Das Herz an den ASD verloren. Ein cooler Job.

von Kerstin Landua
05.01.2015 | Soziale Arbeit, Kinder-/Jugendhilfe | Nachrichten

- Ein Tagungsbericht -

Mit Kindern und Familien arbeiten, bevor etwas passiert Am 23./24. Oktober 2014 fand die Fachtagung „Königsdisziplin ASD oder … immer bleibt alles an uns hängen ...“ in Berlin statt. 100 Leitungskräfte aus der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe diskutierten Personalfragen im Spannungsfeld von Arbeitsbelastung und Fachkräftemangel. Die Tagung wurde im Tandem von Dr. Heike Förster, Leiterin der Abteilung Jugendhilfeplanung im Jugendamt Leipzig, und Bruno Pfeifle, Leiter des Jugendamtes Stuttgart, Vorsitzender des Beirates der Arbeitsgruppe Fachtagungen Jugendhilfe, moderiert. Zu Beginn sprach Saskia Holtkamp, Studentin, Universität Duisburg-Essen, aus noch „unverbrauchter Perspektive“ über ihre Motivation im ASD zu arbeiten, erste praktische Erfahrungen und Wünsche. Zurzeit absolviert sie als Trainee ein halbes Jahr im Jugendamt Essen, froh darüber, nach dem Studium noch keine volle Verantwortung für ihre Klienten übernehmen zu müssen, sondern (noch) zuschauen und lernen zu dürfen. „Wenn sie nicht überzeugt wären, wären sie nicht da.“ Über „Die qualifizierte und motivierte Fachkraft: Wer ist das, wie bekommt man sie und wie hält man sie im ASD?“ referierte Prof. Dr. Joachim Merchel, Fachbereich Sozialwesen, Fachgruppe Organisation und Management, Fachhochschule Münster. Er begrüßte es sehr, dass sich eine bundesweite Tagung mit Fragen der Personalgewinnung und -bindung befasse. „Früher“ war die Fluktuation im ASD gering. Heute sei das anders: Hoher Verantwortungsdruck, befristete Verträge, Teilzeit, andere Arbeitgeber mit attraktiveren Bedingungen führen vielfach zum Personalmangel in den ASD. Im Mittelpunkt seines Vortrages stand deshalb u.a. auch die Auseinandersetzung mit der Frage, warum der ASD ein aktives Personalmanagement benötigt und für einen zukunftsfähigen ASD eine aktive Personalentwicklung dringend erforderlich ist. Und welche Modalitäten der Personalführung und welche Arbeitsbedingungen die Wahrscheinlichkeit steigern, dass die „qualifizierte und motivierte Fachkraft“ den ASD nicht so schnell wieder verlässt. Angesichts der gestiegenen Komplexität der Aufgaben müsse es eine systematische Beobachtung der Belastungen geben und der Aufrechterhaltung der Arbeitsfähigkeit besonderes Interesse gewidmet werden. Bei der Gewinnung von Fachkräften ist es sehr wichtig, für die Arbeit im ASD mehr Berufsanfänger, Männer und Kollegen mit Migrationshintergrund zu gewinnen. Führungskräfte sollten ein Kompetenzprofil für Fachkräfte im ASD entwickeln und Mitarbeiterentwicklungsgespräche sowie Fortbildung und Supervision anbieten. Darüber hinaus war es Prof. Merchel ein besonderes Anliegen, über das Thema „Berufsidentität“ von Fachkräften zu sprechen, die sich am Schnittpunkt von Fachkraft, Profession und Organisation ergibt und die er durch folgende Aspekte in den Arbeitsbedingungen bedroht sieht:
  • die zunehmende Bürokratisierung einschließlich der Dokumentationsanforderungen,
  • die Zergliederung von Arbeitszusammenhängen,
  • verkürzt verstandenes und praktiziertes „Casemanagement“/Fallmanagement sowie
  • die Reduktion der Arbeit auf den Zentralaspekt „Kinderschutz“.
