglich wird“. Damit weist er auf eine ungemein bedeutsame, aktuelle und immanent politische Situation hin[13].

Haben und/oder Sein?

Diese, sich entweder als Alternative, als Differenz, als Konvergenz oder Divergenz sich darstellenden Lebensentwürfe und –einstellungen, sind Wertfragen, die sich jedes Individuum und jedes Kollektiv stellen sollte. Der mit Vernunft, Gemeinsinn, Verantwortung und Solidarität ausgestattete anthrôpos mutiert zum homo oeconomicus, der materiellem Besitz als erstrebenswerte Lebensexistenz betrachtet und den komparativen Wert des Seins bei Seite stellt. Diese Einschätzung bewegt die Menschheit, seit sie sich zum Haben gemacht und das Sein vergessen hat. Diogenes in der Tonne, bedürfnislos ob der materiellen Güter – „Brauchen wir alles, was uns angeboten wird?“ – aber selbstbewusst im Geiste und sich seiner selbst sicher! Wenn diese Legende uns HIER und HEUTE und MORGEN etwas zu sagen vermag, dann dies: Verzicht ist kein Verlust, sondern Vermögen, das sich nicht materiell misst! Und: HABEN und SEIN gehören zusammen; nur dann lässt sich authentisch ausrufen: „Ich suche Menschen – nicht Funktionisten und Egoisten!“[14]. Dass diese Lebenseinstellung keine Illusion, sondern eine Vision und „positive Subversion“ (Hans A. Pestalozzi) ist, hat die Nobelpreisträgerin für Wirtschaftswissenschaften, Elenor Ostrom mit der Erkenntnis zum Ausdruck gebracht, dass „mehr ist, wenn wir teilen“[15].

„Gleichheit in der Differenz – Differenz in der Gleichheit“

Menschliche Erwartungshaltungen und Perspektiven gründen ja entweder auf den pessimistischen, naturrechtlichen Auffassungen, dass der Mensch des Menschen Wolf (Titus Maccius Plautus/Thomas Hobbes), oder ein zôon politikon, ein politisches Lebewesen sei, das mit Verstand und dem Willen zu einem „guten Leben“ ausgestattet und darauf angewiesen ist, in Gemeinschaft mit Menschen zu leben. Es ist die notwendige, humane und friedensstiftende Frage: "Wie kann der Mensch ohne Angst (Aggression, Ausschließung…) verschieden sein?"  Die Antworten darauf sind eindeutig: Wenn es gelingt zu erkennen, dass „unser Denken, Wahrnehmen, Fühlen und Handeln immer schon ein vergesellschaftlichtes und vergeschlechtlichendes ist und welche Bedeutung dies hat“[16]

Vorurteile und Stereotypen

Im psychologischen und anthropologischen Diskurs hat sich das Bewusstsein herausgebildet, dass „Vor-Urteile“ nicht per se als abzulehnende, verletzende und zerstörerische Verhaltensweisen zu verstehen sind. Es kommt vielmehr darauf an zu erkennen, dass „es Vorurteile und Vorurteile gibt“; denn „Vorurteile sind das Produkt einer bestehenden Gesellschaft“. Sie werden also weder in die Gene noch in die Wiege gelegt. Damit wird gleichzeitig deutlich, dass es Aufgabe ist, sich der negativen Ausprägungen von Vorurteilsbildungen bewusst zu sein. Die wissenschaftliche Vorurteilsforschung liefert Hinweise dafür, dass es nicht darauf ankommt, Vorurteile zu negieren oder aus der Welt schaffen zu wollen, sondern „Wege zu finden, mit Vorurteilen umzugehen, sie zu reduzieren und ihre explosiven, ihre mörderischen Potentiale zu kontrollieren“. Um dies wirksam werden zu lassen, bedarf es keiner Rezepte, sondern eines ganzheitlichen Blicks auf sich selbst und die Umwelt. Ursprünge, Formen und Bedeutung von Vorurteilen bedürfen einer besonderen Aufmerksamkeit, um ein demokratisches, friedliches, freiheitliches und soziales Zusammenleben der Menschen in den nationalen Gesellschaften wie im globalen Rahmen zu ermöglichen. Weil mit den Worten von Albert Einstein „ein Vorurteil ( ) schwerer zu spalten (ist) als ein Atom“, bedarf es der wissenschaftlichen Auseinandersetzung und Forschung, um ein vorurteilsbewusstes Bewusstsein in die Köpfe und Herzen der Menschen zu bringen. Das Handbuch „Vorurteile“ liefert dafür eine Reihe von Überlegungen, Instrumente und Denkansätze[17].

Sinnlichkeit braucht Transzendenz

Das Streben der Menschen nach einem guten, gelingenden, menschenwürdigen Leben impliziert, dass das Sein schön, erstrebens- und lebenswert ist[18]. Im alltäglichen und kulturellen Diskurs wird die Sinnlichkeit als physiologische Kompetenz verstanden, äußere Einflüsse mit den Sinnesorganen aufzunehmen und emotional oder auch rational darauf zu erwidern. Sinnliche Wahrnehmungen und Ausdrücke werden in der gesellschaftlichen Kommunikation entweder als wohltuend und dialogisch empfunden, oder als Provokation und Missachtung aufgefasst. So sind es nicht zuletzt die Psychologen und Psychoanalytiker, die dem sinnlichen Verhalten der Menschen eine besondere Aufmerksamkeit widmen. Aber auch in den lokal- und globaldominierten, gesellschaftlichen Auseinandersetzungen, Informations- und Verständigungsprozessen nimmt die sinnliche Aktion und Reaktion eine zunehmende Bedeutung ein. Diese Aspekte hat insbesondere die Psychoanalytikerin und Lehranalytikerin der Argentinischen Psychoanalytischen Vereinigung und der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung, Alcira Mariam Alizade (1943 – 2013) bearbeitet. Ihre Beiträge werden in deutscher Sprache vorgelegt. Am Beispiel der „weiblichen Sinnlichkeit“ wird verdeutlicht, dass sinnliche Konstitutionen und sinnliches Verhalten in gesellschaftlichen Prozessen gefördert wie verhindert werden; und: Sinnlichkeit unterliegt individuellen und kollektiven Veränderungsprozessen[19]

