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Corona und Soziale Arbeit: Fast jede*r Dritte denkt an Stellenwechsel

Eine Online-Befragung unter mehr als 3.000 Beschäftigten in der Sozialen Arbeit zeigt: Ihre Arbeitssituation hat sich im zweiten Lockdown verschärft – durch steigende Nachfrage, zunehmende Arbeitsverdichtung und veränderte Beziehungen zu den Adressat*innen. „Die Folgen werden wir auch als Gesellschaft insgesamt spüren“, sagt Studienleiter Nikolaus Meyer, Professor für Profession und Professionalisierung Sozialer Arbeit an der Hochschule Fulda.

Im Forschungsprojekt „Soziale Arbeit macht Gesellschaft“ befragte er während des zweiten Lockdowns in Kooperation mit der Gewerkschaft ver.di Beschäftigte aus unterschiedlichen Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit. 3.064 Personen beteiligten sich zwischen dem 9. November und 6. Dezember 2020 an der Online-Erhebung. Da bis heute kein Überblick über die genaue Zahl der Beschäftigten in der Sozialen Arbeit vorhanden ist, kann die Studie zwar nicht als repräsentativ gelten. Doch die Verteilung der Teilnehmenden entspricht in etwa den bisher bekannten wissenschaftlichen Annahmen zur Personalverteilung über die verschiedenen Handlungsfelder. Daher kann die Befragung Tendenzen zur aktuellen Situation in der Sozialen Arbeit und erste Hinweise auf mögliche langfristige Änderungen in diesem Arbeitsfeld liefern.

„Die Berufsgruppe der Sozialen Arbeit ist diejenige, die für die Bewältigung der Krise und deren soziale Folgen eine Schlüsselrolle einnimmt. Doch sie ist selbst stark von der Krise betroffen“, betont Professor Meyer. „Die Arbeitsbedingungen in der Sozialen Arbeit waren schon vor der Pandemie nicht optimal. Die Corona-Pandemie wirkt nun wie ein Brennglas.“ 

Nachdenken über Stellenwechsel 

Die Online-Befragung zeigt: Einrichtungen sind im zweiten Lockdown sowohl häufiger geöffnet als auch von Beschränkungen der Angebote betroffen. Beschäftigte müssen daher mehr Angebote möglich machen oder mehr Adressat*innen parallel begleiten (24,8 Prozent), auch weil Kolleg*innen als Angehörige einer Risikogruppe ausfallen (18,3 Prozent) oder selbst erkrankt sind (47,2 Prozent). In der Folge verdichtet sich die eigene Arbeit und verändert sich nahezu vollständig (88,6 Prozent). 62,1 Prozent der Beschäftigten fühlen sich belastet oder sogar extrem belastet. Aus Sicht jeder zweiten befragten Person verschlechtern sich die Arbeitsbedingungen. 29,9 Prozent denken über einen Stellenwechsel nach, 16,2 Prozent sogar über einen Berufswechsel. 

Tendenzen zur Deprofessionalisierung 

Aus Sicht jeder zweiten befragten Person verändern sich auch die fachlichen Strukturen wie etwa die Zusammenarbeit zwischen den Fachkräften negativ. Der veränderte Austausch mit Vorgesetzten, Kolleg*innen sowie Kooperationspartner*innen wirkt sich negativ auf die eigenwahrgenommene Arbeitsqualität aus. Mit den sich verschlechternden Arbeitsbedingungen verbunden zeigen sich darüber hinaus auch grundsätzlichere Mechanismen der Deprofessionalisierung. So werden etwa Hilfen bei 13,3 Prozent der Befragten früher als üblich beendet. 

Mehr Probleme der Adressat*innen, weniger professionelle Interventionen 

Die Beschäftigten geben an, dass das Leben der Adressat*innen in der Corona-Pandemie herausfordernder und prekärer geworden ist. Gleichzeitig sagen Adressat*innen häufiger geplante Termine ab, wodurch sich die Möglichkeiten zur professionellen Intervention verringern. Die Kontaktzahl zu Adressat*innen über alle Handlungsfelder hinweg nimmt bei mehr als jeder zweiten befragten Person ab. „Eine gefährliche Entwicklung, und das nehmen die Befragten auch so wahr“, sagt Professor Meyer. Hinzu kommt: Die Schutzmaßnahmen verschlechtern die Interaktion. Fast drei Viertel der Befragten bewerten diese für das Arbeitsbündnis mit den Adressat*innen negativ. In den offenen Antworten geben sie an, dass die Adressat*innen durch die Schutzmaßnahmen verunsichert oder überhaupt nicht mehr erreicht würden. 

Zerrieben zwischen Anspruch und Wirklichkeit

„Die Beschäftigten werden in der Pandemie zerrieben zwischen Vorgaben von außen, die weitgehend nicht den beruflichen Standards entsprechen und den hohen professionellen Ansprüchen an die Qualität der eigenen Arbeit. Diese Diskrepanz gleichen sie nur durch hohen persönlichen Einsatz aus, um die Adressat*innen individuell angemessen begleiten zu können“, analysiert Professor Meyer die Ergebnisse der Umfrage. Da könne es nicht verwundern, dass die Befragten zu Beginn des zweiten Lockdowns nur eine geringe Anerkennung der eigenen Arbeit durch die Gesellschaft wahrgenommen hätten.

„Wir haben in der Studie zwar nicht untersucht, wie sich die Situation der über eine Million Beschäftigten in der Sozialen Arbeit auf die mindestens fünf Millionen Adressat*innen auswirkt. Aber: Die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten in der Sozialen Arbeit haben letzten Endes auch Einfluss auf die Adressat*innen“, betont Professor Meyer und fordert: „Wir müssen anerkennen, dass Soziale Arbeit und die in ihr Beschäftigten für unsere Gesellschaft extrem wichtig sind. Diese Berufsgruppe organisiert Prävention, Erziehung und Bildung ebenso wie Hilfe und Unterstützung in den verschiedensten problembelasteten Lebenslagen. Das ist für die Aufarbeitung der durch die Corona-Pandemie entstehenden sozialen Probleme ungeheuer wichtig.“


Quelle: Pressemitteilung der Hochschule Fulda vom 16.3.2021