Dies führe letztlich zu der Frage: Was ist (noch) „sozialarbeiterisch“ an der Tätigkeit im ASD? Eine gute „Chiffre“ dafür sei die Aussage: Wir dürfen nicht mehr beraten (und sind nur noch ausführendes Organ). Berufsidentität sei aber ein zentraler Verankerungspunkt sowohl für die Bindung von Mitarbeiter/innen als auch für die Organisationsgestaltung. Sein Fazit: Mitarbeiter/innen sind der zentrale Qualitätsfaktor für die Arbeit im ASD. Personalmanagement erfordert Aufmerksamkeit und Zeit, macht Mühe, aber sie lohnt sich. „Vier Welten von Jugendamt“ Zu den Fragen: „Welche Identität hat der ASD in meiner Stadt? Welche Auswirkungen haben die Organisationsstruktur und die Arbeitsweise verschiedener ASDs auf die Fachkräfte?“ wurden Fallbeispiele aus den Städten Berlin, Chemnitz, Stuttgart und dem Landkreis Plön im Plenum entlang der folgenden Leitfragen vorgestellt und diskutiert:
  • Wie ist die Organisationsstruktur des ASD - Aufgabenbreite, Personalausstattung,
    Qualitätsmanagement, Besonderheiten?
  • Welches Führungsverständnis liegt zugrunde?
  • Wie ist die Personalgewinnung und -einarbeitung organisiert?
  • Wie ist das Casemanagement organisiert, welches Beratungskonzept gibt es?
  • Welche Verfahrensstandards bzw. Vorgaben für Dokumentation gibt es?
Duftmarken vom Land Anselm Brößkamp, Leiter des Allgemeinen Sozialen Dienstes im Landkreis Plön, benannte zunächst einmal real existierende Schwierigkeiten in der Arbeit des ASD und setzte „Duftmarken“, die er aus seiner Jugendamtswelt mitbrachte. Grundsätzlich stellt er fest, dass wenn etwas passiert, nicht danach gefragt wird, was im System Familie passiert ist, sondern, ob das Jugendamt Kontakt hatte. Und wenn ja, warum hat(te) es nicht … Und dass die Jugendämter sich nicht gegen diese Zuschreibungen von unterstellter Untätigkeit oder Inkompetenz wehren. Seiner Meinung nach werde dringend ein „Bundespressesprecher“ für alle Jugendämter gebraucht, der sich für eine bessere öffentliche Wahrnehmung einsetzt und aus übergeordneter Perspektive Fragen beantworten und Zusammenhänge erklären kann. Eines sei sicher: „Unsere Kollegen wollen Familien beraten, unterstützen und begleiten und nicht so viel dokumentieren müssen.“ Deshalb sei es wichtig, Eckpfeiler und Schlüsselprozesse zu benennen, an denen noch gearbeitet werden muss. Konkret nannte er ein fortschreibungsfähiges Personalkonzept, ein Personalgewinnungskonzept, Supervision und Fortbildung und die Gewährleistung echter Beratungstätigkeit durch die Fachkräfte im ASD, die nicht outgesourct werde. Es muss immer alles an uns hängen bleiben! Dafür sind wir da. Über den ASD des Jugendamts Stuttgart sprach Regina Quapp-Politz, Abteilungsleiterin für Familie und Jugend. Sie erklärte zu Beginn, dass das Jugendamt Stuttgart sich längst von der Organisationsstruktur des klassischen ASD verabschiedet hat. Stattdessen wurden Beratungszentren entwickelt, in denen heute multiprofessionelle Teams arbeiten, die auf eine zehnjährige erfolgreiche Praxis zurückblicken können. Die Entwicklungszeit habe 7-8 Jahre betragen, zehn Beratungszentren sind entstanden, die systemisch und ganzheitlich arbeiten. Es gebe keinen spezialisierten Dienst, z.B. nur für Kinderschutz. Menschen in Krisen brauchen eine klare Haltung der Fachkräfte. Multiprofessionelle Teams seien hier gut geeignet und zeichnen sich durch hohe Kompetenz und Zuverlässigkeit aus. Die Personalgewinnung erfolge trotz relativ hoher Bewerberzahlen auf offene Stellen auch aus der eigenen Nachwuchsqualifizierung heraus. Die Einarbeitung neuer Mitarbeiter/innen sei zugleich Leitungs- und Teamaufgabe. Nach zwei Jahren gebe es dann für jede/n Mitarbeiter/in das Angebot, sich zum systemischen Berater weiter zu bilden. Die Kosten für diese Weiterbildung übernimmt das Jugendamt. Wichtig sei es, ein Arbeitsklima von Vertrauen und Zutrauen zu schaffen und Möglichkeiten zur Identifizierung mit der eigenen Arbeit zu bieten, damit ein Zugehörigkeitsgefühl entsteht und die Überzeugung als Fachkraft: Es muss immer alles an uns hängen bleiben! Dafür sind wir da. Wir nehmen den Auftrag an. Das Herz an den ASD verloren … hat Claudia Hopperdietzel, Leiterin ASD im Jugendamt Chemnitz. Sie berichtete, dass die Erstberatung von Familien, die Hilfe und Unterstützung brauchen, immer im ASD erfolgt, und diese nach drei Terminen in Beratungsstellen weiter vermittelt werden. Dort werden dann weitere Fachkolleg/innen, z.B. Psychologen, in den Beratungsprozess einbezogen und an sie die Frage gestellt: „Seht ihr etwas, was wir noch nicht gesehen haben?