Aufrechter Gang

Im philosophischen und anthropologischen Diskurs wird der „aufrechte Gang des Menschen“ als „Sprungbrett des anthrôpos“ bezeichnet. Denn der anthrôpos, der Mensch, ist, so lernen wir bereits seit der griechischen Antike, ist eine „durch seine Zweibeinigkeit charakterisierte Gattung der Lebewesen“. Durch seine Vernunft- und Sprachbegabung habe er Anteil am unvergänglichen und göttlichen Geist. Durch seine aufrechte Körperhaltung stehe er auf der obersten Stufe der scala naturae und nehme dadurch eine Mittelstellung zwischen Gott und Tier ein. Er sei fähig, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, Allgemeinurteile zu fällen und sittlich zu handeln. Der Praktische Philosoph Kurt Bayertz stellt fest, dass im Denken der Menschen zwar die Bedeutung des aufrechten Gangs in vielfachen Formen präsent ist; dass aber eine „Geschichte des aufrechten Gangs“ aus anthropologischer und philosophischer Sicht bisher nicht vorliegt. Dies will er mit seinem Buch ändern. Er will damit aufzeigen, welche verschiedenen Interpretationen die Tatsache des menschlichen aufrechten Gangs über die Jahrhunderte hinweg vorgenommen wurden, danach Ausschau halten, wie diese Deutungen in den jeweiligen historischen und kulturellen Zusammenhang gestellt wurden und dadurch die Hauptentwicklungslinien des anthropologischen Denkens aufzeigen. Die Geschichte vom aufrechten Gang (des Menschen) aus anthropologischer Sicht wird zur Geschichte des anthropologischen Denkens. Kurt Bayertz legt eine spannende, interdisziplinäre, alltagsfähige und intellektuell anspruchsvolle Betrachtung über die Tatsache vor, dass der Mensch mit seinem aufrechten Gang mehr ist als ein anderes Tier auf zwei Beinen. Dabei begibt er sich zum Glück nicht auf die gefährlichen, ideologischen und fundamentalistischen Gleise eines „allmächtigen“ Menschseins, sondern bleibt auf der Straße des „Natürlichen“. Damit zeigt er Perspektiven auf, die die Fähigkeit des Aufrecht  Gehens des Menschen nicht nur als physische, körperliche Fähigkeit notiert, sondern insbesondere als evolutions- und geistesgeschichtliche Entwicklung – und damit auch als Herausforderung – präsentiert[20]

„Crisis and Collapse“

In den Zeiten der sich immer interdependenter, entgrenzender und (scheinbar) unsicherer entwickelnden (Einen?) Welt werden die Unsicherheiten größer. Mit der Frage „Was müssen Menschen wissen, um sich in dieser Welt der Umbrüche orientieren zu können?“, wird auf das Dilemma hingewiesen, wie in den Zeiten der „Weltrisikogesellschaft“ (Ulrich Beck) die Individuen und die Menschheit eine humane Entwicklung ermöglichen können machen. Dass die Menschen kein absolut sicheres Dasein auf der Erde erwarten können, und dass das Leben in allen seinen Facetten und Situationen Risiko ist, gehört mittlerweile zum existenzphilosophischen und soziologischen Erkenntnisstand. Die Ansprüche und Erwartungshaltungen der Menschen, in den Zeiten der Unsicherheiten ein sicheres, soziales Leben führen zu können, wachsen. In dieser Kontroverse zeigen sich eine Reihe von Imponderabilien und Widersprüche, die im gesellschaftlichen Diskurs nicht immer objektiv und sachgerecht zu Wort kommen; etwa durch die Diskrepanz, dass der Sicherheitsanspruch möglicherweise Freiheitserwartungen tangieren kann. Hans Hoch vom Fachbereich Geschichte und Soziologie der Universität Konstanz und Vorstand des Freiburger Instituts für angewandte Sozialwissenschaft und Peter Zoche vom Karlsruher Fraunhofer Institut für System- und Innovationsforschung geben den Sammelband „Sicherheiten und Unsicherheiten“ heraus. Die fachspezifischen und interdisziplinären Beiträge diskutieren die historischen wie aktuellen Aspekten und Diskursen um die existentiellen Zusammenhänge von Sicherheit und Unsicherheit, von Sicherheit und Freiheit und von Sicherheit und Risiko. Sie steuern damit zum Erkennen und zur humanen Bewältigung des aktuellen und risikobehafteten Zustands der Menschheit und der Welt Hier und Heute bei und liefern einen wichtigen, soziologischen Beitrag dafür, wie es gelingen kann, die (Eine?) Welt humaner, friedlicher und gerechter zu entwickeln[21].