“. Wichtig sei in jedem Falle, sich selbst zurück zu nehmen und zu fragen: Welche Ressourcen haben die Bürger/innen? Transparenz in der Entscheidung und im Handeln sei ein wichtiges Kriterium im Umgang mit Familien. Unabdingbar sei hierfür ein abgestimmtes Qualitätsmanagement, das verbindlich für alle Fachkräfte kommuniziert sein muss. Mitarbeiterführung erfolge unter besonderer Anerkennung und Beachtung des „Einzelkämpfertums“ im ASD. Dokumentation sei ein wesentlicher Bestandteil der Arbeit im ASD. Wichtig sei dabei, die Gesprächsinhalte der Beratungen differenziert festzuhalten und in die Akte z.B. nicht nur die Information „Gespräch mit der Mutter“ aufzunehmen. Insgesamt sei für sie die Arbeit im ASD ein cooler Job. Eine von 12 Berliner Jugendamts-Welten Uta von Pirani, Leiterin des Jugendamtes Berlin-Charlottenburg, erklärte zu Beginn ihres Vortrags, dass in ihrem Jugendamtsbezirk der ASD Regionaler Sozialdienst (RSD) heißt und Willkommensbesuche nicht das Jugendamt, sondern der Jugendgesundheitsdienst durchführt. Früher einmal waren beide Dienste im Jugendamt vereint und haben gut zusammengearbeitet. Heute sei dies schwieriger und daher wünschenswert, diese wieder zusammenzuführen. Die Arbeitsbelastung der Mitarbeiter/innen im RSD sei enorm und auch sie frage sich manchmal, wieviel Sozialarbeiter/innen aushalten, bevor sie Kinder in Obhut nehmen. Das auch in ihrem Jugendamt eingeführte Casemanagement habe ihrer Meinung nach eine deprofessionalisierende Wirkung. Der Rückzug des ASD/RSD aus der eigentlichen Leistungserbringung verändere die professionelle Identität der Fachkräfte, da diese keine sozialpädagogische Fallsteuerung mehr haben. Am wichtigsten ist aber für die sozialpädagogischen Fachkräfte der enge Kontakt zu den Kunden: das Reden, Sehen, Zuhören und Beraten. Und vor allem, sich dafür Zeit zu nehmen, authentisch zu sein und offene Sinne zu haben. Hier den Mitarbeiter/innen freien Gestaltungsraum zu geben, gehöre zum Führungsverständnis von Leitungskräften und auch zu ihrem eigenen. Allerdings habe die Führungskräfteentwicklung durch den Abbau von Funktionsstellen in den letzten Jahren leider erheblichen Schaden genommen. Und auch eine Nachbesetzung offener Stellen könne schon mal bis zu 24 Monaten dauern. Wie motiviert man in Frage kommende, geeignete Menschen dann, nicht aufzugeben und sich etwas anderes zu suchen? In der Regel gebe es mit Blick auf die knappen Personalressourcen auch keine Einarbeitungszeit für neue Mitarbeiter/innen. Vorhanden seien natürlich Verfahrensstandards, die in vielen Einzelvereinbarungen festgelegt sind. Jeder Mitarbeiter/in habe einen Verfahrensordner, in dem u.a. die Zusammenarbeit mit Polizei, Schule, Psychiatrie etc. geregelt ist. Diese Richtlinien werden auf die aktuelle Fachpraxis herunter gebrochen und sind sehr hilfreich als Orientierungsrahmen. Es sei immer schwierig, wenn Politik über die Hilfen bzw. die damit verbundenen personellen und finanziellen Ressourcen bestimmt. Was ist kommunale Praxis? Personalentwicklung im ASD Am zweiten Tag wurden verschiedene Praxisbeispiele zur Personalentwicklung im ASD in Arbeitsgruppen diskutiert. Dabei ging es u.a. um:
  • Personalgewinnung und -einarbeitung,
  • Führungskräfte-Nachwuchsförderung,
  • Entwicklung und Umsetzung eines Kompetenzprofils für Fachkräfte im ASD,
  • Fort- und Weiterbildung im Jugendamt,
  • Qualifizierung Studierender für die Praxis und
  • Beobachtung von Arbeitsbelastungen und Maßnahmen zur Gesundheitsförderung.