Freiheit ist nicht nur ein Wort

Der Mensch als frei und gleich an Würde und Rechten geborenes, mit Vernunft ausgestattetes, zwischen Gut und Böse unterscheidungsfähiges, zur Bildung von Allgemeinurteilen befähigtes und auf die Gemeinschaft mit den Mitmenschen angewiesenes Lebewesen, wie dies in der abendländischen, anthropologischen (aristotelischen) Philosophie zum Ausdruck kommt und in der globalen Ethik der Menschenrechtsdeklaration der Vereinten Nationen proklamiert wird, ist verwiesen auf die Individualität und Selbstbestimmung des menschlichen Daseins. Kaum ein Wert, der die Humanität der menschlichen Existenz ausmacht, wird jedoch in der Geschichte der Menschheit so in Frage gestellt wie der Freiheitsbegriff und durch die (un-)freiheitliche Wirklichkeit konterkariert. Es sind Fragen, die das persönliche und kollektive, das lokal- und globalgesellschaftliche und das physisch-psychologische Menschsein betreffen, wie zum Beispiel:Worin besteht das Erlebnis der Freiheit? - Ist der Wille zur Freiheit naturgegeben oder menschengemacht? - Welche Einflüsse haben individuelle, kulturelle, politische und ideologische Wertvorstellungen? - Bedeutet Freiheit nur Abwesenheit von äußerem Druck oder auch die Anwesenheit von etwas Positivem? - Welche sozialen und ökonomischen Ursachen hat das Streben nach Freiheit? - Kann Freiheit auch zur Last werden?

Bereits mit diesen Fragen wird die Janusköpfigkeit des Freiheitsbegriffs deutlich. Keine menschliche Gemeinschaft kann ohne Freiheit existieren, will sie sich nicht aufgeben oder darauf verzichten, was Menschsein ausmacht! In kaum einem anderen Existenz- und Sehnsuchtsbegriff verdeutlicht sich die Diskrepanz von Willentlichkeit und Wirklichkeit so wie im Wort und in der Wirkung von Freiheit. Es sind sowohl die unendlichen Weiten und Horizonte, die Freiheit ermöglichen, als auch die von Menschen gebauten Zäune, Mauern und Minenfelder, wie auch die unsichtbaren Wände, die Freiheit einschränken oder verhindern. Der Tübinger Philosoph Otfried Höffe setzt bei seiner Nachschau über „Freiheit in der Moderne“ nicht auf postmodernes Gedankengut. „Den freiheitstheoretischen Höhepunkt der Freiheit bildet die Freiheit jedes einzelnen Menschen“. Mit den Freiheitsmöglichkeiten, wie sie die Moderne bereitstellt oder auch avisiert, bilden sich nämlich auch die Freiheitsgefahren; zum Guten gesellt sich das Böse.: „Weder zum Prinzip Freiheit noch zum Projekt der Moderne gibt es eine grundsätzliche Alternative. Ebenso grundsätzlich bedürfen sie immer wieder der kritischen Erneuerung“. Mit den in der Studie aufgewiesenen Freiheitswerten – der Freiheit von Naturzwängen, der ökonomischen und gesellschaftlichen Freiheit, der intellektuellen und künstlerischen Freiheit, der politischen Freiheit und der personalen Freiheit – bestätigt sich die eingangs formulierte Behauptung: „Die Freiheit ist das höchste Gut des Menschen, sie macht seine Würde aus.“[22].

Frieden = Gemeinschaft  = Friedenskultur + Menschlichkeit 

Ein friedliches, menschenwürdiges und humanes Zusammenleben der Menschen muss gelernt und erfahren werden. Die Sehnsucht nach Frieden eine uralte, menschliche Erwartungshaltung, die immer wieder in der Menschheitsgeschichte Chancen zur Verwirklichung hatte; freilich auch oft genug bestimmt und dominiert wird von Krieg, Vernichtung und Zerstörung. In der „globalen Ethik“, wie die von den Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 proklamierte „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ sich nennt, wird der Zusammenhang von Friedenswillen, -fähigkeit und -bereitschaft mit der menschlichen Eigenschaft hergestellt, dass Friede Menschlichkeit bedeutet: „Die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte bildet die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt“. Daraus ergibt sich das Bewusstsein, dass Friedfertigkeit lernbar ist.

Die UNESCO, die Bildungs-, Kultur- und Wissenschaftsorganisation der Vereinten Nationen, hat am 19. November 1974 die „Empfehlung über die Erziehung zu internationaler Verständigung und Zusammenarbeit und zum Frieden in der Welt sowie die Erziehung zur Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten“, kurz: Empfehlung zur internationalen Erziehung, vorgelegt. Auf der Grundlage des Artikels 26/2 der Menschenrechtsdeklaration – „Die Bildung soll auf die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit und auf die Stärkung und Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten gerichtet sein. Sie soll Verständnis, Toleranz und Freundschaft zwischen allen Völkern und allen rassischen oder religiösen Gruppen fördern und die Tätigkeit der Vereinten Nationen zur Aufrechterhaltung des Friedens unterstützen“ – zielt die Empfehlung darauf, Friedensbildung und -erziehung in allen Bildungsebenen und -formen wirksam werden zu lassen, Verständnis und Achtung für alle Völker, ihre Kulturen, Zivilisationen, Werte und Lebensweisen zu schaffen, ein Bewusstsein für die wachsende gegenseitige Abhängigkeit zu erzeugen, die Fähigkeit zur Kommunikation darüber zu entwickeln, und Verständnis für die Notwendigkeit internationaler Solidarität und Zusammenarbeit zu fördern“.

Beim Internationalen Kongress „Peace in the Minds of Men / Frieden im Denken der Menschen“, den die UNESCO vom 26. Juni bis 1.Juli 1989 in Yamoussoukro/Elfenbeinküste durchführte, haben die Teilnehmerinnen und Teilnehmer über die Fragen "Der Frieden unter den Menschen", "Der Frieden zwischen dem Menschen und einer intakten Umwelt", "Die Instrumente des Friedens" diskutiert und dabei eine (neue) Definition von FRIEDEN entwickelt: Frieden heißt Ehrfurcht vor dem Leben - Frieden ist das kostbarste Gut der Menschheit - Frieden ist mehr als das Ende bewaffneter Auseinandersetzung - Frieden ist eine ganz menschliche Eigenschaft - Frieden verkörpert eine tiefverwurzelte Bindung an die Prinzipien der Freiheit, der Gerechtigkeit, der Gleichheit und der Solidarität zwischen allen Menschen - Frieden bedeutet auch eine harmonische Partnerschaft von Mensch und Umwelt[23]. Dabei hat der Gedanke eine besondere Bedeutung, dass Friedenskompetenz individuell entwickelt und kollektiv verwirklicht werden muss. Friedenserziehung zu historisieren und damit Licht im Dunkel von Krieg, Gewalt und Konflikt zu erkennen, das Frieden möglich ist und Schwerter tatsächlich zu Pflugscharen umgeschmiedet werden können, das ist eine bedeutsame, pädagogische und zivilisatorische Herausforderung![24]

Zeugnisse der Menschlichkeit

Bei den Auseinandersetzungen über die Frage, wie das Individuum nach dem humanen Anspruch für Humanität streben und ihn verwirklichen kann, gibt es Berichte und Reflexionen, in denen erkennbar wird, dass der Mensch in seiner Existenz ein „zôon politikon“, ein politisches Lebewesen ist. Dabei kommt die wichtige  Frage zur Geltung: „Ist es Charakter, Wissen, Lernen, Erfahrung, Gewissen, was den Ausschlag für eine existentielle politische Entscheidung gibt?“. Es ist die individuelle und kollektive Identität, die Antworten darauf zu geben vermag. Der Philosoph und Soziologe Oskar Negt gibt darauf seine politische Antwort: Es ist die politische Bildung, die es möglich macht, aus einigen wenigen mehr zu machen[25]. Der Literaturwissenschaftler Karl Heinz Bohrer legt zu seinem 85. Geburtstag seine Biographie vor, in der er die Bedeutung wie auch die Gefahren und Probleme des „Jetzt“ im Leben der Menschen artikuliert[26]. Der Karlsruher Philosoph Hans Lenk sieht in der Bildung einer lokalen und globalen Ethik die Chance zur Besinnung und Realisierung für eine humane Welt[27].

Globale Verantwortung

Es geht um die Anforderungen, angesichts der sich immer interdependenter, entgrenzender, sozial und materiell ungerechter und weltanschaulich und ideologisch unterschiedlich entwickelnden (Einen?) Welt, zu einer Aktualisierung unseres Selbst- und Weltverständnisses zu kommen und endlich den notwendigen Perspektivenwechsel einzuleiten, wie ihn Prognosen und Appelle seit Jahrzehnten empfehlen. Es ist die Konfrontation mit den vielfältigen Formen der Verantwortungsethiken, wie sie sich bei Max Weber als Folgen für die Welt darstellen, bei Sartre als existenzielle Wahrnehmung zum Ausdruck kommt, bei Hans Jonas als Prinzip der Verantwortung zeigt, bei Albert Camus‘ Interpretation, dass man sich Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen könne. Es ist schließlich der Kantische kategorische Imperativ, wie er sich als sittliches und moralisches Denken und Handeln für Menschen anempfiehlt, die in der Lage sind und den Mut haben, sich des eigenen Verstandes zu bedienen.

Der Philosoph von der Freien Universität Berlin, Valentin Beck, plädiert in seiner „Theorie der globalen Verantwortung“ dafür, beim traditionellen Begriff der Verantwortung „im Angesicht der materiellen Lage eines Teils der Weltbevölkerung eine Korrektur und Ergänzung einiger gewöhnlicher Moralvorstellungen“ vorzunehmen; und zwar neben der Bedeutung des pflichtigen Denkens und Handelns den der Verantwortlichkeit in den Fokus der humanen Verantwortung zu stellen. Dabei geht er von vier Prämissen aus:

  • Zum einen von der „Reichweite“, also den Geltungsbegründungen für die Wohlhabenden in der Welt, für Gerechtigkeit Sorge zu tragen.  
  • Zum zweiten stellt er die Frage nach dem „Gehalt der Normen“ von Bedeutung, die extreme Armut in der Welt zulassen oder sogar schaffen.
  • Drittens kommt das „Gewicht“ ins Spiel, die Einschätzung nämlich, welche Aufmerksamkeit der Weltarmutsverantwortung im Vergleich mit anderen moralischen Werten erhält.
  • Und schließlich viertens die wichtige Frage zum Verhältnis von individueller und kollektiver Verantwortung.

Die in der „Theorie der globalen Verantwortung“ fokussierte Weltarmutsverantwortung gründet auf der Erkenntnis, dass „Armut ein multidimensionales Problem darstellt.., (das sich) nicht nur an den dringendsten materiellen Mitteln zur Subsistenzsicherung orientiert, sondern auch an der Gewährleistung von anderen Grundgütern, etwa Gesundheit und politischer Mitbestimmung“. Damit wird ausgesprochen, dass globale Verantwortung(sethik) jedes Individuum und jede Gesellschaft betrifft und herausfordert[28].