In letzterer AG wurde unter der Leitung von Dr. Hildegard Pamme, Fachberaterin im LWL-Landesjugendamt Westfalen, Münster, u.a. darüber diskutiert, dass Arbeitsbelastung als Organisationsphänomen sehr spät sichtbar wird und eigentlich erst dann, wenn es schon zu spät ist. Dann gibt es einen großen Druck für Notfallmaßnahmen. Hier müsse vorbeugend gehandelt werden. „Belastung“ sei immer ein sehr subjektives Gefühl. Es dürfe nicht sein, dass Kolleg/innen alltäglich das Gefühl haben, unter Druck und Angst zu handeln und dabei permanent unter „Beobachtung“ der Öffentlichkeit und der Politik stehen. Keine festen Vorgaben, zum Beispiel über zumutbare Fallzahlen, zu haben, verstärke noch das Empfinden von Überlastung. Was man/frau dagegen tun kann, wurde gemeinsam erörtert. Ins Denken kommen, ob unser ASD heute noch so richtig ist … Als Gesprächspartner/innen der abschließenden Podiumsdiskussion waren die Referentinnen und Referenten des ersten Tages aufgefordert, Handlungsperspektiven aus der Tagung zu benennen. Ein, zwei Stühle in der Runde waren frei für jeden, der sich mit seinen Fragen, Kommentaren und Anmerkungen beteiligen wollte. Hier einige unkommentierte Blitzlichter aus der Diskussion:
  •  Jede Profession sollte ihre eigenen Professionsregeln haben und sich nicht fremd bestimmen lassen. Gesetze sollten nicht so viele methodische Regeln enthalten (Hausbesuch) und „Variationsbreiten“ zulassen.
  • Wir sind so notwendig wie Wasser und Strom (kommunale Daseinsvorsorge).
  • Kinder- und jugendärztlicher Dienst integriert ins Jugendamt – Ein Traum?!
  • Personalmanagement ist (eine lange vernachlässigte) Führungsaufgabe. Wie kriegt man das strukturiert in den Alltag verankert?
  • Personalentwicklung im Sinne von „Generationswechsel“ gestalten und Nachwuchs-Führungskräfte entwickeln.
  • Nein zur Fallzahlbegrenzung, da subjektive Setzung. Offene Frage: Wann ist ein Fall ein Fall? Mit welchen „Nebenwirkungen“?
  • Ja zur Fallzahlbegrenzung, da Stärkung der eigenen strategischen Position durch Festlegung einer Fallzahl.
  • Berufsidentität ist neben Professionalität eine innere Haltung zum Beruf.
  • Berufsanfänger/innen können in prekäre Arbeitsbedingungen „geraten“ wie ihre Klientel. Wie sollen diese dann Berufsidentität entwickeln?
  • Vielfalt der ASDs – gucken, was die anderen machen und davon lernen.
Die auf dieser Tagung ausgetauschten Konzepte und Ideen sind ausführlich in der Tagungsdokumentation nachzulesen, die 2015 erscheinen wird. Vielleicht haben Sie aber noch ganz eigene, andere Ideen. Wir würden uns freuen, davon zu hören. Autorin
Kerstin Landua
Leiterin der Arbeitsgruppe Fachtagungen Jugendhilfe
im Deutschen Institut für Urbanistik
Kontakt: landua@difu.de