Zivilcourage: Demokratische Grundtugend und bedachter Mut

„Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren“, so steht es zuoberst in der von den Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 proklamierten Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, als globale Ethik. Die Verwirklichung dieser allgemein ethischen Prämisse kann nicht allein durch eine tolerante Haltung gelingen  – „Ich habe ja nichts dagegen, dass du anders bist als ich…“ – sondern bedarf des aktiven Handelns, wenn das Recht auf Menschenwürde von anderen Menschen missachtet und einem anderen Menschen oder einer Menschengruppe abgesprochen wird, in Gedanken, Worten und Werken. Diese Haltung, für das Menschenrecht und die Menschenwürde eines anderen Menschen einzutreten, wird als Zivilcourage oder sozialer Mut bezeichnet (vgl. dazu auch: Zivilcourage ist eine demokratische Grundtugend. Das Eintreten für die eigene Freiheit und die der anderen Menschen, aktiv und konsequent, ist eine Voraussetzung für ein friedliches, gemeinsames Zusammenleben in unserer (Einen?) Welt. Denn „die Freiheit ist keine Torte, die genossen, sondern ein Muskel, der trainiert werden will“.

Mit dem Gedicht, das Dietrich Bonhoeffer angesichts seiner Ermordung durch die Nationalsozialisten 1945 schrieb, verdeutlicht Ulrich Beer seine Auffassungen von Zivilcourage, die er mit einigen Regeln für die Praxis versieht:

Nicht das Beliebige, / sondern das Rechte tun und wagen / nicht im Möglichen schweben, das Wirkliche tapfer ergreifen, / nicht in der Flucht der Gedanken, allein in der Tat ist die Freiheit. / Tritt aus ängstlichem Zögern heraus in den Sturm des Geschehens, / nur von Gottes Gebot und deinem Glauben getragen, / und die Freiheit wird deinen Geist jauchzend empfangen.

So wie es notwendig ist, Demokratie zu lernen, so bedarf es nicht nur der Bereitschaft zum sozialen und Friedensmut, sondern auch der Einübung in zivilcouragiertes Verhalten[29].

Wir brauchen eine politische Alphabetisierung!

Die fordernden bis bangen Rufe zur Verteidigung der in Teilen der Welt mühsam und langwierig erworbenen demokratischen Prinzipien sind angesichts der nationalistischen, populistischen und fundamentalistischen Angriffe auf die demokratischen und freiheitlichen Werte unüberhörbar: Wir brauchen demokratische Bürgerbeteiligung! Theoretische Begründungszusammenhänge darüber, dass in demokratischen und gerechten Gesellschaften die Selbstbestimmung des Volkes an oberster Stelle steht, gibt es genug! Es sind oftmals die Einstellungen und Erfahrungen, dass Wünsche, Hoffnungen, Vorstellungen und Visionen das eine, die real existierenden Wirklichkeiten jedoch das andere sind. Ob die gesellschaftlichen Individuen und Kollektive daraufhin mit Aktivität, Widerstand und Innovationen, oder mit Passivität, fatalistischen und Ohne-Mich-Einstellungen reagieren, hängt entscheidend davon ab, wie verfasst, aufgeklärt und aktiv die jeweilige Gesellschaft ist.

Zivilgesellschaftliche Bürgeraktivitäten drücken sich in lokalen, überregionalen und globalen spontanen und organisierten Zusammenschlüssen und Vereinigungen wie Nachbarschafts- und Bürgerinitiativen, Stadtteilvereinen, kirchlichen und gemeinnützigen Organisationen, sowie in Aktivitäten von nationalen und internationalen Nichtregierungsorganisationen aus. Die Stuttgarter Mediatorin und Bürgerrechtsaktivistin Christina Benighaus, die Sozialwissenschaftlerin Gisela Wachinger und der Sozialwissenschaftler Ortwin Renn von der Universität Stuttgart wollen mit ihrem Praxisbuch „Bürgerbeteiligung“ gegen Politik- und Bürgerverdrossenheit angehen und Wege aufzeigen, um „einerseits politische Entscheidungen auf eine breitere Grundlage zu stellen, andererseits in einer wertepluralen Gesellschaft ein höheres Maß an Zustimmung der betroffenen Menschen zu den sie tangierenden Entscheidungen und Planungen ( ) bewirken“. Überzeugende, objektive Glaubwürdigkeit und Offenheit, Transparenz, Ehrlichkeit und Dialogfähigkeit sind die Grundpfeiler einer gelingenden Bürgerbeteiligung. Bürgerrechtliche, politische Arbeit zielt auf einen Konsens, der entweder als Übereinstimmung oder als Kompromiss auf Augenhöhe möglich wird. Das chinesische Sprichwort - „Erkläre mir und ich werde vergessen. Zeige mir und ich werde mich erinnern.  Beteilige mich und ich werde verstehen“ – kann als Aufmunterer und Motivationsanreger dienen[30].

Homo faber

Der Mensch schafft sich durch denkendes Tun. Der US-amerikanische Soziologe und Kulturphilosoph Richard Sennett gilt als ein Sezierer der Zeitläufte und des gesellschaftlichen Zusammen- (und Gegeneinander-)lebens der Menschen in den verschiedenen Lebensumständen und –räumen. Das Nachdenken darüber, was wir Menschen mit den materiellen Dingen tun, die uns umgeben, die wir haben wollen, meinen, haben zu müssen, bringt ihn zu der verzweifelten Aussage: „Ich habe das Gefühl, dass wir angesichts der mit physischen Gegenständen vollgestopften Welt nicht recht wissen, wie wir von materiellen Objekten und Maschinen guten Gebrauch machen können. Das Nachdenken darüber subsummiert er in einem Denk- und Schreibvorhaben, das er das „Homo-Faber-Projekt“ bezeichnet.  Es „kreist um die ethische Frage, in welchem Maße wir Herren unserer selbst werden können“, und darum zu begreifen, dass „der Mensch sein Leben und sich selbst durch konkretes praktisches Handeln erschafft“. Er beklagt das „unkooperative Ich“ und stellt diesem die „gestärkte Kooperation“ gegenüber. „Kooperation ist Austausch, von dem alle Beteiligten profitieren“. Auf der Grundlage dieser positiven und optimistischen Überzeugung begründet Richard Sennet seine Reflexionen zur „Zusammenarbeit“. Indem er den Werkzeugkasten bereit stellt und die Werkstatt ausgestattet hat, um mit den intellektuellen und profanen Denk- und Handlungswerkzeugen selbst zu denken[31].

Moral ist ein Wert, der das Humane begründet 

Moralische Einstellungen und Verhaltensweisen beim menschlichen Umgang miteinander basieren, nach den moralphilosophischen Vorstellungen, erst einmal in zweierlei Hinsicht: Da sind zum einen die altruistischen, empathischen Positionen, nach denen ein humanes, friedliches und gerechtes Zusammenleben der Menschen unverzichtbar und konstitutiv ist, sich in Einstellungen wie Fairness und Gerechtigkeitsempfinden ausdrückt und in verschiedenen, utilitaristischen Formen wirksam wird; zum anderen auf einem rechtsmoralischem, historischem und rationalem Denken. Es ist nämlich schwierig, moralisch zu sein, und unmoralische, egoistische Einstellungen und Entscheidungen landen tagtäglich, individuell und lokal- und globalgesellschaftlich auf den Präsentiertellern der Menschen.

Der Direktor des Leipziger Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie, Michael Tomasello, diskutiert und berichtet in vielfältiger Weise über seine Forschungsarbeiten und lässt den Leser an seinen philosophischen und anthropologischen Gedanken Anteil haben. Für seine Fähigkeit, komplizierte und diffizile Fragestellungen allgemeinverständlich und nachvollziehbar auszudrücken, hat er mehrere wissenschaftliche Anerkennungen und Würdigungen erhalten. In seinem Buch „Eine Naturgeschichte des menschlichen Denkens“ (2014) verdeutlicht er die Bedingungen und Entwicklungen, wie menschliches Sozialleben evolutionär und historisch entstanden ist und sich aktuell darstellt, nämlich als „zweistufige Abfolge der Evolution … zuerst (als) neue Formen der Zusammenarbeit und dann neue Formen der Kulturgestaltung“. Daran knüpft er mit seiner Untersuchung: „Eine Naturgeschichte der menschlichen Moral“.  Er leitet historisch und evolutionsgeschichtlich die Ausprägungen im Spannungsfeld von Egoismus und Altruismus her. Da sind zum einen „die kognitiven Prozesse der gemeinsamen Intentionalität… (sodann) die sozial-interaktiven Prozesse, (und) die selbstregulativen Prozesse, die  durch gemeinsame Verpflichtungen angestoßen werden und das Ziel haben, die Zusammenarbeit …  aufrecht zu erhalten … (und) bei den Beteiligten ein Gefühl für gegenseitigen Respekt und Verdienstlichkeit erzeug(t)en“. Gerade die zu diesen Aspekten rückbezogenen Erinnerungen an das evolutionäre Gewordensein des anthrôpos machen deutlich, dass der Mensch im Vergleich zum zôon, dem tierischen Geschöpf, in der Lage ist, die Schritte von einer existentiellen Kooperation hin zur kulturellen (und interkulturellen!) Zusammenarbeit zu vollziehen und das „Ich“ mit dem „Wir“ zu verbinden. Es sind die in einer Gemeinschaft entstandenen, akzeptierten und praktizierten sozialen Normen, die als objektive Werte- und Moralvorstellungen wirksam werden und die kulturelle Identität bestimmen.  Die Voraussetzungen dafür bilden Identitäts- und Zugehörigkeitsbewusstsein, die in den moralphilosophischen Anforderungen und Perspektiven exklusiv werden: Identifikation und Loyalität, Objektivierung, Legitimierung und Moralisierung. Es kommt darauf an zu erkennen, „dass kognitive Fertigkeiten der geteilten Intentionalität …  durch die Evolution entstandene Anpassungen sind, die Individuen in die Lage versetzen, ihre gemeinschaftlichen und kulturellen Tätigkeiten besser zu koordinieren“[32].

Singularitäten oder Kollektivitäten?

Die (soziale) Logik des Allgemeinen verliert ihre Vorherrschaft an die (soziale) Logik des Besonderen. Singularität wird im Fremdwörterlexikon (Wahrig)ausgelegt als „eine unserer normalen Anschauung widersprechende Erscheinungsform der Materie, die mit herkömmlichen physikalischen Gesetzmäßigkeiten nicht mehr beschreibbar ist“. Es ist das Besondere, Einzigartige, das abhebt und unterscheidet vom Allgemeinen, Gewohnten, Alltäglichen, Vernünftigen und Logischen. Das Allgemeine stellt in einzigartiger, unumstößlicher und allgemein gültigen Weise das Besondere dar – und nicht umgekehrt das Spezielle das Allgemeine. Hier schon setzt das Dilemma der Wertung ein: Das Individuum ist bestrebt, in seiner Identität das Einzigartige hervorzuheben: „Nicht an das Standardisierte und Regulierte heften sich die Hoffnungen, das Interesse und die Anstrengungen von Institutionen und Individuen, sondern an das Einzigartige, das Singuläre“. Mit dieser aktuellen Bestandsaufnahme meldet sich der Kultursoziologe Andreas Reckwitz mit seiner Studie über die „Gesellschaft der Singularitäten“ zu Wort. Er spricht von einer „Explosion des Besonderen“, wenn er aufzeigt, auf welchen Gebieten und bei welchen Situationen die Menschen von heute die traditionellen, im anthropologischen, philosophischen Denken überlieferten Auffassungen und Gewissheiten, die zur Identitätsbildung herangezogen wurden, austauschen gegen Einstellungen und Haltungen, die vom „spätmodernen Subjekt“ goutiert werden: „An alles in der Lebensführung legt man den Maßstab der Besonderung an: wie man wohnt, was man isst, wohin und wie man reist, wie man den eigenen Körper oder den Freundeskreis gestaltet“. Das spätmoderne Selbst ist eingebunden, eingefangen und eingewandert in die postindustrielle Ökonomie der Singularitäten, und zwar selbst- wie Macht gemacht: „Die Singularisierung und Valorisierung der Alltagswelt ist ein Projekt der Authentifizierung des Lebens“, und zwar nicht mehr selbstgesteuert, sondern kuratiert. Ein singularisierter Lebensstil zeigt sich in der Art der Nahrungsaufnahme, in den Orten des Wohnens, des Reisens, der Körperwahrnehmung und Bewegung, der Bildung und Erziehung. Selbstentfaltung wird zum Event, zur Klassenzugehörigkeit und Abgrenzung der Mittelklassenzuschreibung zur Unterklasse. „Die soziale Logik der Singularitäten erlangt eine strukturbildende Kraft in der Ökonomie, in den Technologien und in der Arbeitswelt, in den Lebensstilen und den Alltagskulturen sowie in der Politik, während der in der klassischen Moderne dominanten sozialen Logik des Allgemeinen nur mehr die Rolle einer ermöglichenden Infrastruktur zukommt“[33]

Fazit

In den Zeiten der Globalisierung wird Aufklärung zu einer entscheidenden Herausforderung. Der Mensch in seiner Individualität braucht die Gewissheit, dass er ein wichtiges Glied in der Gesamtheit der Menschheit darstellt, in Selbständigkeit und Abhängigkeit. Es ist die Einsicht, dass jeder Mensch permanent die Verantwortung für eine humane Existenz aller Menschen mit sich trägt. Die Kompetenz, seelische und körperliche Lebens- und Widerstandskräfte gegenüber dem eigenen Sein und dem humanen Dasein der Menschheit zu entwickeln, wird als „Resilienz“ bezeichnet und als „Ich-und Wir-Faktor“ ausgewiesen[34]. Es sind die verbindenden, aber auch gleichzeitig trennenden Pole Freiheit und Sicherheit, die das menschliche Zusammenleben entweder selbständig oder/und kontrolliert gestalten können. Das Austarieren dieser Balance ist eine Lebenskunst, die jeder Mensch lebenslang zu leisten hat: Es gibt keine Freiheit ohne Kontrolle, und es gibt keine Kontrolle ohne Freiheit[35]. Es ist das Wissen darüber, wer, was, wann, wie, warum Meinungen gestaltet und verbreitet, die eigenen Meinungen beeinflusst oder sie sogar manipuliert und steuert[36].  Besonders in diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob der Mensch ein selbstbestimmtes, evolutionär gewordenes  „erdhaftes“ (Wolfgang Welsch), oder ein gottgeschaffenes Lebewesen ist. Eine empathische, menschenwürdige Zivilisation (Jeremy Rifkin) ist nur mit einer individuellen und kollektiven Freiheit möglich. Diese Herausforderung, dieses Wagnis und Abenteuer gilt es zu bestehen, als Individuum und als selbstbestimmtes, gleichberechtigtes Mitglied eines demokratischen Kollektivs, lokal und global[37].

 

Kontakt

Dr. Jos Schnurer
Immelmannstr. 40
31137 Hildesheim 
Tel. 05121 59124
jos2@schnurer.de



[1]Goethes sämmtliche Werke, vierter Band, Cotta’sche Buchhandlung, Stuttgart 1869, S. 833

[2]Deutsche UNESCO-Kommission, Menschenrechte. Internationale Dokumente, Bonn 1981, S. 48

[3]Michael Thumann, Das System Putin, DIE ZEIT, Nr. 8 vom 15. 2. 2018, S. 43

[4]Richard David Precht, Wer bin ich – und wenn ja, wie viele? Eine philosophische Reise, 2007, https://www.socialnet.de/rezensionen/9461.php

[5]vgl. dazu: Martin Gessmann, Philosophisches Wörterbuch, Stuttgart 2009, http://www.socalnet.de/8464.php

[6]Thomas Metzinger, Der Ego-Tunnel. Eine neue Philosophie des Selbst: Von der Hirnforschung zur Bewusstseinsethik, 2009, https://www.socialnet.de/rezensionen/9004.php

[7]Gabriele Jähnert, Hrsg., Kollektivität nach der Subjektkritik, 2013, http://www,socialnet.de/rezensionen/15958.php

[8]Daniel N. Stern, Ausdrucksformen der Vitalität, 2011, https://www.socialnet.de/rezensionen/11513.php

[9]Antonio Damasio, Selbst ist der Mensch. Körper, Geist und die Entstehung des menschlichen Bewusstseins, 2011, https://www.socialnet.de/rezensionen/13124.php

[10]Johannes Schwarte, Die Plastizität des Menschen. Ergebnisoffenheit und Beeinflussbarkeit der Persönlichkeitsentwicklung, 2015, https://www.socialnet.de/rezensionen/20282.php

[11]Joachim Bauer, Selbststeuerung. Die Wiederentdeckung des freien Willens, https://www.socialnet.de/rezensionen/18891.php

[12]Asfa-Wossen Asserate, Deutsche Tugenden. Von Anmut bis Weltschmerz, 2012, https://www.socialnet.de/rezensionen/15390.php

[13Lawrence LeShan, Das Rätsel der Erkenntnis. Wie Realität entsteht, 2012, https://www.socialnet.de/rezensionen/13512.php

[14]Harald Weinreich, Über das Haben. 33 Ansichten, 2012, https://www.socialnet.de/rezensionen/14000.php

[15]Elinor Ostrom, Was mehr wird, wenn wir teilen. Vom gesellschaftlichen Wert der Gemeingüter, 2011, https://www.socialnet.de/rezensionen/11224.php

[16]Dominique Grisard / Ulle Jäger / Tomke König, Hrsg., Verschieden sein. Nachdenken über Geschlecht und Differenz, 2013, https://www.socialnet.de/rezensionen/14555.php

[17]Anton Pelinka, Hrsg., Vorurteile. Ursprünge, Formen, Bedeutung, 2012, https://www.socialnet.de/rezensionen/12918.php

[18]Lydia Maria Arantes / Elisa Rieger, Hrsg., Ethnographien der Sinne. Wahrnehmungen und Methoden in empirisch-wissenschaftlichen Forschungen, 2014, https://www.socialnet.de/rezensionen/17991.php

[19]Alcira Mariam Alizade, Weibliche Sinnlichkeit, 2014, https://www.socialnet.de/rezensionen/17558.php; siehe auch: Matthias Preis, Die Sinne im Text. Literarische Sinneswahrnehmung im didaktischen Diskurs, 2017, https://www.socialnet.de/rezensionen/23887.php

[20]Kurt Bayertz, Der aufrechte Gang. Eine Geschichte des anthropologischen Denkens, 2013, https://www.socialnet.de/rezensionen/17706.php

[21]Hans Hoch, Hrsg., Sicherheiten und Unsicherheiten, 2014, https://www.socialnet.de/rezensionen/18195.php

[22]Otfried Höffe, Kritik der Freiheit. Das Grundproblem der Moderne, 2015, https://www.socialnet.de/rezensionen/19467.php

[23]vgl. dazu auch: https://www.sozial.de/der-schrei-nach-dem-gedaechtnis-der-menschheit-ein-zwischendenkauf-ruf.html

[24]Till Kössler / Alexander Schwitanski, Hrsg., Frieden lernen. Friedenspädagogik und Erziehung im 20. Jahrhundert, 2014, https://www.socialnet.de/rezensionen/17112.php

[25]Oskar Negt, Der politische Mensch. Demokratie als Lebensform, 2010, https://www.socialnet.de/rezensionen/11988.php

[26]Karl Heinz Bohrer, Jetzt. Geschichte meines Abenteuers mit der Phantasie, 2017, https://www.socialnet.de/rezensionen/22496.php

[27]Hans Lenk, Human zwischen Öko-Ethik und Ökonomik, 2018, https://www.socialnet.de/rezensionen/23859.php; siehe auch: Bettina von Clausewitz, Wer, wenn nicht wir! Weltverbesserer und Querdenker im Gespräch, 2016, https://www.socialnet.de/rezensionen/20951.php

[28]Valentin Beck, Eine Theorie der globalen Verantwortung. Was wir Menschen in extremer Armut schulden, 2016, https://www.socialnet.de/rezensionen/21228.php

[29]Ulrich Beer, Zivilcourage, 2011, https://www.socialnet.de/rezensionen/12604.php

[30]Ortwin Renn / Christina Benighaus / Gisela Wachinger, Hrsg., Bürgerbeteiligung. Konzepte und Lösungswege für die Praxis, 2016, https://www.socialnet.de/rezensionen/20953.php

[31]Richard Sennet, Zusammenarbeit. Was unsere Gesellschaft zusammenhält, 2012, https://www.socialnet.de/rezensionen/14034.php  

[32]Michael Tomasello, Eine Naturgeschichte der menschlichen Moral, 2016, https://www.socialnet.de/rezensionen/21987.php

[33]Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, 2017, https://www.socialnet.de/rezensionen/23620.php

[34]Kurt Edler, Demokratische Resilienz auf den Punkt gebracht, 2017, https://www.socialnet.de/rezensionen/23304.php

[35]Markus Metz / Georg Seeßlen, Freiheit und Kontrolle. Die Geschichte des nicht zu Ende befreiten Sklaven, 2017, https://www.socialnet.de/rezensionen/23966.php

[36]Tali Sharot, Die Meinung der Anderen. Was unser Denken und Handeln bestimmt – und wie wir der kollektiven Dummheit entkommen können, 2017, https://www.socialnet.de/rezensionen/22651.php

[37]Carlo Strenger, Abenteuer Freiheit. Ein Wegweiser für unsichere Zeiten, 2017, https://www.socialnet.de/rezensionen/22486.php